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Erstaunlich progressiv: Das Y-Chromosom ist fertig sequenziert

Rainer ⌂, Saturday, 16.01.2010, 00:39 (vor 5214 Tagen) @ Diego

Frankfurter Allgemeine Zeitungg
Freitag, 20. Juni 2003, Nr. 140
Seite 34, Feuilleton
Ehrenrettung für den Mann
Erstaunlich progressiv: Das Y-Chromosom ist fertig sequenziert

Von der unorthodoxen Perspektive des Genomikers aus gesehen, ist der Mann bisher eindeutig das bedauernswertere der beiden Geschlechter gewesen. Mehr noch: Von einem "degenerierten", ja "desolaten" Zustand neigten die Wissenschaftler zu sprechen, wenn die Rede auf das geschlechtsbestimmende Merkmal des Mannes - das Y-Chromosom im Zellkern - kam. Sämtliche der zweiundzwanzig anderen Genpakete des Menschen, und inssondere das andere Geschlechtschromosom, das X-Chromosom, gaben nicht nur im Blick durch das Mikroskop eine stattlichere Figur ab. Sie waren auch offenkung anders als das männliche Y-Chromovon einer phantastischen genetischen Reichhaltigkeit. Vom Y-Chromosom glaubte man hingegen zwischenzeitlich sogar, daß womöglich nur ein einziges Gen, das geschlechtsbestimmende "Sry", übriggeblieben ist. Während alle anderen Chromosomen im Zellkern einen entsprechenden Partner finden und in Körperzellen ein Paar bilden, was im weiblichen Körper selbst für das X-Chromosom gilt, bleibt das "männliche" Chromsom, von Ausnahmen abgesehen, stets Einzelgänger im Kern. Anders als die anderen, verfügt es demnach auch nicht über die Möglichkeit, den Defekt oder den Verlust eines Genabschnittes durch das entsprechende Gen auf dem Partnerchromosom auszugleichen.

Aus all diesen Erkenntnissen hat man ein zuweilen erbarmungswürdiges Bild vom Y-Chromosom gezeichnet. So kommt es, wenn man die Dinge allzu oberflächlich betrachtet. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Nature" (Bd. 423, S. 825) wird dieses verzerrte Bild nun zum Teil revidiert. Eine internationale Forschergruppe um David Page vom Whitehead-Institut in Cambridge hat das Y-Chromsom eines Mannes fast vollständig sequenziert und eine Reihe überraschender Eigenschaften zutage gefördert.

Dazu gehört die bemerkenswerte Anzahl an Genen. Verglichen mit anderen Chromosomen, wo im Schnitt etwa zehn Gene auf eine Million Bausteine des Erbmaterials (DNS) kommen, findet man im Y-Chromosom zwar gut zwei Drittel weniger Gene; aber doch erheblich mehr als erwartet: Mindestens 78 Gene hat man entschlüsselt, 27 darunter enthalten die Information für die Herstellung von Eiweißen. Eine Reihe davon, aber eben längst nicht alle, werden ausschließlich in den Zellen der Hoden benötigt. Ein gutes Dutzend der Y-Chromosom-Gene ist auch an zahlreichen anderen Orten, das Gehirn des Mannes eingeschlossen, aktiv. Das dürfte neuen Raum bieten für Spekulationen hinsichtlich der biologischen oder gar verhaltensbiologischen Unterschiede von Mann und Frau - Spekulationen aber eben bloß.

Handfeste Befunde lieferten die Forscher hingegen, was die Feinstruktur und damit die Geschichte des Y-Chromosoms angeht. Drei Bereiche lassen sich unterscheiden. Bis zu fünfzehn Prozent des mit Genen bestückten "Euchromatins" bestehen aus Sequenzen, die Teilen des X-Chromosoms fast vollkommen gleichen - Abschnitte offenkundig, die in den jüngsten Millionen Jahren vom X-Chromosom herübergewandert sind. Gut zwanzig Prozent ähneln ebenfalls, wenn auch deutlich weniger, bestimmten X-Chromosomabschnitten. Solche genetischen "Fossilien" sind lebende Zeugnisse der Chromosomenhistorie. Vor schätzungsweise 300 Millionen Jahren nämlich, als die sexuelle Vererbung entstand, hatte sich das Y-Chromosom offenkundig aus der Abwandlung eines X-Chromsoms entwickelt. Davor waren X und Y wie die anderen Genpakete gewissermaßen geschlechtslose Partnerchromosomen. Nun aber entfernte sich das Männlichkeitschromosom in Aussehen und Funktion. Der Genaustausch beschränkte sich auf immer weniger Abschnitte, zwischen X und Y entwickelte sich eine Art Wettbewerb.

Um sich in diesem Einzelkämpfertum vor fatalen Defekten zu schützen, hat nun das Y-Chromome eine eigene Methode entwickelt, mutierte Genabschnitte zu beseitigen: indem es mit sich selbst Genschnipsel austauscht. Der größte Teil seiner Gene liegt auf acht Paketen, die auf den beiden DNS-Strängen spiegelbildlich zu lesen sind - sogenannte Palindrome. Diese Anordnung erlaubt es dem Chromosom auf unkonventionelle Weise, Genschäden auf der einen Seite durch Looping-Bildung mit Hilfe des zweiten Gentextes auf der anderen Seite zu korrigieren. Not macht eben erfinderisch. Und plötzlich gehört der Mann zur genomischen Avantgarde.

JOACHIM MÜLLER-JUNG

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