Schulprobleme bei Jungen: Anzeichen für ein Umdenken
Dieser Artikel aus der "Rheinischen Post" belegt, dass nicht nur bei häuslicher Gewalt allmählich ein Umdenken im Gange ist. Auch in punkto Schulprobleme von Jungen mehren sich offensichtlich die Stimmen, die für gezielte Jungenförderung eintreten.
Erfreulich finde ich an dem Artikel, dass er wohltuend sachlich formuliert ist und auf wohlfeile Anti-Jungen-Häme ("das schwächere Geschlecht") verzichtet.
Dumme Jungs?
Sie bleiben häufiger sitzen als Mädchen, schaffen seltener das Abitur und sind besonders an Sonderschulen stark vertreten männliche Schüler sind die neuen Sorgenkinder. Experten schlagen Alarm und fordern Förderprogramme für Jungen.
DÜSSELDORF. Unterricht in der ersten Klasse einer Grundschule im Duisburger Süden: Das Bilderbuch Tobi ungeheuerlich steht auf dem Stundenplan. Die 25 Mädchen und Jungen haben sich bereits eingehend damit beschäftigt und wissen, dass das kleine, grüne Ungeheuer am Frühstückstisch wieder alles falsch gemacht hat. Jetzt lasst mal Tobi in die Schule kommen, sagt Lehrerin Doris Bergs. Die Mädchen springen auf, organisieren Gruppen, setzen sich an einen Tisch und fangen an, ihre Ideen umzusetzen. Und die Jungen? Drehen eine Runde durchs Klassenzimmer, quatschen ein bisschen und sitzen schließlich etwas hilflos vor dem leeren Blatt Papier.
Meist muss ich ihnen einen extra Impuls geben, damit sie loslegen, sagt Bergs. Solche Szenen erlebt die 51-Jährige häufig: Die Mädchen sind den Jungs weit voraus, sind motivierter, kreativer und auch belastbarer. Bei den Jungen hingegen steigt die Unsicherheit, die sich dann im Stören des Unterrichts oder anderen Auffälligkeiten ein Ventil sucht. Mädchenförderung? Brauchen unsere Powerfrauen nicht, so die Lehrerin, Aber wir müssen einen Weg finden, die Jungen wieder zu stärken.
Nach 30 Jahren Emanzipation, nach etlichen - erfolgreichen - Programmen für Mädchen scheinen nun die Jungen die neuen Sorgenkinder der Gesellschaft zu werden. Aktuelle Zahlen belegen das: Der Jungenanteil an Sonderschulen lag im vergangenen Schuljahr in Nordrhein-Westfalen bei 64,5 Prozent, an Hauptschulen 57,3 Prozent. Dagegen betrug die Jungenquote an Gymnasien nur noch 45,9 Prozent. Tendenz fallend. Auch bei den Sitzenbleibern sind Jungen mit 58,7 Prozent in der Mehrheit und bilden zwei Drittel der Schulabgänger ohne Abschluss. Anders als noch vor 20 Jahren machen inzwischen mehr Mädchen als Jungen Abitur. Bei der Pisa-Studie zeigten die Jungen im Vergleich zu Mädchen gravierende Mängel bei der Lesekompetenz, also beim kritischen Reflektieren und Bewerten von Texten.
Sind Jungen dümmer als Mädchen? Die empirisch nachgewiesenen Intelligenzquotienten unterscheiden sich kaum, auch nicht die kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitsprofile. Man hat in vergangenen Jahrzehnten die Mädchen stark gefördert und dabei die Jungen aus dem Blick verloren, sagt Reinhold Schmitz-Schretzmair (54), Schulpsychologe in Bergisch Gladbach. Dabei sind sie nicht nur die Wilden und Aggressiven, sondern auch die Bedürftigen.
Zwei Drittel aller Kinder, die zu ihm in die Beratung kommen, sind männlich. Sie haben Probleme mit dem Lernen oder Verhaltensauffälligkeiten. Bei Hyperaktivität liegen die Jungs ganz klar vorne, so der Psychologe. Die Wurzeln dafür würden oft schon im Kindergarten gelegt: Jungen spielen Lego, Mädchen basteln und malen viel und sichern sich dadurch einen enormen Vorsprung bei den feinmotorischen Fähigkeiten. Hinzu komme, dass immer häufiger männliche Bezugspersonen fehlten: Viele Jungen werden alleine von Müttern erzogen, im Kindergarten von Erzieherinnen betreut und in der Grundschule zu 85 Prozent von Frauen unterrichtet. Wenn sie Glück haben, treffen sie in der 5. Klasse auf die erste männliche Bezugsperson.
Das bestätigt auch Heinz Kampermann, Leiter der Thomas-Edison-Realschule in Düsseldorf: Der Lehrer wird zu einer Art Vaterersatz, die Jungen kämpfen um dessen Aufmerksamkeit. Und das nicht selten mit Disziplinlosigkeit, schlechten Leistungen oder häufigem Fehlen. Das sind Botschaften, die sie uns senden, sagt Kampermann. Das muss auch den Lehrern erst einmal bewusst werden. Wir gehen meistens davon aus, dass die Jungs das schon schaffen.
Der 51-Jährige beobachtet jedoch, dass immer mehr Jungen Versagensängste plagen, über die sie ungern reden und die schließlich tatsächlich zu miserablen Leistungen führen. Sie bekommen mit, dass man immer funktionieren muss - sei es bei der Formel 1 oder bei der Fußballnationalmannschaft, sagt Kampermann.
Nur langsam setzt ein Umdenken ein, wird Jungenförderung wird zum Thema an Schulen. Man darf nicht nur auf einem Auge sehen, sagt Peter Silbernagel (51), Vorsitzender des Philologenverbands NRW. Für eine begrenzte Zeit wäre auch getrennter Unterricht in Deutsch oder Fremdsprachen, in denen Jungen schwächer sind, denkbar. Ein Modell, das sich bereits bei Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern bewährt hat.
Vielleicht würden dann auch Jungen öfter zum Buch greifen. Denn Bildung ist bei den Jugendlichen heute kein Zeichen von Männlichkeit, sagt Frank Bonczek (31), der in Münster in der Jungenförderung arbeitet. Viele suchen in den Medien ein Vorbild. Das attraktivste ist der Action-Held. Und der liest nicht.
Denisa Richters in: Rheinische Post, 17. September 2003
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