Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Betthupferl: Frederick Forsyth 1997 in einem Brief an Kohl

Zeitgenosse, Thursday, 19.05.2011, 01:17 (vor 4697 Tagen)

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Lieber Herr Kanzler,

vermutlich werden Sie einen Blick auf unter diesem Brief werfen und zu denken sein: Ach ja, wieder ein Engländer, der mir schreibt; und wie immer deutschfeindlich. Sie irren sich, Herr Kanzler, nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich schreibe Ihnen als einer, der die Deutschen in den vergangenen 40 Jahren gekannt, gemocht, respektiert und bewundert hat. Ich möchte Ihnen erklären, wie es dazu gekommen ist. Gerade für Sie, der das Ende des letzten Krieges als Jugendlicher erlebte, ist es vielleicht interessant.

Eines Tages, im April 1945, wurde mein Vater ins Londoner Kriegsministerium zitiert. Als er abends nach Hause kam, machte er ein ungeheuer finsteres Gesicht. Er stand, immer noch in seiner Majorsuniform, vor dem Wohnzimmerfenster und starrte auf die grünen Wiesen Englands. So blieb er 24 Stunden lang, reglos und schweigend. Meine besorgte Mutter versuchte, ihn anzusprechen. Umsonst. Ich blickte als kleiner, sechsjähriger Junge hinter ihren Röcken hervor.

Später erfuhr ich, daß er in London bei einer Sondereinsatzbesprechung das erste Filmmaterial aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen gesehen hatte; ungekürzt, unentschärft. Fünf Jahre lang hatte er die Uniform des Königs getragen, wie vor ihm sein Vater im Ersten Weltkrieg, aber nie hatte er damit gerechnet, Filme wie diese zu sehen. Endlich brach er sein Schweigen. Er hätte sagen können: Ich will, solange ich lebe, nie wieder einen Deutschen sehen, geschweige denn mit einem sprechen. Er tat es nicht. Er sagte: "Dieser Wahnsinn muß ein Ende haben." Er war kein großer Philosoph, einfach ein englischer Ladenbesitzer. Sein persönlicher Beitrag dazu, diesem Wahnsinn der über Generationen dauernden deutsch-britischen Feindschaft ein Ende zu machen, bestand darin, seinen einzigen Sohn so bald wie möglich nach Deutschland zu schicken, um dort bei einer deutschen Familie zu leben; um Deutsch zu lernen, um zu beobachten, zuzuhören und zu begreifen.

So kam es, daß ich mich 1952 im Alter von 13 Jahren auf einem Bahnsteig in Göttingen wiederfand, wo ich die Sommerferien als Gast bei einer deutschen Familie verbringen sollte. So geschah es drei Jahre hintereinander.

Mit 16 hätte ich als deutscher Junge durchgehen können. Selbst heute noch kann ich "Die Lorelei" und "Die Wacht am Rhein" von Anfang bis Ende singen, und ich bin jederzeit bereit, Saumagen zu essen (obwohl ich Roastbeef vorziehe!). Seit jenen Tagen habe ich Ihr Land von der Reeperbahn bis nach Bad Tölz durchstreift, von den Koblenzer Weinstuben bis zu den Ufern der Oder. Reichen Ihnen diese Referenzen? Ich hoffe es sehr.

Doch heute muß ich, bei allem Respekt für Ihre Person, sagen, daß Deutschland erneut auf einem neuen Wahnsinnsweg voranmarschiert. Ich spreche von dem fanatischen Ziel, uns alle, Europäer und Deutsche, zu einer überstürzten, verfrühten, unvorbereiteten und - wenn sie, wie es geschehen wird, scheitern sollte - verheerenden Währungs- und Wirtschaftsunion zu drängen. Von allen Völkern sollten gerade sie, die Deutschen, die die Vereinigung seit 1990 aus erster Hand erlebt haben, die Gefahren kennen. Erinnern Sie sich an 1990, Herr Kohl? Zunächst der grenzenlose Jubel - ich weiß es, denn ich war dabei - und dann die Erkenntnis der ungeheuren Probleme, die sich aus dem Zusammenschluß zweier so verschiedener Wirtschaftssysteme ergeben. Erinnern Sie sich an die Feindseligkeit von Margaret Thatcher und an die Drohungen Mitterrands? Im nachhinein hatten die beiden Unrecht, und Sie hatten keine andere Wahl, als eine möglichst rasche Vereinigung durchzusetzen. Aber Sie alle haben die Probleme unterschätzt. Ihre Landsleute wissen heute, daß das Versprechen "keiner weiteren Steuern" schlicht und einfach nicht der Wahrheit entsprach, ihr nicht entsprechen konnte. Sie wissen, daß eintausend Milliarden D-Mark aus ihren Taschen geflossen sind, um die alte DDR auf das wirtschaftliche Niveau der Bundesrepublik zu heben. Sie wissen, daß nur die Hälfte des Geldes dafür verwendet wurde, eine moderne Industriewirtschaft östlich der Elbe auszubauen, während die andere Hälfte in den Taschen Raffgieriger gelandet ist. Sie wissen, daß die versprochenen "blühenden Landschaften" nicht einmal in Anfängen zu sehen sind. Sie wissen, daß weitere fünf Jahre Geduld und ein weiteres Opfer von eintausend Milliarden Mark sie erwarten, bevor sie auch nur die ersten grünen Triebe erblicken werden. Wieviel können sie noch ertragen?

Sie, die Deutschen, sind in einer außergewöhnlichen Lage, denn sie haben schon einen Vorgeschmack dessen, was Sie, Herr Kanzler, ganz Westeuropa aufzuzwingen versuchen, im Streben nach der Umsetzung irgendeines Generalplans, damit Sie in die Geschichte eingehen als eine noch größere Figur als Bismarck.

Ihr Land ächzt bereits unter der Last dieses hochtrabenden Ehrgeizes. Die erdrückenden Bestimmungen der in Brüssel ersonnenen Sozialcharta - eine rein sozialistische Maßnahme (ich war der Meinung, Sie vertreten wie ich einen konservativen Standpunkt) - hat zum Konkurs einer Reihe deutscher Unternehmen beigetragen. Andere haben ihre Arbeiter fallengelassen wie Bäume das Laub im Herbst, nur um überleben zu können. Tausende mehr wurden geschlossen und sind ausgewandert, viele hierher nach England.

Ihre Minister knurren uns an, weil wir, da wir nicht in der Sozialcharta sind, einen flexiblen Arbeitsmarkt haben, wenige Beschränkungen, entgegenkommende Gewerkschaften und vernünftige Arbeitsweisen. Dadurch ist die Zahl der Arbeitslosen bei uns gerade wieder gefallen, im 40. Monat in Folge, unsere Auftragsbücher sind voll, unsere Erzeugnisse bleiben global wettbewerbsfähig. Dafür werden wir von den feisten Kommissaren in Brüssel an gepöbelt, aber sie sind es nicht, die ihre überbezahlten Stellen verlieren, wenn etwas schiefläuft. Es sind Ihre Landsleute, die zusehen müssen, wie ihre Fabriken schließen, und die das Arbeitsamt aufsuchen müssen, wo doch eigentlich eine gute Arbeitsstelle am Montagmorgen auf sie warten sollte. Vor einigen Monaten wurde ich auf einem deutsch-englischen Seminar kritisiert, weil ich in England einen Artikel geschrieben hatte, in dem ich Ihre in Louvain, Belgien, gehaltene Rede angefochten hatte. Ich fechte sie immer noch an, denn ich glaube, daß Ihre Argumente einen Widerspruch bergen. Eigenartigerweise hat die FAZ gerade zugegeben, daß dies tatsächlich zutrifft. In Louvain gaben Sie in etwa folgendes zu verstehen, und Sie haben es seither wiederholt: Uns Deutschen ist nicht zu trauen. Also bitte, meine europäischen Freunde, fesselt uns; bindet uns wirtschaftlich an euch, damit wir uns nie wieder losreißen und einen europäischen Krieg anzetteln können.

Nun, beim ersten Hinsehen sieht das nach Selbstverleugnung aus. Fast schon heiligenhaft sogar. Aber gleichzeitig übermittelt uns Deutschland an den Schalthebeln der Macht eine ganz andere Botschaft. Sie lautet: Wir Deutschen haben bewiesen, daß wir in Währungs- und Wirtschaftsangelegenheiten die allerstrengsten Zuchtmeister sind. Wenn wir alle die gleiche Währung und eine vereinte Wirtschaft haben, müssen wir daher die Verantwortung haben. Europas Zentralbank und das Finanzministerium werden ihren Sitz in Frankfurt haben. Wir haben nichts dagegen, wenn Ihr Ausländer im Aufsichtsrat sitzt, aber der Vorstand muß mit Deutschen besetzt werden.

Es gibt in der Wirtschaft ein altes Sprichwort, das auch uns bekannt ist: Wer die Währung kontrolliert, kontrolliert die Wirtschaft; und wer die Wirtschaft kontrolliert, kontrolliert das Land. Die Botschaft hinter den Kulissen lautet also, daß wir uns nach der Europäischen Wirtschaftsunion alle deutscher Kontrolle beugen müssen. Das klingt ganz und gar nicht nach Selbstverleugnung. Das klingt eher nach Hegemonie, nach Vorherrschaft.

Dies ist die Angst, die darin zum Ausdruck kommt, was Sie als britische Deutschfeindlichkeit interpretieren. In Frankreich, Belgien, den Niederlanden wird immer noch Selbstzensur betrieben. Aber bei uns findet die Debatte offen und sehr lebhaft statt, wie es die britische Art ist, und viele Dinge kommen zum Vorschein, die uns ganz und gar nicht gefallen wollen. Dann kommt der zweite Widerspruch.

Vor fünf Jahren in Maastricht waren Sie es, Herr Kanzler, der darauf bestanden hat, daß die Konvergenzkriterien streng einzuhalten seien: annähernde Parität der Inflation, der Verschuldung und der Anleihen aller Staaten, die der neuen, großen Währungsunion beitreten dürften. Wunderbar, wir haben zugestimmt. Doch nun hat sich die Lage geändert. Unmöglich, daß irgendein Land außer Luxemburg (und vielleicht unseres!) alle Kriterien erfüllen kann. Einige Länder können bloß ein einziges erfüllen. Belgiens Verschuldung müßte unter 60 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes sinken. Um Gottes willen, sie liegt bei 130 Prozent. Sie haben sie lediglich etwas gesenkt, indem sie ihre Goldreserven verkauft haben! Fragen Sie Ihre Bauern - man darf niemals das Saatkorn verkaufen.

Frankreich, Spanien, Italien - alle tun es: Sie frisieren ihre Bücher auf eine Weise, die bei Privatleuten sofort das Betrugsdezernat auf den Plan rufen würde. Sie wissen das alles, Herr Kanzler, auch wenn Ihr Volk es nicht weiß. Selbst für Deutschland ist es so gut wie unmöglich, die Konvergenzkriterien zeitgerecht zu erfüllen. Trotzdem bestehen Sie auf dem erhofften Stichtag des 1. Januar 1999. Offen gesagt, das ist verrückt. Es scheint, als könnten die Kriterien aus politischen Gründen quasi ignoriert werden. Das ist jedenfalls die Botschaft, die deutlich aus Brüssel zu vernehmen ist.

Doch Sie haben den Deutschen auch versprochen, daß der Euro eine so harte Währung sein muß und wird wie die D-Mark. Wenn Sie sich auf den Euro einlassen, während Frankreich, Spanien, Italien und die Benelux-Staaten ihre tatsächliche Wirtschaftslage vertuschen, wird der Euro wie ein Stück Butter sein. Die Haie der internationalen Geldmärkte werden das sofort bemerken. Und das Ergebnis? Erst großer Jubel, das Ereignis wird überall mit Sekt begossen (Wissen Sie noch, Berlin 1990?), und dann die Katastrophe. Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit und eine 30prozentige Abwertung. Und wer werden die Hauptleidtragenden sein?

Nicht die Belgier, die ihre gewaltigen Schulden an Sie weiterreichen. Nicht die Franzosen, Spanier und Italiener, die meinen, die Deutschen könnten sich nun um ihre leeren Pensionskassen kümmern. (Denken Sie daran: Wenn man Wirtschaftssysteme zusammenschließt, erbt man nicht nur die Vermögen von beiden, sondern auch die Defizite von beiden.) Nicht die ungewählten Parasiten in Brüssel, die gerne bereit sind, Ihnen zu sagen, Helmut Kohl sei irgendein europäischer Gott.

Nein, es sind die Deutschen, die bezahlen werden, wieder einmal. Sie werden ihr schwerverdientes Geld nach Osten und Westen tragen, bis ihnen nichts mehr übrigbleibt, womit sie zahlen könnten, außer ihrer Arbeitslosenunterstützung.

Daher sage ich Ihnen dies als Brite, der Deutschland weder verachtet noch fürchtet. Die Deutschen prosperierten schon einmal, in der Zeit des Wirtschaftswunders. Damals haben sie getan, was sie am besten können, auf deutsche Art und Weise. Die besten Ingenieure, die besten Arbeiter, die besten Industriellen. Doch seit Sie damit begonnen haben, nach der Pfeife der Brüsseler Kommission zu tanzen, sind die Dinge für Ihr Volk schiefgelaufen.

Kehren Sie wieder auf den alten Weg zurück, Herr Kanzler. Die Deutschen sollten wieder Deutsche sein, nicht Zahlmeister der Schulden halb Europas für Ihr Streben nach einem bismarckschen Traum. Wir Briten sind hier, wir warten. Wir wollen Ihre Freunde, Partner, Mitarbeiter sein; aber nicht Ihre wirtschaftlichen Untertanen. Ist das so schlimm? Ist das deutschfeindlich?

Die Deutschen sollen ihre Deutschmark behalten - sie haben verdammt hart dafür gearbeitet. Soll doch der Trottel Santer die Wände mit seinen Brüsseler Geldscheinen tapezieren. Und wir behalten unser britisches Pfund - sie ist gar keine so üble, alte Dame, und wir haben sie seit fast eintausend Jahren. Aber bitte versuchen Sie nicht, in 20 Monaten Ihrem Volk einen zurechtgebogenen Euro aufzuerlegen. Wie mein Vater einmal gesagt hat: Dieser Wahnsinn muß ein Ende haben.

Frederick Forsyth


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