Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere

Ekki, Tuesday, 09.05.2006, 15:29 (vor 6533 Tagen)

Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere

Kollege, Tuesday, 09.05.2006, 17:03 (vor 6533 Tagen) @ Ekki

Als Antwort auf: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere von Ekki am 09. Mai 2006 12:29:

Lest mal hier:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,414987,00.html

Hallo.
Klasse Artikel. Voll auf den Punkt gebracht.
Ist es das große Problem der Deutschen, ständig Grundsatzdiskussionen
führen zu müssen? Und diese Sündenbockmentalität, immer einen Schuldigen parat zu haben? Gefolgt von Selbstgeißelung?

Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere

Garfield, Tuesday, 09.05.2006, 19:10 (vor 6533 Tagen) @ Kollege

Als Antwort auf: Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere von Kollege am 09. Mai 2006 14:03:

Hallo Kollege!

"Ist es das große Problem der Deutschen, ständig Grundsatzdiskussionen
führen zu müssen? Und diese Sündenbockmentalität, immer einen Schuldigen parat zu haben?"

Ich sehe die Ursache dafür nicht in einer speziellen deutschen Mentalität, sondern eher im grandiosen Versagen der deutschen Spitzenpolitik auf dem Gebiet der Rentenversicherung.

Ludwig Erhard soll Konrad Adenauer schon in den 1960er Jahren auf eine durch den Geburtenrückgang infolge des "Pillenknicks" verursachte mögliche Gefährdung des Rentensystems angesprochen haben. Adenauer soll gefragt haben, wann sich das auswirken wird. Als er hörte, daß das erst in 40 Jahren ein Problem sein könnte, soll er gesagt haben, daß man sich darüber noch keine Gedanken machen müsse...

Ich weiß nicht, ob die Geschichte so stimmt. Immerhin trat der "Pillenknick" in Deutschland erst nach 1965 auf, Adenauer war aber nur bis 1963 Bundeskanzler. Erhard war auch nur bis 1963 Wirtschaftsminister und danach bis 1966 selbst Bundeskanzler.

Wie dem auch sei: Spätestens Mitte der 1970er Jahre war klar, daß die Erwerbslosenzahlen nun langfristig gesehen immer weiter ansteigen werden. Der Pillenknick war tatsächlich gar keine Gefahr für das Rentensystem - den hätte man durch Einwanderer ausgleichen können. Aber bei steigenden Erwerbslosenzahlen konnten weder ein Anstieg der Geburtenzahlen noch Einwanderung das allmählich zunehmende Rentenproblem lösen.

Unsere Spitzenpolitiker haben nicht nur nichts dagegen getan, sondern den Zusammenbruch des Rentensystems noch beschleunigt, indem sie beispielsweise die Rücklagen der Rentenkassen immer weiter verringerten und sie immer wieder durch Leistungen belasteten, für die keinerlei Rentenbeiträge eingezahlt wurden. Um sich dann darüber zu wundern, wie es wohl sein kann, daß so viele Steuergelder dazu gezahlt werden müssen.

Heute werden die Folgen dieser Mißwirtschaft immer deutlicher. Was sollen unsere Spitzenpolitiker nun tun? Ihr Versagen eingestehen und den Bürgern offen sagen, daß sie - und nur sie - dafür büßen müssen, indem sie jetzt zwar hohe Rentenbeiträge zahlen müssen, in Zukunft aber keine Renten mehr bekommen, von denen sie noch leben können? Und somit leider auch nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, selbst ausreichend fürs Alter vorzusorgen?

Die Lage wird sowieso durch die Massenarbeitslosigkeit, durch Hartz IV usw. immer kritischer. Wenn man da noch solch eine Bombe zündet, könnte man womöglich ähnliche Zustände bewirken wie in Frankreich...

Was kann man also tun, wenn man ungestört so weiter wurschteln möchte wie bisher, nach dem Motto "nach mir die Sintflut"? Wenn man sich ungestört die eigenen Einkommen, Privilegien und Pensionen weiter erhöhen möchte, ohne durch lästige Krawalle der aufgebrachten Bürger belästigt zu werden?

Dann muß man sich Sündenböcke suchen. Man verfährt nach dem Motto "teile und herrsche" und hetzt Junge gegen Alte und natürlich auch Eltern gegen Kinderlose auf. Die Alten sind dann gierig und wollen die Jungen als Sklaven zur Finanzierung ihrer Renten mißbrauchen. Die Jungen dagegen sind faul, dumm und arbeitsscheu. Die Kinderlosen sind egoistisch und nur darauf bedacht, ihre Luxusvillen mit Geldsäcken zuzustapeln. Die Eltern schließlich sind asozial und schmarotzen mit ihren vielen Kindern auf Kosten anderer. So erreicht man, daß alle sauer aufeinander sind, verbal oder gar körperlich aufeinander eindreschen und gar nicht mehr daran denken, wer uns die Suppe wirklich eingebrockt hat und sie nun leider nicht mit auslöffeln will - unsere werten Spitzenpolitiker.

Freundliche Grüße
von Garfield

Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere

Kollege, Wednesday, 10.05.2006, 15:50 (vor 6532 Tagen) @ Garfield

Als Antwort auf: Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere von Garfield am 09. Mai 2006 16:10:06:

"Ist es das große Problem der Deutschen, ständig Grundsatzdiskussionen
führen zu müssen? Und diese Sündenbockmentalität, immer einen Schuldigen parat zu haben?"
(..)Ursache (..) im grandiosen Versagen der deutschen Spitzenpolitik auf dem Gebiet der Rentenversicherung.
so erreicht man, daß alle sauer aufeinander sind, (..)und gar nicht mehr daran denken, wer uns die Suppe wirklich eingebrockt (..)unsere werten Spitzenpolitiker.

Hallo Garfield,
ich meinte mit der Sündenbockmentalität usw. einen möglichen grundsätzlichen Wesenszug der Deutschen anzusprechen. Dadurch fällt es um so leichter die Taktik der "Stabilisierung durch Destabilisierung", durch zündeln in allen gesellschaftsbereichen, anzuwenden. Das die "Spitzen"politiker die wahren Schuldigen sind, sehe ich auch so. Ich finde sogar, wenn man unsere Zukunft sehen will, braucht man nur mal einen Blick in die USA zu werfen. Diesen Weg haben wir beschritten. Deutschland ist durch unsere "Spitzen"politiker zum Abschuß freigegeben worden. Jetzt wird nur noch der Kuchen aufgeteilt.
Gruß, Kollege

Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere

Rainer, Wednesday, 10.05.2006, 04:06 (vor 6533 Tagen) @ Kollege

Als Antwort auf: Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere von Kollege am 09. Mai 2006 14:03:

Hallo

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,414987,00.html

Klasse Artikel. Voll auf den Punkt gebracht.
Ist es das große Problem der Deutschen, ständig Grundsatzdiskussionen
führen zu müssen? Und diese Sündenbockmentalität, immer einen Schuldigen parat zu haben? Gefolgt von Selbstgeißelung?

Zum Gedenken:

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.06.2004 Seite 8
Leserbrief von Dr. Volker Scheuing, Gräfelfing

Vergessene Debatte über den Geburtenrückgang

Die Demographiedebatte der letzten Zeit hat bisher die Tatsache übergangen, dass es in den späten 1970er Jahren eine heftige politische Auseinandersetzung über die Folgen der Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat. Die damalige Kontroverse lässt sich am besten durch Vergleich mit der französischen Reaktion auf den deutschen Geburtenrückgang würdigen. Als die Geburtenrate in der Bundesrepublik von 2,4 Kindern pro Frau 1968 auf 1,5 im Jahr 1973 abfiel, führte das weltweit angesehene Institut National d’Études Démographiques in Paris im Auftrag der französischen Regierung Modellrechnungen zur langfristigen Bevölkerungsentwicklung der französischen Bevölkerung bis zum Jahr 2100 durch. Einer der Modellvarianten war auch die in Deutschland erreichte Geburtenrate von 1,5 Kindern zugrunde gelegt – als Beispiel einer bis dahin nicht für möglich gehaltenen Extrementwicklung. Die französische Regierung formulierte im März 1975 ihr bevölkerungspolitisches Ziel, „eine stabile Geburtenrate, die nahe der Rate oder leicht über der Rate liegt, die die Ersetzung der einzelnen Altersgruppen sicherstellt“. Frankreich intensivierte seine bereits seit Kriegsende betriebenen familien- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen mit Einfallsreichtum und Flexibilität. Schwerpunkte waren unter anderem die Vereinbarkeit der Berufstätigkeit der Frau mit der Kindererziehung und die massive Unterstützung von Familien mit drei und mehr Kindern. So konnte Frankreich seine heute im europäischen Vergleich günstige Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau aufrechterhalten.

Zur selben Zeit wie in Frankreich, 1974, wurden im bayerischen Landesentwicklungsministerium Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung im eigenen Land bis zum Jahr 2070 in fünfzehn Varianten durchgeführt, die für die bis dahin 1,5 Kinder pro Frau abgesunkene Geburtenrate exzessive jährliche Geburtendefizite und entsprechende Bevölkerungsverluste ab etwa dem Jahr 2010 ergaben – mit der Folge drastisch fortschreitender Überalterung der bodenständigen Bevölkerung und deren Halbierung innerhalb von hundert Jahren.

Einem landeseigenen Bündel familienpolitischer Maßnahmen folgte im Januar 1977 die grundsätzliche Forderung an den Bund nach einer Staffelung der Sozialversicherungsbeiträge und der Einkommensteuer nach Kinderzahl, um die finanzielle Benachteiligung der Familien mit Kindern gegenüber den Kinderlosen zu beseitigen; bevölkerungspolitisches Ziel sei eine in allen Altersgruppen ausgewogene Bevölkerungsstruktur.

Als die Unionsparteien als damalige Bonner Opposition das Thema aufgriffen und im Bundestag Gesetzentwürfe für familienpolitische Maßnahmen mit bevölkerungspolitischer Begründung einbrachten, kam es zu einer unerwarteten geharnischten Reaktion aus dem Bundeskanzleramt.

Albrecht Müller, Leiter der Planungsabteilung des Bundeskanzleramts, warf im Mai 1978 den Befürwortern bevölkerungspolitischer Maßnahmen vor, sie pflegten völkisch-kollektivistische Vorstellungen. Man denke in Kategorien der Gruppe, der Horde, des Volkes. Bestandserhaltung sei ein Begriff aus der Viehhaltungsstatistik.

Unmittelbar nach Antritt der neuen Bundesregierung 1970 war der „Abschied von der Familienideologie“ verkündet worden und 1975 der berühmte und berüchtigte Zweite Familienbericht der Bundesregierung erschienen. Diesem zufolge ist – entgegen Artikel 6 des Grundgesetzes – die Erziehung der Kinder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die die Gesellschaft Familien und außerfamilialen Einrichtungen überträgt; dabei dürften nicht legalisierte Partnergemeinschaften, Wohngemeinschaften, Kollektive und so weiter gegenüber der historischen Form der „Normalfamilie“ nicht benachteiligt werden.

Gesetze der sozialliberalen Regierung wie Scheidungsrecht, Abtreibungsrecht, Namensgesetzgebung, Schüler-Bafög und so fort zielten auf die Destabilisierung und letztlich Auflösung der überkommenen Familie.

Im Bundeskanzleramt befürchtete man nun, diese Familienpolitik der sozialliberalen Regierung würde für den dramatischen Absturz der Geburtenraten in den Jahren 1968 bis 1977 von 2,4 auf 1,4 verantwortlich gemacht werden. Der Leiter der Planungsabteilung des Kanzleramts bereiste ab 1978 wichtige Tagungen, auf denen über die Bevölkerungsentwicklung gehandelt wurde, und attackierte jedermann, der den Geburtenrückgang als bedrohlich darstellte. Die Prognose- und Wirtschaftsforschungsinstitute mussten um Aufträge der Bundesregierung bangen und übten fortan äußerste Zurückhaltung in Aussagen über die Folgen der deutschen Bevölkerungsentwicklung. Auf einer Tagung des Ifo-Instituts zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft im Oktober 1978 warf Albrecht Müller selbst der Wissenschaft vor, sie leiste „Handlangerdienste bei der Dramatisierung und beim politischen Missbrauch“ der in der Bundesrepublik eingetretenen Bevölkerungsentwicklung. Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte am 2. August 1979, es stehe dem Staat nicht zu, die Geburtentwicklung beeinflussen zu wollen.

Man kann heute im Rückblick feststellen, dass die Tabuisierung des Themas demographische Entwicklung durch die damalige Bundesregierung so nachhaltig gelungen ist, dass es über ein Vierteljahrhundert aus der öffentlichen Diskussion verdrängt blieb und dringend notwendiges politisches Handeln verhinderte.

Deutschland braucht heute Demographen, die der Bevölkerung und der Politik klar und mutig sagen, dass wir mit einer schwersten Herausforderung konfrontiert sind, nach dreißig Jahren verhängnisvoll niedriger Geburtenraten mit einem Rekordtief von 1,3 Kindern pro Frau und den dadurch für die kommenden Jahrzehnte nicht mehr abwendbaren Verlusten von mehreren hunderttausend jungen Menschen pro Jahr wirtschaftlich bestehen zu können.

Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere

scipio africanus, Wednesday, 10.05.2006, 14:07 (vor 6532 Tagen) @ Rainer

Als Antwort auf: Re: Blick aus Frankreich auf die deutsche Misere von Rainer am 10. Mai 2006 01:06:

Frankreich intensivierte seine bereits seit Kriegsende betriebenen familien- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen mit Einfallsreichtum und Flexibilität. Schwerpunkte waren unter anderem die Vereinbarkeit der Berufstätigkeit der Frau mit der Kindererziehung und die massive Unterstützung von Familien mit drei und mehr Kindern. So konnte Frankreich seine heute im europäischen Vergleich günstige Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau aufrechterhalten.

Das wird immer wieder behauptet, dass nämlich die Unterstützung der Familien sowie die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ursächlich für die relativ hohe Geburtenrate verantwortlich sei.
Ich vermisse eine Statistik, welche die höheren Geburtenraten der ( vor allem ) nordafrikanischen Immigranten ausblendet. Diese Immigrantenfamilien gelten gemeinhin als patriarchale Gemeinschaften. Deshalb wäre eine Statistik ohne sie aufschlussreich und sinnvoll.
Mir scheint, dass Frankreich als Argument herhalten soll, um die politische Forderung nach Ganztageskinderstätten und ähnlichen Betreuungsangeboten zu unterstreichen.
Ich bin nicht grundsätzlich gegen solche Angebote, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern. Nur geht es hier um das Problem der tiefen Geburtenraten, und da wäre eine genaue Analyse angesagt, und nicht ideologisch motivierte Deutungen.

Wo findet man eine solche Statistik für Frankreich ?

Gruss Scipio

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