Wenn der Mensch zur MenschIn wird - oder:

Wieviel »Gleichberechtigung« verträgt das Land?

How much »equality« the country can stand?

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Liste Femanzen Dr. Gisela Notz (Liste Femanzen)

Oberkellner @, Friday, 25.04.2014, 09:50 (vor 3676 Tagen)
bearbeitet von Oberkellner, Friday, 25.04.2014, 09:58

F180 Dr. Gisela Notz geboren 1942 in Schweinfurt am Main (Bayern) – Studium der Industriesoziologie, Arbeitspsychologie und Erwachsenenbildung in Berlin – Familie, Struktur- und Regionalpolitik sowie Frauenforschung gehören zu ihren Forschungsschwerpunkten - seit 1979 wissenschaftliche Referentin der Friedrich-Ebert-Stiftung – von 1983 bis 1993 Redakteurin der Zeitschrift „beiträge zur feministischen Theorie und Praxis“ – Mitglied im Stiftungsrat „Bewegungsstiftung“ - seit 1978 Lehrbeauftragte an den TU Berlin, Hannover, Marburg, Essen, FH Jena – key-professur an der Internationalen Frauenuniversität Hannover – von 2004 bis 2010 Bundesvorsitzende von „Pro Familia“ – wohnt im Frauenwohnprojekt Beginenhof in Berlin - notzg@fes.de – gisela.notz@fes.de - Anschrift: Gisela Notz, Erkelenzdamm 51, 10999 Berlin - http://www2.bdwi.de/uploads/personen_notz.jpg

"Jede Art Zwang ist gegen die Würde der Frau"
Gisela Notz ist Vorsitzende von Pro Familia, einer nicht konfessionellen und nicht staatlichen Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung. Mit WELT ONLINE spricht sie über Abtreibung, die Erfolge der Frauenbewegung und welche Rolle die 68er dabei gespielt haben.
WELT ONLINE: „Weg mit dem Paragrafen 218“ forderten die Frauen der 68er-Generation. Doch der ist immer noch in Kraft. Sind sie gescheitert?
Gisela Notz: Der Kampf gegen Paragraf 218 ist ja viel älter als die 68er-Generation. Schon Helene Stöcker, Gründerin des Mutterschutzbundes von 1905, kämpfte für seine Streichung. Der Höhepunkt waren die Kampagne im „Stern“ und die damit verbundenen Aktionen. Sie führten dazu, dass der Paragraf, wenn auch nicht gestrichen, so doch reformiert wurde.
WELT ONLINE: Führen liberale Gesetze nicht auch zu einem leichtfertigeren Umgang mit dem Thema Abtreibung?
Notz: Nein. Die Praxis zeigt, dass eine Abtreibung nicht als Ersatz für Verhütung betrachtet wird. Keine Frau macht sich die Entscheidung leicht. Auch Strafen verhindern nicht, dass Frauen abtreiben. Nur wird es dann zu einer sozialen Frage: Frauen, die es sich leisten konnten, fanden immer Wege, für die anderen war es schwierig und oft mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Umgekehrt ist in Ländern mit liberalen Gesetzen die Zahl der Abtreibungen auch nicht höher.
WELT ONLINE: Pro Familia berät schwangere Frauen, ist aber gegen die Beratungspflicht. Warum?
Notz: Weil jede Art von Zwang den fachlichen Grundsätzen von Beratung widerspricht und die Würde der Frau beeinträchtigt.
WELT ONLINE: Was ist mit dem Schutz des ungeborenen Lebens?
Notz: Der Begriff wird von den selbst ernannten Lebensschützern benutzt. Wir sind der Meinung, dass die Frau selbst entscheiden muss, ob sie ein Kind bekommen möchte.
WELT ONLINE: Sie würden den Beginn von „Leben“ erst ab der Geburt definieren?
Notz: Der Zeitpunkt der Geburt ist die entscheidende Zäsur für den von der Mutter unabhängig lebensfähigen Menschen.
WELT ONLINE: Was halten Sie von den Plänen der CDU und anderen, Spätabtreibungen zu sanktionieren?
Notz: Pro Familia und neun weitere Verbände haben sich bereits im Juni 2006 dagegen ausgesprochen. Wir alle fürchten, dass die konservativen Parteien durch den Nachbesserungsvorschlag die gültige Regelung infrage stellen wollen.
WELT ONLINE: Aus welchem Grund?
Notz: Dahinter steckt das Interesse einiger Gruppen, zum Beispiel der Kirchen oder auch der selbst ernannten Lebensschützer, Frauen kontrollieren zu wollen. Einige bringen auch demografische Argumente ins Spiel, verweisen auf die niedrige Geburtenrate. Aber keine Frau bekommt ein Kind, um die Rentenkassen zu füllen.
WELT ONLINE: Warum ist das Thema Abtreibung immer noch ein Tabu?
Notz: Unter anderem deshalb, weil es ein hoch emotionalisiertes Thema ist und immer noch als Straftat behandelt wird. Die „Schuldige“ ist immer noch die Frau

http://www.welt.de/politik/article1573040/Jede_Art_Zwang_ist_gegen_die_Wuerde_der_Frau.html


SCHIMPFWORT Es war nie eine besondere Auszeichnung, eine Feministin zu sein, meint die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz. Obwohl der Feminismus unser Denken und die Entwicklung der Gesellschaft nachhaltig beeinflusste

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

sonntaz: Frau Notz, im angelsächsischen Raum fing es an. Anstatt von Feminismus wurde plötzlich vom "F-Wort" gesprochen. Beunruhigt Sie das, da man ja weiß, dass bis dato eher das Wort "fuck" als F-Wort galt?

Gisela Notz: Ich finde es positiv, dass junge Frauen keine Scheu mehr vor dem Wort Feminismus haben.

Aber das haben sie doch, wenn sie statt dem Wort "Feminismus" nun das "F-Wort" sagen.

Bloß weil das F-Wort für fuck steht? Ich sehe das nicht so.

Fuck Feminism - haben Sie das im Laufe Ihres bald siebzigjährigen Lebens nie gedacht?

Es war nie eine Auszeichnung, Feministin zu sein, aber ich habe mich immer dazu bekannt. Bis vor Kurzem haben sich junge Frauen geschüttelt bei der Vorstellung, Feministin genannt zu werden. Für sie waren Feministinnen meiner Generation nur Jammertanten, die immer noch Diskriminierung sehen, wo sie doch sicher waren, dass sie alles werden und alles sein können, was sie wollen. Es sieht so aus, als wäre diese Euphorie jetzt vorbei, aber Feministinnen wollen sie immer noch nicht sein.

Waren Sie je stolz, eine Feministin zu sein?

In der Aufbruchzeit der siebziger Jahre ja. Aber es gehört wohl zur Geschichte des Feminismus, dass das Wort für manche ein Schimpfwort ist. Während der ersten Frauenbewegung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hätten sich Sozialistinnen und Proletarierinnen auch nie so bezeichnet. Clara Zetkin, die Sozialistenführerin, würde sich im Grab umdrehen, wenn man sie zur Feministin stempeln würde, obwohl das oft versucht wird. Sie wollte Seite an Seite mit Männern für eine Welt kämpfen, in der alle gleiche Rechte haben. Feministinnen, das waren aus ihrer Sicht die bürgerlichen Frauen.

Sie haben jetzt ein Buch geschrieben, das "Feminismus" heißt. Ist das mutig?

Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich es so genannt hätte. Der Verlag hatte zwei Vorgängerbücher - Kapitalismus und Sozialismus. Es sind Einführungen, damit Leute, die noch nie was davon gehört haben, eine Vorstellung bekommen, was das ist. Mich freut es, dass der Verlag als drittes Ismus-Buch den Feminismus vorstellt. Feminismus hat unser Denken nachhaltig beeinflusst und zur Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft geführt, auch wenn das gerne ignoriert wird.

Was ist Feminismus genau?

In erster Linie ein historischer Begriff, der Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Frauenkongress in Paris aufkam. Feminismus wurde Maskulinismus gegenübergestellt. Von dort soll der Begriff wie ein Lauffeuer durch die Frauenrechtsbewegung gezogen sein. Feminismus ist also kein Wort, das erst um 1970 aufkam.

Was ist Maskulinismus ?

Die Vorstellung, dass Männer naturbedingt den Frauen überlegen sind. So wird männliche Dominanz legitimiert.

Kann man dann Feminismus als Gegenteil von Maskulinismus deuten?

Ich deute es nicht so.

Wie dann?

Es gibt keine einheitliche Definition. Ich sage mal so: Feminismus heißt, dass ich Kenntnis davon habe, dass Frauen in dieser Gesellschaft - neben ihrer sozialen Schicht, Herkunft, körperlichen Besonderheiten - auch aufgrund ihres Geschlechts Diskriminierungen ausgesetzt sind. Eine Feministin erkennt das, belässt es aber nicht dabei, sondern überlegt, wie dieses Unrecht geändert werden kann. Übrigens kann auch ein Mann Feminist sein, wenn er das Unrecht, das Frauen aufgrund ihres Geschlechts erfahren, erkennt und versucht, es zu ändern.

Es gab immer ganz unterschiedliche frauenrechtliche Zugänge, wie man das Unrecht ändern könnte. Wie kommt das?

Weil unterschiedliche Gruppen von Frauen unterschiedliche Probleme haben. Ein gutes Beispiel von früher: der Kampf ums Frauenwahlrecht. In Preußen gab es ein Dreiklassenwahlrecht. Neben den Frauen konnten auch nicht alle Männer wählen. Das hing davon ab, wie viel Besitz und Ressourcen ein Mann hatte. Und da gab es bürgerliche Frauen, die die gleichen Rechte haben wollten wie ihre Ehemänner. Sie hatten aber kein Interesse, dass etwa ihre Dienstmädchen auch wählen konnten. Genau dafür hingegen kämpften die proletarischen Frauenrechtlerinnen. Sie forderten gleiches Wahlrecht für alle, unabhängig von Geschlecht und Besitzstand. Damals waren das extrem unterschiedliche Positionen. Solche Unterschiede gibt es heute auch wieder.

Wie?

Die neuen Dienstmädchen etwa. Heute gehört es fast zum guten Ton, eine Putzfrau, Haushälterin, Kinderfrau aus einem anderen Land zu haben, egal wie hoch diese qualifiziert ist. Wenn man wirklich gleiche Rechte für alle will, würde man mit dem Problem politisch umgehen und nicht glauben, indem man den qualifizierten Migrantinnen Putzjobs anbietet, die Ungerechtigkeit gemildert zu haben.

Haben Sie eine Putzfrau?

Nein.

Es gibt, schreiben Sie, auch heute viele Facetten von Feminismus. Welche?

Ökofeminismus etwa. Oder schwarzen Feminismus. Ich habe lange bei den Beiträgen zur feministischen Theorie und Praxis gearbeitet. Wir waren die führende Publikation für Feminismus, und dann kamen Frauen, die eine anderer Herkunft oder eine andere Hautfarbe hatten, und sagten: Ihr habt einen eurozentristischen Blick, was ist mit unseren Problemen? Die hatten wir wirklich zu wenig wahrgenommen. Mich hat die Auseinandersetzung mit den schwarzen Frauen nachhaltig beeindruckt.

Weil Sie merkten, dass man seine eigene weibliche Biografie nicht verallgemeinern kann?

Ja.

Welche Erkenntnis ziehen Sie aus dieser Vielfalt?

Es war immer so ein Wunschtraum, dass ein Wir-Gefühl entsteht und sich alle Frauen verbünden, um gegen Frauendiskriminierung vorzugehen. Aber das ist leider eine Schimäre.

In Ihrem Buch räumen Sie mit Irrtümern auf: etwa dem, dass Feministinnen die Frauen als Opfer sehen. Was ist die Frau aus feministischer Sicht?

Ein handelndes Subjekt.

Und die Männer, sind die aus feministischer Sicht die Antipoden, an denen sich die Feministin abarbeitet?

In der ersten bürgerlichen Frauenbewegung vor über hundert Jahren war das so. Damals haben Frauen gegen die Männer gekämpft. Sie wollten die gleichen Rechte wie Männer, und die wollten ihre Privilegien nicht abgeben. Wahlrecht, Zugang zu allen Berufen, Zugang zu den Universitäten, gleiche Erbrechte, gleiche Scheidungsrechte, gleiche Erziehungsrechte. Heute ist das vielleicht noch die Quote.

Warum hält sich der Eindruck, Feministinnen arbeiten sich auch heute an den Männern ab?

Das wird Feministinnen meiner Generation vorgeworfen, weil wir uns von den Männern separiert haben. Es ging dabei aber eher darum, sich zurückzuziehen, um eigene Thesen zu entwickeln und sich dann mit den Männern auseinanderzusetzen und im Idealfall Strukturen, die allein den Männern dienen, gemeinsam außer Kraft zu setzen.

Und wie sieht es mit jungen Frauen heute aus? Die sind auch mit Geschlechterungerechtigkeit konfrontiert, nur sehen sie die Männer nicht als Gegner.

Das liegt daran, dass viele Probleme heute nicht nur die Frauen, sondern auch Männer betreffen. Wenn ich an prekäre Arbeitsverhältnisse denke - das war lange ein Frauenproblem. Gut, zwei Drittel der Personen in prekären Arbeitsverhältnissen sind immer noch Frauen, aber ein Drittel sind mittlerweile eben Männer. Es gibt heute auch mehr Männer, die Kindererziehung und Beruf nicht unter einen Hut kriegen. Solche Entwicklungen zeigen, dass die Mann-Frau-Polarisierung nicht mehr so greift.

Sind Sie trotzdem der Meinung, dass sich feministische Positionen bis heute an Privilegien, die Männer haben, abarbeiten?

Nein. Ich würde mich an Männern abarbeiten, wenn ich forderte: Männer sollen fünfzig Prozent der prekären Arbeitsverhältnisse haben und fünfzig Prozent an der nicht existenzsichernden Teilzeitarbeit. Und die Hälfte der unbezahlten Pflegearbeit im Altenbereich sollen sie bitte schön auch noch machen. Kompletter Blödsinn ist das.

Was sagen Sie stattdessen?

Dass die prekären Arbeitsverhältnisse abgeschafft gehören.

Wie sähe Geschlechtergerechtigkeit denn wirklich aus?

Eigentlich ist die Zielvorstellung von jungen Frauen, die die Trennungslinie zwischen Männern und Frauen nicht mehr sehen wollen und sagen, es ist egal, ob ich als Mann oder Frau irgendwohin komme, auch meine. Aber die Tatsachen sind nicht so. Nehmen Sie die Piratenpartei in Berlin. Die Piraten dort sagen, es sei egal, dass wenig Frauen bei ihnen sind, Frauen seien sowieso nicht so computeraffin - also schon diskriminiert -, und alle Piraten seien eh queer, sprich jenseits der Geschlechtergrenzen. Als Zielvorstellung finde ich queer toll, aber heute ist es eben so, dass Frauen zwar die besseren Schul- und Uniabschlüsse haben, aber dann gehen sie irgendwo verloren. Und meist nicht mal am Wickeltisch, sondern weil sie keine Chance haben, sich in den Berufen zu etablieren.

In Ihrem Buch kritisieren Sie die Medien, die stark zum negativen Image von Feminismus beigetragen haben. Warum glauben Sie das?

Als ich jung war, gab es die alten Jungfern, und keine wollte eine sein. So ähnlich geht es den Feministinnen heute. Sie stellen einen Status quo, der eigentlich nicht verändert werden soll, infrage. Die Papa-Mama-Kind-Logik etwa. Dafür straft man sie ab.

Hängt das schlechte Image in den Medien auch mit Alice Schwarzer zusammen?

Ich finde es ärgerlich, dass Alice Schwarzer so hochstilisiert wird, als ob die ganze Siebziger-Jahre-Frauenbewegung einschließlich dessen, was danach kam, an ihr hinge. Und Alice Schwarzer weist das ja auch nicht von sich.

Sodass der Eindruck entsteht, alle Feministinnen sind wie Alice Schwarzer?

Genau. 1973 hat sie eine Analyse über Frauenerwerbsarbeit vorgelegt. Die war hervorragend. 1971 die Stern-Kampagne: Wir haben abgetrieben. Hervorragend. So soll eine feministische Aktion sein. Aber der Personenkult um sie hat der Frauenbewegung eher geschadet als genützt.

"Es gehört wohl zur Geschichte des Feminismus, dass das Wort für manche ein Schimpfwort ist"

Gisela Notz

Jahrgang 1942, ist Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Autorin. Sie war Bundesvorsitzende von Pro Familia, wissenschaftliche Referentin der Friedrich-Ebert-Stiftung und Redakteurin der Zeitschrift Beträge zur feministischen Theorie und Praxis. Sie forschte zu den Themen Arbeit, Soziales und Frauen. In diesem Jahr erschien der Band "Feminismus" im Verlag PapyRossa.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2011/11/05/a0022&cHash=b2117c1d3a

Vortrag in Birkenwerder VAF 18.10.2008
Dr. Gisela Notz
Wachsendes Armutsrisiko in der Bundesrepublik Deutschland
Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer zahlreicher. So geht es
auch aus dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung „Lebenslagen
in Deutschland“ vom 30.6.2008 hervor.1 Ende Mai wurde er vorgestellt. Die
schnell getippten Interpretationen reichen von „Schockierende Ergebnisse“, bei Betroffenen-
und Wohlfahrtsverbänden, bis zur „Erkenntnis“ der Bundesregierung: „Sozialstaat
verringert Armut“. Was ist richtig?
Insgesamt zeigt der Bericht – wie schon die beiden ersten Berichte: Die Schere zwischen
Arm und Reich wird immer größer. Jeder achte Mensch lebt an der Armutsgrenze,
ohne staatliche Leistungen wäre es jeder vierte. Das Armuts- und Ungerechtigkeitsproblem
trifft längst auch die Mittelschichten und Menschen, die trotz Arbeit
arm sind. Dafür liegt Deutschland weltweit auf Platz drei der Liste der Milliardäre.
Von Armut betroffen sind vor allem Erwerbslose, Menschen ohne abgeschlossene
Berufsausbildung, das sind meist Frauen, Alleinerziehende, vor allem Frauen und
Menschen mit Migrationshintergrund. Altersarmut sei kein aktuelles Problem, so
steht es im Bericht. Niedrige Alterseinkommen hängen jedoch mit der Erwerbsbiografie
zusammen. Die Niedrigentlohnten von heute sind demnach die armen Alten von
morgen. Leider werden im Bericht die Zusammenhänge von Armut, Geschlecht, ethnische
Herkunft und Familienform kaum thematisiert. Der Vergleich mit den beiden
ersten Berichten würde einen Überblick über zehn Jahre Armut ermöglichen. Er ist
jedoch schwer, weil einheitliche Datengrundlagen zwischen den Berichten fehlen.
Frauen sind überproportional von Armut betroffen und sie sind die Pionierinnen, denn
mehr und mehr folgen ihnen Männer. Es kann also nicht – will ich gleich vorausschicken
– darum gehen, dass die Armut gleich verteilt werden soll, sondern der Zustand
muss ein anderer werden.
1. Was ist Armut ?
1 Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Lebenslagen in Deutschland, 3. Armuts- und Reichtumsbericht
der Bundesregierung, Berlin 2008.
2
Bis heute streiten sich die Gelehrten, wie wir Armut definieren und ab welchem Grad
der Unterausstattung oder Unterversorgung Armut beginnt. Die Antwort hängt davon
ab, wieviel Ungleichheit an Lebenschancen und Lebensbedingungen wir in dieser
reichen Gesellschaft als gegeben hinzunehmen bereit sind und ab welchem Grad an
Ungleichheit wir einen sozialpolitischen Korrektur- und Handlungsbedarf einfordern.
Ich kann in diesem Zusammenhang nicht alle Definitionen vorstellen.
"Armut" ist keine Verhandlungsmasse und sie muss immer im Zusammenhang mit
Reichtum gesehen werden. Armut und Reichtum sind zwei Seiten einer Medaille der
der sozialen Ungleichheit. Die Weltbank zählt zu den Armen diejenigen, die weniger
als 1 Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Mehr als 1 Million Menschen sind davon
betroffen, d. h. Armut ist ein globales Problem. Aber auch in der BRD gehen immer
mehr Kinder mit knurrendem Magen zur Schule und auch Erwachsene haben oft
nicht genug zu Essen. In der Bundesrepublik wurde die Armutsgrenze lange Zeit mit
der Sozialhilfeschwelle (jetzt ALG II und Sozialgeld) gleichgesetzt, d.h. mit dem Leistungsniveau
des letzten sozialen Netzes. Oder: Arm ist, wer unterstützt wird, wer aber
unterstützt wird, ist nicht mehr arm. Diese Sichtweise hat zur Folge, dass die Existenz
von materieller Armut schlichtweg geleugnet werden kann: In Afrika gibt es
Arme, nicht bei uns. Auch in unserem reichen Land gibt es eine Reihe von Menschen,
die mit einem Einkommen unterhalb des Sozialgeldniveaus leben müssen, z.
B. Migrantinnen, die unter der Gefahr, ausgewiesen zu werden, den Gang zum Sozialamt
nicht antreten. Oder alte Menschen, die ihren Kindern nicht zur Last fallen wollen.
Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung beansprucht einen
umfassenden Analyseansatz, der die Risiken für Armut und soziale Ausgrenzung
in verschiedenen Lebenslagen beschreibt, und basiert auf dem Anspruch, dass ökonomische
und soziale Teilhabe- und Verwirklichungschancen allen Mitgliedern der
Gesellschaft zur Verfügung stehen sollten. Der Bericht ermittelt Ungleichheiten in
Form unterschiedlicher Teilhabeergebnisse, aber auch ungleicher Zugangsmöglichkeiten.
Begreift jedoch weiter Armut als ein individuelles Schicksal und verweist auf
„Bewältigungskompetenzen“. Die aber sind einem funktionierenden Sozialstaat unangemessen.
Denn der müsste auch die Infrastruktur zur Verfügung stellen, wenn es
zum Beispiel immer wieder darum geht, dass Armut durch bessere Bildung bewältigt
3
werden kann. Armut ist vor allem ein strukturelles Problem und das bleibt unangetastet.
Der Wandel von Wirtschaft und Beschäftigung wird im Bericht wie ein unentrinnbares
Schicksal, auf das man politisch gar nicht Einfluss nehmen kann, dargestellt.
Obwohl behauptet wird, dass seit Beginn des Jahres 2006 die binnenwirtschaftliche
Schwächephase der BRD überwunden sei, kann aber aufgrund fehlender Daten den
Zusammenhang nicht ermitteln. 40 Millionen Erwerbstätige hatte die Bundesrepublik
nach dem Armutsbericht im April 2008, das sei der historische Höchststand. Zudem
gäbe es verbesserte Einkommen und mehr Arbeitsplätze. Um welche Arbeitsplätze
es sich handelt, wird nicht gesagt. Die Armutsrisikoquote ist innerhalb von fünf Jahren
von 12.1 % (1998) auf 13,5 % (2003) gestiegen. Nach dem 3. Bericht liegt sie
zwischen 2003 und 2006 zwischen 13 und 18 %. Je nach Erhebung (S. XI). Die geschlechtsspezifische
Differenzierung ergab 2003 eine Risikoquote von 14,4 % für
Frauen und von 12,6 % für Männer.2 Frauen, sind es, die in den Risikogruppen nicht
nur überproportional anzutreffen sind, sondern sie sind es auch sind, die in den Familien
mit dem wenigen Geld wirtschaften müssen, denn von ihnen wird in noch weit
größerem Umfang Haus- und Erziehungsarbeit abverlangt. Hinter den statistischen
Zahlen über das Ausmaß der Armut in Deutschland stehen viele Einzelschicksale.
Mit den Überschriften „Armut hat viele Gesichter“ oder „die Gesichter der Armut“ habe
ich schon viele Artikel überschrieben.3 „Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen
mit vielen Gesichtern“, mit diesen Worten beginnt der Dritte Armutsbericht. Interessant
ist, wie es weiter geht: „Es entzieht sich deshalb einer eindeutigen Messung“. Im
Internet habe ich gelesen: „Armut hat immer mehr Kindergesichter“ und als Lösung:
„Was wir in unserer Stadt brauchen, sind vor allem Suppenkinderküchen“. Nein, ich
sag es vorweg, wir brauchen Maßnahmen, die an den Wurzeln des Problems rühren.
Viele Menschen gehören zu den "working poor" - sie sind arm trotz Arbeit. Das Recht
auf eigenständige Existenzsicherung für Frauen hat sich – trotz Gleichstellungsgebot
im Grundgesetz und trotz Gender Mainstreaming – in der BRD nicht wirklich durchgesetzt.
Der Zweite Armutsbericht belegte bereits den engen Zusammenhang zwischen
niedrigem Einkommen und geringem Bildungsniveau, schlechter Wohnversor-
2 Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin
2004.
3 Siehe z. B.: Gisela Notz: Löcher im sozialen Netz. Sozialpolitik und Geschlecht, Frankfurt/M. 2003.
Gisela Notz: Warum Armut (oft) weiblich ist. In. Arno Klönne/Daniel Kreutz/Otto Meyer (Hg.): Es geht
anders! Alternativen zur Sozialdemontage, Köln 2005, S. 97 – 103.
4
gung, höherem Krankheitsrisiko und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Bildungsarmut
bei Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien ist die Regel.
Reichtum und Armut vererben sich, das belegen auch viele andere Studien. Armut
macht krank und Krankheit macht arm. Ein monetäres Armutsrisiko halbiert die
Chance auf einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand.4 Frauen in der niedrigsten
Berufsgruppe sind fast fünfmal häufiger gesundheitlich beeinträchtigt als
Frauen in der höchsten Berufsgruppe. Gesunde Ernährung aber, das beweisen Studien,
ist weder für Erwachsene noch Kinde mit den derzeitigen Regelsätzen möglich.
Dass es manche dennoch schaffen, entbindet nicht von der Verpflichtung, allen Menschen
einen menschenwürdigen Lebensstandard zu ermöglichen.
2. Warum ist Armut weiblich ?
Die Tatsache, dass Frauen besonders von Armut betroffen sind, resultiert aus der
herrschenden Arbeitsteilung, aus der ungleichen Verteilung von bezahlter und unbezahlter
Arbeit zwischen Männern und Frauen und aus den großen Differenzen in der
Bewertung der bezahlt geleisteten Arbeit. Durch den – im Gegensatz zu skandinavischen
Ländern – üblichen Haushaltsansatz, werden Frauen immer als Anhängsel
von Männern gesehen, das manifestiert sich zum Beispiel durch das Ehegattensplitting
oder durch Hartz IV, mit den Bedarfsgemeinschaften, die die Abhängigkeit vom
„Familienernährer“ festschreibt. Rollentausch wäre möglich, aber dadurch werden die
Strukturen nicht verändert. Die Diskriminierung von Frauen beginnt früh und endet im
Alter nicht.
Ich komme nun zu den Gesichtern der Armut und begleite Armut durch alle Lebensphasen.
Diesen Ansatz finde ich ertragreicher, als eine Typisierung.
Bereits Kinder sind arm. Diese Tatsache wird zu Recht skandalisiert. Kinder sind
jedoch nicht arm, weil sie selbst kein Geld verdienen, oder weil die Kinderarbeit abgeschafft
ist, sondern weil 13 % der Menschen in Deutschland arm sind und jeder
vierte Mensch von Armut betroffen oder bedroht ist,5 weil die Eltern erwerbslos sind
oder zu den working poor gehören. Die Zahl der Kinder die in prekären Verhältnissen
aufwachsen, nimmt ständig zu. Dass auch von der viel zitierten Kinderarmut ge-
4 Siehe auch Dtter Armuts- und Reichtumsbericht, S 99.
5 Siehe den Dritten Armuts- und Reichtumsbereicht.
5
schlechtsspezifische Aspekte hat, weist Margherita Zander in einer Studie nach, indem
sie nach den Wirkungen fragt. Jungen sind vor allem dadurch belastet, dass sie
seltener soziale Netzwerke nutzen und Unterstützung in Anspruch nehmen. Mädchen
neigen aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation generell zu einem Bewältigungsverhalten,
das ihnen ein hohes Maß an Anpassungsleistungen abfordert
(z. B. dadurch, dass sie in der Familie Mitverantwortung übernehmen).
Mädchen und Jungen neigen dazu das Problem „mit sich selbst auszumachen“.6
Frauen werden arm, weil ihnen der Zugang zu Bildung und Ausbildung versperrt
wird
Nach dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht ist bessere Bildung und Ausbildung
das wichtigste Mittel zur Armutsbekämpfung. Aber: Seit 1995 geht die Zahl der offenen
Lehrstellen kontinuierlich zurück. Ende Dezember 2004 warteten 14.950 InteressentInnen
auf eine Lehrstellenvermittlung. Gleichzeitig haben die Unternehmer in
4.200 Fällen niemanden für ihr Angebot gefunden.7 Vorschläge zur Schaffung qualifizierter
Lehrstellen und Arbeitsplätze fehlen. Junge Frauen sind immer noch besonders
benachteiligt. Obwohl sie gleich gute und bessere Schulabschlüsse als Jungen
haben, sind zwei Drittel aller Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz Mädchen. Nach
der Ausbildung sind sie viermal so oft erwerbslos, als Jungen. Die Erwerbslosenquote
für Menschen ohne Ausbildung ist sechsmal so hoch wie diejenige, dien eine akademischen
Abschluss vorzuweisen haben. Die Verdienste der Mädchen sind ein
Jahr nach der Ausbildung um 19 % niedriger, als die der Jungen. Sie sind von den
Eltern abhängig, versorgen jüngere Geschwister, Haushalt, Großeltern und haben
auch heute selten ein eigenes Zimmer.
Auch wenn Erwerbslosigkeit nicht grundsätzlich mit Bildungsdefiziten verknüpft ist,
sind es doch die „Geringqualifizierten“, die besonders betroffen sind. Der Zusammenhang
zwischen Erwerbslosenquote und Bildungsniveau ist bei jungen Frauen
merklich stärker ausgeprägt als bei jungen Männern.
In den neuen Bundesländern ist die Erwerbslosenquote der Frauen ohne Berufsausbildung
mehr als doppelt so hoch, als die der Männer ohne Ausbildung. Insgesamt
waren im Dezember 2004 fast eine halbe Million Menschen unter 25 Jahren in den
Warteschleifen der Bundesagentur oder erwerbslos. Für Frauen weist auch die Ju-
6 Margherita Zander (Hg.): Kinderarmut, Wiesbaden 2005.
7 Frankfurter Rundschau vom 5.1.2005.
6
gendarbeitslosenquote deutlich ungünstigere Werte auf, als diejenige der Männer.
Nicht erst bei der "Berufswahl" werden junge Frauen auf die "Alternativrolle" in der
Familie oder auf Ausbildungsplätze in der Hauswirtschaft hingewiesen und manche
nehmen sie auch viel zu schnell an. Der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht schlägt
vor, die Integration und Partizipation benachteiligter Jugendliche durch Freiwilligendienste
zu verbessern.
Frauen werden arm, weil sie erwerbslos sind
Im Februar 2005 waren 5,29 Millionen Personen erwerbslos. Das war eine Erwerbslosenquote
von 14,1 % und die bisher erreichte Höchstquote. Der Wert sei nach dem
AB seit 2006 deutlich zurückgegangen. Tatsächlich bringt ein Vergleich zwischen
Dezember 2006 und Dezember 2007 einen Rückgang um 15 %. Im April 2008 hatten
wir immer noch 4 Millionen registrierte Erwerbslose. Rechnet man die Dunkelziffer
dazu, so fehlen fast 8 Mio. Arbeitsplätze. Gleichzeitig melden Unternehmen, dass sie
in den nächsten Monaten weitere Tausende von Arbeitsplätzen abbauen wollen.
Frauen sind im Vergleich zu ihrer Beteiligung am bezahlten Arbeitsmarkt sowohl in
den alten als auch in den neuen Ländern stärker als Männer von Erwerbslosigkeit
betroffen. Ältere Arbeitnehmerinnen sind besonders arm dran.
Selbst gut qualifizierte Frauen können arm werden. Das gilt für Facharbeiterinnen im
"Männerberuf", die aufgrund von Vorurteilen keinen entsprechenden Arbeitsplatz bekommen
ebenso wie für Hochschulabsolventinnen. Ausbildungsinadäquate, befristete
Beschäftigungen und Erwerbslosigkeit von Akademikerinnen trifft Frauen in weitaus
stärkerem Maße als Männer. Ganz zu schweigen von den unbezahlt geleisteten
Praktikas, die Praktikantinnen ebenfalls verstärkt betreffen.
Erwerbslose sind es aber auch, die ein wesentlich höheres Einkommensrisiko (40,9
%) gegenüber ArbeitnehmerInnen (7,1 %) haben.8 Besonders in den neuen Ländern
sind Frauen wesentlich stärker von Langzeiterwerbslosigkeit betroffen, als Männer.
Langzeiterwerbslose sind besonders von Armut bedroht oder betroffen, das zeigt
auch der Dritte Armutsbericht. Eine unglaubliche Entwertung von angesammelten
Qualifikationen und Erfahrungen ist die Folge. Dass Langzeiterwerbslosigkeit zudem
zur Verarmung führt, beweisen die Statistiken seit Langem. Nach Inkrafttreten des
ALG II, das seit 1.1.2005 an erwerbsfähige SozialhilfeempfängerInnen gezahlt wird,
8 3. Armuts- und Reichtumsbericht.
7
erhalten viele Frauen kein ALG II, weil die finanziellen Leistungen nicht auf das Individuum
ausgerichtet sind, sondern auf „Bedarfsgemeinschaften“. Schätzungen zufolge
haben zum 1.1.2005 200.000 Frauen ihre Ansprüche auf Arbeitslosenhilfe ersatzlos
verloren, weil sie mit einem Partner zusammenleben. Das bedeutet Abhängigkeit
vom Partner.
Als Gründe für die hohe Frauenerwerbslosigkeit werden immer wieder die Zunahme
des weiblichen Erwerbspotentials sowie Wettbewerbsnachteile, die Frauen vor allem
durch Familienpflichten haben, genannt. „Zunehmende Erwerbsneigung“ ist schon
deshalb ein geschlechterdiskriminierender Begriff, weil er nie auf Männer angewandet
wird.
Familienpflichten beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit der Ost-Frauen vor der
"Wende" in weitaus geringerem Ausmaß, weil sie auf dem Arbeitsmarkt gebraucht
wurden. Immer dann, wenn die Wirtschaft die erwerbstätigen Frauen braucht, steht
ihrer „Erwerbsneigung“ nichts im Wege.
Frauen werden arm, weil sie unbezahlte Arbeit leisten
Frauen, die in der Familie Menschen, die sich nicht selbst helfen können, versorgen
und pflegen, erhalten überhaupt keinen Lohn, sieht man einmal von völlig unzureichenden
und für Männer unattraktiven "Löhnen" wie Erziehungsgeld und Pflegegeld
ab.
Nicht nur Kindererziehungszeiten sind Armutsfallen, sondern auch die Übernahme
von Pflegeleistungen. Auch sie sind geeignet, Frauen aus dem Arbeitsmarkt zu entfernen.
Das Ausmaß der Pflege, die zu Hause geleistet wird, übersteigt mit rund 70
%9 bei Weitem das Ausmaß der Pflege, die in Heimen geleistet werden. 80 % aller
pflegenden Angehörigen sind weiblich (Töchter, Schwiegertöchter, Ehefrauen und
Mütter). Mit dem Pflegegeld, das für häusliche Pflege bezahlt wird können pflegende
Angehörige oder FreundInnen bezahlt werden, wenn diese die notwendige Grundpflege
und hauswirtschaftliche Tätigkeit übernehmen. Selbständig leben kann die
Pflegeperson von der "Aufwandsentschädigung" zwischen 420 € und 1.470 € (je
nach Pflegestufe nach der verabschiedeten Pflegereform) bestenfalls wenn sie
Schwerstpflegebedürftige zu betreuen hat. Die Zahl der Männer, die ihren Beruf (vo-
9 Ebenda.
8
rübergehend) aufgeben, um solche Pflegeleistungen zu erbringen, dürfte weiterhin
die der Elternzeitväter noch unterschreiten. Die Folge sind finanzielle Einbußen,
schlechte soziale Absicherung – auch im Alter - und oft gesellschaftliche Isolation.
Möglicherweise wird sich der Trend zur Hausversorgung durch das Pflege-
Weiterentwicklungsgesetz vom März 2008 verstärken: Pflegende können bis zu
sechs Monate zu Hause bleiben. Gehalt bekommen sie nicht, bleiben jedoch sozialversichert.
Vom Ertrag ihrer Arbeit ebenso wenig leben können die zahlreichen Frauen, die „ehrenamtlich“
in der sozialen oder kulturellen Arbeit, die in Wohlfahrtsverbänden, Kirchen,
Soziokultur und anderswo geleistet wird, tätig sind. Ca. 80% dieser unbezahlten
Arbeit im sozialen und kulturellen Bereich wird durch Frauen ausgeführt. Mit Amt
und Ehre und Aufwandsentschädigungen versehene Posten haben vor allem Männer
inne. Oft wird die Arbeit durch den Lohn einer anderen Person finanziert. Diese finanzielle
Abhängigkeit erfordert die wohlwollende Unterstützung der ehrenamtlich
Arbeitenden durch (Ehe)mann und Familie. Die Übergänge zwischen geringfügigen
und ehrenamtlichen Arbeitsverhältnissen sind schon lange fließend. Kein Wunder,
dass Dritte Armuts- und Reichtumsbericht eine Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten
von einkommensschwachen Personen und MigrantInnen ins Bürgerschaftliche
Engagement fordert.
Frauen werden arm, weil sie in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten
Der „Wandel der Form der Arbeitsverhältnisse“ hin zu ungesicherten, befristeten, geringfügigen
Beschäftigungsverhältnissen, die keine existenzsichernde Entlohnung
bieten, ist die Kehrseite des im 3. Armutsbericht genannten Trendwende am Arbeitsmarkt.
Der Armutsbericht zeigt, dass die Zahl derjenigen, die arbeiten und trotzdem
von Armut bedroht sind, größer wird. Der Zuwachs von Frauenarbeitsplätzen in
den letzten Jahren ist fast ausschließlich auf Teilzeitarbeit, Ein-Euro-Jobs, Mini-Jobs
und Ich-AGs (diese heißen jetzt anders, es gibt sie aber weiterhin) zurückzuführen.
Um Haus- und Sorgearbeiten und Berufsarbeit zu vereinbaren, weil Kinderbetreuungsmöglichkeiten
nicht zur Verfügung stehen oder weil ihnen in ihrem Beruf kein
"ganzer" Arbeitsplatz angeboten wird, nehmen vor allem Frauen Arbeitsverhältnisse
mit kürzeren Arbeitszeiten. 95 % der abhängig beschäftigten Männer haben kein
Vereinbarkeitsproblem. Sie sind Vollzeit beschäftigt, auch wenn sie Väter sind. Prekäre
Arbeitsverhältnisse bekommen allerdings auch Frauen angeboten, die keine
9
Familienpflichten haben (wollen), weil der Arbeitsmarkt keine anderen Arbeitsverhältnisse
bereitstellt. Die weitaus meisten Frauen nehmen diese Arbeit an, weil ihnen
nichts anderes übrigbleibt. Für Frauen waren kollektiv geregelte „Normalarbeitsverhältnisse“
nie die Regel. Seit es Lohnarbeit gibt, sind sie es (vor allem), die prekäre
Beschäftigungsverhältnisse inne haben.
Die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung ist zum großen Teil einer schlechteren Position
von Frauen und insbesondere Müttern auf dem Arbeitsmarkt geschuldet. Teilzeitarbeit
ist die klassische Form der ‚atypischen’ Beschäftigung, auch wenn sie nicht
per se zu den prekären Arbeitsverhältnissen zählt. Dort, wo man vom Ertrag der teilzeitigen
Arbeit einigermaßen leben könnte, wird allerdings nur ganz selten geteilt.
Trotz einiger arbeitsrechtlicher und tarifpolitischer Verbesserungen ist Teilzeitarbeit
nach wie vor mit Nachteilen verbunden. Die meisten teilzeitarbeitenden Frauen arbeiten
im Dienstleistungssektor und dort vor allem in Bereichen mit hohem Leistungsdruck
und niedrigen Löhnen. Armut - spätestens dann, wenn, aus welchen Gründen
auch immer, der "Haupternährer" wegfällt, ist die Folge.
Armutsrisiken sind vor allem Frauen in den atypischen, "ungeschützten“ oder prekären
Beschäftigungsverhältnissen ausgesetzt. In vielen Bereichen mit "typischen
Frauenarbeitsplätzen" sind sie zur "Normalarbeit" geworden. So z. B. bei 90% der
Putzarbeiten und 90% der (elektronischen) Heimarbeiten sowie bei zahlreichen
(Frauen)arbeitsplätzen im Einzelhandel, bei der Post und anderswo. Arbeitgeber mit
einem hohen Anteil geringfügig Beschäftigter konnten bislang enorme Sozialversicherungsbeiträge
sparen, auf Kosten der eigenständigen Existenzsicherung vor allem
von Frauen. Durch das Inkrafttreten der Hartz-Gesetze wird ein weiterer Ausbau
prekärer Beschäftigung verbunden mit einer Ausweitung des Niedriglohnsektors und
einer Aushebelung des Kündigungsschutzes möglich. Besondere Wachstumssegmente
werden im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen gesehen.
Migrantinnen sind es vor allem, die für besser verdienende weiße deutsche Frauen
dienen lernen sollen.
Seit April 2003 wurde durch die Anhebung der Versicherungsfreigrenze auf 400 € mit
der Einführung der Mini-Jobs eine weitere Erosion des "Normalarbeitsverhältnisses"
gesetzlich abgesegnet. Da (fast) jede Arbeit als zumutbar gilt, müssen ALG II BezieherInnen
auch Mini-Jobs oder 1-Euro-Jobs annehmen. Von Mitte 2003 bis Mitte 2004
10
ist die Zahl der Minijobs von 5.5 auf 6.2 Millionen gestiegen. Gleichzeitig hat sich die
Zahl der voll sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze um 300.000 veringert.10
Deutlich ist, dass Mini-Jobs bestenfalls zum Zuverdienen geeignet sind. Kein Wunder,
dass viele Jobberinnen mehrere solcher Jobs annehmen oder eben – jetzt und
im Alter- unterhalb der Armutsgrenze leben (müssen).
Frauen werden arm, obwohl sie ‚Unternehmergeist’ entwickeln
Frauen werden immer wieder aufgefordert, private Initiative zu entwickeln und sich
selbständig zu machen. Viele "selbständige" Frauen sind arm, weil sie kein existenzsicherndes
Einkommen erwirtschaften. Frauenbetriebe arbeiten meist mit geringem
Kapitaleinsatz und Jahresumsatz, weit überwiegend im Dienstleistungsbereich und
im Handel und haben nur wenig Beschäftigte. Mit der Einführung der „Ich-AGs“ sollten
erwerbslose Frauen, an deren „Unternehmergeist“ EU-weit schon lange appelliert
wird, in der Zukunft ihre Beschäftigungs- und Versorgungsperspektiven eigenständig
regeln. Die Ich-AG gibt es nicht mehr, dafür andere Existenzgründungsprogramme,
die auf dasselbe hinauslaufen. Viele selbstständige Frauen bleiben abhängig vom
„Haupternährer“ und sind auch im Alter (meist) arm. Frauenbetriebe halten länger als
Männerbetriebe, weil sie mit weniger Geld auskommen. Verstärkt gilt das für die
„mithelfenden Familienangehörige“, die durch die Familien-AG. rekonstruiert wurde
und die es immer gab und auch weiter geben wird. Frauen in Landwirtschaft und
Handwerk problematisieren diese Situation seit langem. Eindeutig bedeuten die
„neuen“ selbständigen Arbeitsverhältnisse eine Ausweitung des Niedriglohnsektors
und eine Zunahme der „working poor“. Auch viele Existenzgründerinnen arbeiten also
faktisch in "ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen". D.h. fehlende eigenständige
Existenzsicherung und Abhängigkeit von anderen Personen, meist vom
(Ehe-)Mann, von ALG II oder Sozialgeld, auch im Alter.
Frauen werden arm, weil sie weniger verdienen als Männer.
Dort, wo Frauen arbeiten, verdienen selbst auf gut bezahlten Arbeitsplätzen durchschnittlich
etwa 25% - 30 % weniger als Männer. Die seit Beginn der Industrialisierung
andauernde Niedrigbewertung der Frauenarbeit hat sich bis heute kaum verändert,
nach der Wiedervereinigung hat sie sich sogar verschlechtert. Frauen sind in
den unteren Lohngruppen zu finden, arbeiten in den Branchen, die Niedriglöhne zah-
10 Handelsblatt vom 5.1.2005.
11
len (z. B. Textil, Handel, niedrigbewertete Dienstleistungen). Analysen zeigen, dass
Frauen selbst dann weniger als Männer verdienen, wenn sie die gleichen Arbeitszeiten
und beruflichen Positionen haben und in den gleichen Sektoren beschäftigt sind.
Die Diskriminierungen bestehen fort, obgleich seit 1955 "Frauenlohnabschlagsklauseln"
als gesetzeswidrig identifiziert sind, weil sie gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz
verstoßen. Dort, wo mehrheitlich Frauen arbeiten, wird die Arbeit insgesamt
niedriger bewertet. Hier sprechen wir von einer mittelbaren Diskriminierung.
Hauptgrund der Diskriminierung ist, dass auch gut ausgebildete Frauen immer noch
als "Zuverdienerinnen" angesehen werden. Das trifft auch Frauen, die niemals Ehefrau
waren oder werden wollen. Selbst viele vollzeitarbeitenden Frauen können von
ihrem Lohn nicht leben.
Frauen werden arm, weil sie nicht in einer "Normalfamilie" leben
Obwohl Menschen heute angeblich aus einer Vielzahl von Lebensformen auswählen
können, führt ein Abweichen von der "Normalbiographie", zu der Ehe und festgelegte
Geschlechtsrollen gehören, oft zu Armut. Eine Umgestaltung des Ehegattensplittings,
das nach der Meinung von zahlreichen Familienverbänden, die sich dazu kürzlich in
Resolutionen geäußert haben, längst abgeschafft gehört, weil es das vor allem den
Tatbestand der Ehe und da wieder vor allem alleinverdienende Ehemänner subventioniert,
steht nicht (mehr) auf der Agenda der Regierungsparteien. Ministerin Ursula
von der Leyen will dasselbe um eine Familienkomponente ausweiten: Nicht die Ehe
sondern die Kinder sollen gefördert werden. Je mehr Kinder, desto höher die Steuervergünstigung.
Eine gute Idee? Nur auf den ersten Blick, denn die Mehrheit der Familien
kommt gar nicht in den Genuss der Vorteile. Erst ab einem Jahreseinkommen
von 69.000 € profitieren sie stärker vom Familiensplitting als vom gültigen Kinderfreibetrag.
Wer darunter liegt, wird schlechter gestellt und das sind vor allem junge Väter
und Mütter, die gerade darum bemüht sind, beruflich Fuß zu fassen und sozial
schwache Lebensgemeinschaften ohnehin. Das deutsche Institut der Wirtschaft veranschlagt
die Kosten für das Familiensplitting auf 1,5 Milliarden €. Die Hälfte dieser
Summe käme allein den zehn Prozent der Familien zugute, die sich im obersten Einkommensbereich
bewegen. Angesichts der emotional geführten Diskussion um den
„Geburtenrückgang“ scheint das von von der Leyen durchgeboxte Elterngeld ein
Schritt, die besser Verdienenden ins „Kinderboot“ zu holen, den Armen hilft das nicht.
12
Ebenso wenig wie das für 2013 in Aussicht gestellte Betreuungsgeld von 150 € monatlich.
Aber auch die Ehe als Versorgungsinstanz bröckelt. In den Metropolen wird heute
jede zweite Ehe geschieden. Geschiedene und alleinlebende Frauen sind weit eher
von Armut betroffen als „Familienfrauen“ und haben auch im Alter keine besseren
Aussichten. Familienfrauen bekommen eine Witwenrente und sind im Krankheitsfall
beim Ehemann mitversichert. Allerdings sind sie meist abhängig von dem Verdienst
eines anderen Menschen.
Der Dritte Armutsbericht berücksichtigt kaum, dass "Alleinerziehende" Frauen oder
„Einelternfamilien“ überdurchschnittlich arm dran sind. „Alleinerziehende“ wehren
sich mit Recht dagegen, per se als arme Frauen zu gelten. Viele haben sich diese
Lebensform selbst gewählt, oder sie erscheint ihnen erstrebenswerter, als das Aufrechterhalten
einer unerträglichen Beziehung. Alleinerziehende Frauen in den neuen
Bundesländern sind eine der am stärksten von Erwerbslosigkeit und Armut betroffenen
Bevölkerungsgruppe in der BRD. Die Hälfte aller „Einelternfamilien“ hat nach Berechnungen
monatlich weniger als 945 € zur Verfügung.11 60 % der Kinder, die vom
Sozialgeld leben, leben in Ein-Eltern-Familien, 85 % bei der Mutter.
Nach Dritten Armmutsbericht ist das Armutsniveau bei Alleinerziehenden mit 24 %
doppelt so hoch wie bei „Normalfamilien“ (13 %). Hier wird die Notwendigkeit armutsbekämpfender
Maßnahmen für Alleinerziehende deutlich.
Die ärmste Gruppe sind diejenigen mit Kindern unter drei Jahren. Sie nehmen die
Elternzeit ebenso wie Verheiratete und können eben sowenig davon leben. Und sie
haben meist nicht den Vater des Kindes als "Haupternährer" an der Seite. Der fehlt
häufig, ist selbst erwerbslos oder zahlt einfach keinen Unterhalt. Ihre Alltagssituation
ist gekennzeichnet vom "Kampf ums Geld".
Alleinerziehende Mütter werden so zu Bittstellerinnen gegenüber dem Staat gemacht.
Sie werden kontrollierbar und auch kontrolliert, egal wie gut sie ausgebildet
sind. Laut Mikrozensus lebten im Jahr 2005 1,6 Millionen allein erziehender Mütter
und Väter mit Kindern unter 18 Jahren in der BRD. Jedes fünfte Kind, das sind 20 %
aller Kinder (23 % im Osten und 18 % im Westen) lebte in einer solchen Familie, 85
11 Vamv Info 3/2007, Juli/August, S. 6.
13
% davon bei der Mutter.12 Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
vom Juli 200713 sind Alleinerziehende die Gruppe, die am längsten im
ALG-II-Bezug verbleibt. 70 % der Alleinerziehenden waren nach zwölf Monaten noch
im Leistungsbezug.14 Erschwerter Zugang zu Erwerbstätigkeit und fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten
und Ganztagsschulen sind die wichtigsten Ursachen. Der
Armutsrisikoqotient betrug bei Alleinerziehenden nach dem Armutsbericht der Bundesregierung
35,4 %, während er bei „Normalfamilien“ (2 Erwachsene mit Kind/ern)
11,6 % ausmachte.15 Fast jede dritte alleinerziehende Frau mit minderjährigen Kindern
im Westen bezog vor der Umstellung auf ALG II Sozialhilfe, im Osten lebte sogar
die Hälfte dieser Frauen von Sozialhilfe.
Frauen werden arm, weil sie als "Fremde" oder "Andere" angesehen werden.
Arm sind obdachlose Frauen und Wanderarbeiterinnen besonders in den periphären
"Entwicklungsländern", die auf der Suche nach Arbeit durch die Welt vagabundieren,
aber nirgendwo ankommen. Aus dem Dritten Armutsbericht geht hervor, dass sich
die Zahl der Wohnungslosen seit 1998 halbiert habe – von 530.000 auf 254.000 Betroffene.
Zahl der wohnungslosen Frauen nimmt zu. Sie ist schlecht zu erheben, weil
Frauen ganz offensichtlich eher als Männer Möglichkeiten finden, bei Freundinnen
oder in neuen „Beziehungen“ Unterschlupf zu finden, was oft auch neue Probleme
mit sich bringt.
Arm sind auch Frauen, die Gewalterfahrungen gemacht haben, misshandelte und
geschlagene Frauen. Ganz abgesehen von den Ärmsten der Armen, die in den Gefängnissen
oder anderen Anstalten leben.
Gemessen an der Erwerbslosenquote in der BRD sind Menschen ausländischer Herkunft
doppelt so stark von Erwerbslosigkeit und damit auch vom Armutsrisiko betroffen,
wie die Gesamtbevölkerung.16 Arm sind vor allem Migrantinnen, die noch immer
kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben. Auch nach der Änderung des Ausländergesetzes
vom 25.5.2000 erhalten ausländische Ehepartnerinnen im Fall der
Trennung erst nach zwei Ehejahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Scheitert
die Ehe vor dieser Frist, wird die Frau abgeschoben. Misshandlungen oder Gründe,
die einer Frau die Rückkehr in das Heimatland unmöglich machen, werden oftmals
12 Zahlen aus Mikrozensus 2003.
13 Nach 3. Armuts- und Reichtumsbericht.
14 Vamv Info Juli/August 2007, S. 6.
15 Dritter Armuts- und Reichtumsbericht.
16 Ebenda.
14
nicht als "Härtefälle", in denen eine eheliche Gemeinschaft von drei Jahren ausreicht,
von den Gerichten anerkannt. Der weitaus größte Teil in der BRD lebenden Migrantinnen
sind Ehefrauen von deutschen oder ausländischen Männern, die ein Aufenthaltsrecht
haben. „Nur brave Frauen dürfen blieben“, das gilt auch weiterhin.
Frauen werden arm, weil das Rentensystem an ihrer Lebensrealität vorbeigeht
Auch wenn Altersarmut nach dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht kein Problem
zu sein scheint, weil nur für 2,3 % der RenterInnen die Renteneinkünfte zum Lebens
nicht ausreichen und sie auf Grundsicherung angewiesen sind. Die Benachteiligung
im Erwerbsleben wird im sozialen Sicherungssystem fortgeschrieben, weil es
sich an der Norm männlicher Erwerbsbiographien orientiert: Das heißt, eine ausreichende
Absicherung im Alter, bei Krankheit und Erwerbslosigkeit ist nur bei durchgehender
Vollzeiterwerbstätigkeit und bei durchschnittlichem Einkommen gewährleistet.
Trotz formal-rechtlicher Gleichstellung werden Frauen strukturell durch das soziale
Sicherungssystem benachteiligt, weil die Anspruchs- und Leistungsvoraussetzungen
an ihrer Lebensrealität vorbeigehen. Die Folge davon ist, dass alte Frauen häufig in
Armut leben. Vor allem sind es alleinlebende und geschiedene ältere Frauen im
westlichen Teil der Bundesrepublik.
In den neuen Bundesländern ist die Situation zunächst noch besser, weil die Frauen,
die kurz nach der Wiedervereinigung in Rente gingen, auf eine durchgehende Erwerbsbiographie
zurückblicken konnten. Das wird sich in der Zukunft durch die hohe
Erwerbslosigkeit und die Zunahme prekärer Berufsarbeit ändern; wenn es sich nicht
schon verändert hat.
Dass Frauen von Altersarmut betroffen sind, weil sie kein den Normen entsprechendes
„erfülltes“ Berufsleben hinter sich haben, bezeichnete Trude Unruh schon früher
als das „zynische Ende der christlichen Familienpolitik“. Die ohnehin schon weit verbreiteten
Lücken in den „typisch weiblichen“ Patchworkbiografien vergrößern sich,
weil Frauen, die aus dem Leistungsbezug herausfallen, nur noch von ihren Ehemännern
abgeleitete Leistungsansprüche haben. Oft ist von „verschämter Armut“ die Rede,
das soll heißen, alte Menschen, insbesondere alte Frauen, wollen nicht zum Sozialamt
gehen, weil sie sich schämen oder über ihre Rechte (angeblich) nicht Bescheid
wissen.
15
Viele alte Menschen gehen jedoch nicht dorthin, weil sie wissen, dass ihre erwachsenen
Kinder gegenüber ihren Eltern unterhaltspflichtig sind, wie auch Eltern noch für
ihre erwachsenen Kinder zu Unterhaltszahlungen herangezogen werden können. In
der Vorstellung vieler alter Frauen ist es beschämend, nach einem arbeitsreichen
Leben auf Almosen angewiesen zu sein.
Armut als Episode im Lebenslauf ?
Armutsstudien beschreiben "Armut" oft als "häufig nur eine Episode im Lebenslauf",
(Leibfried) die von einem Großteil der Betroffenen "aktiv bewältigt" wird. Da ist die
Rede von vorübergehender oder temporärer Armut. Das soll heißen, wenn die Erwerbslose
eine „Maßnahme“ erhält, ist ihre Armut (zumindest vorübergehend) vorbei.
Wenn die Alleinerziehende wieder einen Ehemann bekommt, hat sie ihre Armut "aktiv
bewältigt". Auch der Satz im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht: „Wird im Falle
von Arbeitslosigkeit, Trennung oder Scheidung keine neue familiäre Stabilität gefunden“,
legt nahe, dass die Alleinerziehenden ihre „Stabilität“ durch die Suche nach
dem neuen Mann individuell finden können. Bei der Rentnerin wird das schon
schwieriger. Wenn mehr als die Hälfte der LeistungsbezieherInnen weniger als ein
Jahr lang ALG II in Anspruch nehmen, so kann man das als Episode bezeichnen.
Aber das sind diskriminierende Monate, wo viele nicht wissen, wie es weitergehen
soll und dieser Durchschnittswert sagt nichts über die Langzeitarmut und die Verschlechterung
der Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Armutserfahrung aus.
Jeder Mensch braucht eine bestimmte Zeit, um Armut zu überwinden. Auch vorübergehende
Armut und Abhängigkeit vom ALG II kann den Einkommensausfall, die
Entwertung der Qualifikation und den Verlust an Aufstiegschancen kaum wettmachen.
Viele ältere Erwerbslose und Frühverrentete - darunter sind ebenfalls viele
Frauen - interpretieren ihre aktuelle gesellschaftliche Situation als einen irreversiblen
Sozialabstieg (Hanesch). Darunter leiden sie, auch wenn sie wissen, dass sie ihn
nicht selbst verschuldet haben. Zudem hat für alle Menschen trotz des sogenannten
"Wertewandels" die Teilhabe an gesellschaftlich organisierter Arbeit noch andere Aspekte
als Geldverdienen. Sie verschafft den Menschen Einfluss im Sinne von Mitbestimmungs-
und Beteiligungsmöglichkeiten, wenn auch oft in beschränktem Umfang,
sie strukturiert den Tag und verschafft den Menschen Anerkennung.17 Wenn
17 Vgl. Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld, Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, Leipzig 1933.
16
viele Erwerbsarbeiten diese Bedingungen nicht erfüllen, heißt das, dass sie dringend
humanisiert werden müssen.
Fazit:
Für die Zukunft wird weder das Verteilen der Armensuppe, reichen, noch wird es
ausreichen, mangelnde Gerechtigkeit zu beklagen, sondern es wird notwendig, den
Mechanismen nachzuspüren, die die zunehmende Ungerechtigkeit bewirken und
daraus echte Reformansätze zu entwickeln. Auf der nationalen – auch nicht auf der
europäischen Eben alleine wird das nicht zu regeln sein. In unserem reichen Land
geht es nicht allen schlechter. Die Reichen können einen weiteren Anstieg ihres
Vermögens und Einkommens verzeichnen. Fünf Billionen € Nettovermögen haben
sie inzwischen angehäuft. Ein Zehntel der Haushalte verfügen über 47 Prozent des
Reichtums.18 Reichtum vererbt sich – Armut ebenso.
Wenn die Zahl derjenigen, die „Arm trotz Arbeit“ sind, größer wird, brauchen wir dringend
Mindestlöhne. Die flächendeckende Einführung derselben ist jedoch bis jetzt
am Widerstand der CDU gescheitert. Wenn Armut vor allem mit Erwerbslosigkeit zu
tun hat, so wird eine Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen (bezahlt und unbezahlt
geleisteten Arbeit) ebenso notwendig wie eine Umverteilung des Reichtums
durch eine Steuerpolitik, die Unternehmen, hohe Einkommen und Vermögen stärker
an der Finanzierung beteiligt. Wenn Armut mit dem Abweichen von der „Normalfamilie“
zu tun hat, wird es dringend notwendig, dass alle Lebensformen gleiches Recht
und gleiche Existenzbedingungen genießen.
Wenn Bildung als Schlüssel zur Teilhabe gesehen wird, ist es dringend notwendig,
Durchlässigkeit im Schulsystem zu gewährleisten. Pädagogisch wertvolle Ganztagskindertagesstätten
für Kinder aller Altersgruppe und Umbau des selektierenden
Schul- und Universitätssystems. Widerstand wird notwendig. (Auch) Frauen sind
nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern handelnde Subjekte.
Zum Weiterlesen:
Gisela Notz: Löcher im sozialen Netz. Sozialpolitik und Geschlecht, Frankfurt/M.:
VAS-Verlag 2003.

http://www.vafrauen.de/fileadmin/media/Vortraege/ARMUTVAF-FrauenOkt.09.pdf

Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin und Historikerin. Bis 1997 Redakteurin der Zeitschrift »beiträge zur feministischen theorie und praxis«, jetzt Mitarbeit bei »Lunapark 21«. Bis 2007 wissenschaftliche Referentin im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten. Herausgeberin und Autorin des Kalenders Wegbereiterinnen.
»Basiswissen« bringt in handlicher Form leicht verständliche kritische Einführungen in Grundbegriffe aus Politik, Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie. Feminismus ist ein vieldeutiger Begriff. Es gab und gibt ganz verschiedene Feminismen und ganz verschiedene feministische Theorien. Einige davon werden in dem vorliegenden Buch dargestellt. Im Zentrum steht ein Feminismus, der die kapitalistisch-patriarchalisch geprägte Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft in den Mittelpunkt der Kritik stellt und Vorstellungen sowie Handlungsstrategien, Aktionen und Kampagnen entwickelt zur gesellschaftspolitischen Veränderung hin zu einem gleichwertigen Miteinander verschiedener Geschlechter und zu einem anderen, besseren Leben – weltweit. Feminismus bezeichnet somit für Gisela Notz sowohl eine politische Theorie als auch eine soziale Bewegung und seit den letzten Jahrzehnten außerdem auch eine wissenschaftliche Disziplin. Die heterogenen Theorien und die zahlreichen, zum Teil auch gegenläufigen Strömungen, die die Interessen und Rechte der Frauen widerspiegeln, macht das Buch durch einen Gang durch die Geschichte deutlicher, farbiger und interessanter.

http://www.papyrossa.de/sites_buchtitel/notz_feminismus.htm

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Die ultimative Dienstleistungsoffensive des Antifeminismus

Ein bisschen Frauenhass steht jedem Mann!

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