Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Stammesreligion und Nazikeule (Gesellschaft)

Mus Lim ⌂, Wednesday, 12.09.2012, 04:39 (vor 4216 Tagen) @ Christine

Das Judentum als Stammesreligion

Es hat mich alarmiert, wie viele Juden in den Vereinigten Staaten versuchen, ihr Judentum zu leugnen, weil sie über die israelische Politik bestürzt sind, zu der etwa die Besetzung, die Praxis der Haft auf unbestimmte Zeit und die Bombardierung ziviler Ziele im Gazastreifen gehören. Diese Juden glauben irrtümlicherweise, dass der Staat Israel das Judentum unserer Zeit repräsentiert und dass man, wenn man sich als Jude begreift, Israel und seine Vorgehensweise zu unterstützen hat. Dabei hat es immer auch jüdische Traditionen gegeben, die sich staatlicher Gewalt widersetzten, ein multikulturelles Zusammenleben bejahten und die Grundsätze der Gleichheit verteidigten. Dieser zentrale ethische Traditionsstrang wird vergessen oder beiseitegeschoben, sobald Israel als Grundlage jüdischer Identität oder jüdischer Werte akzeptiert wird.

Auf der einen Seite also glauben Juden, die Israel kritisieren, womöglich, dass sie keine Juden mehr sein können, wenn Israel für das Judentum steht. Auf der anderen Seite setzen auch jene, die jeden Israelkritiker niederzuringen versuchen, Judentum und Israel gleich, was zu dem Schluss führt, dass der Kritiker antisemitisch oder, falls jüdisch, voller Selbsthass sein muss. Mein wissenschaftliches und öffentliches Bestreben ist es immer gewesen, diese Fessel abzustreifen.

Judith Butler irrt hier selbst, weil sie die Bedeutung des Dreiklanges "ein Volk, ein Land, einen Gott/Religion" außer Acht lässt, der aber für eine Stammesreligion wie dem Judentum von überragender Bedeutung ist.
Ohne diese Bedeutung gäbe es den Staat Israel überhaupt nicht. Die staatliche Souveränität war für die Juden schon seit über 2000 Jahren Geschichte. In der Zerstreuung erfand man dann das Konstrukt Diaspora, das zu einer fiktiven Heimat wurde. Darin eingeschlossen war die Überzeugung, der Glaube, dass Gott sie einst nach Palästina zurückführen werde, so wie es in der Tora (Bücher Mose) etwa mit der Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft beschrieben ist.

In 2000 Jahren haben sich Juden davon nicht lösen können und nun kommt eine Judith Butler daher und behauptet, es gäbe ein Judentum neben Israel. Auf so einen Gedanken kann nur jemand kommen, der dekonstruktivistisch denkt.

Etwa jemand, der auch das Mannsein und das Frausein leugnet, weil er das für konstruiert hält. Wenn so jemand auf die Idee kommt, dass auch der Israelbezug der Juden konstruiert sei, den man auch eben mal schnell dekonstruieren kann, verwundert nicht.

Die Nazikeule unter Juden

Das geht vielen so, die Israel kritisieren - man brandmarkt sie als Antisemiten oder gar als Helfershelfer der Nazis; eine Form der Anschuldigung, die dazu dienen soll, die beständigsten und giftigsten Formen von Stigmatisierung und Dämonisierung zu zementieren. Man nimmt den Kritiker ins Visier, indem man seine Worte aus dem Zusammenhang reißt und ihre Bedeutung auf den Kopf stellt. Man erklärt seine Auffassungen ohne Rücksicht auf deren Inhalt für nichtig.

Für unsereins, die wir ja auch mit der Nazikeule angegriffen werden und man uns ungeachtet des Inhalts dessen, was wir sagen, mit Stigmatisierung und Dämonisierung zu brandmarken versucht, ist es schon bemerkenswert, wie leidenschaftlich die Nazikeule auch unter den Juden geschwungen wird.

Der israelischen Regierung ist die Bedeutung des Staates Israels für die jüdische Religion natürlich bewusst und die nutzt das auch schamlos aus. Gerade deshalb kann sie die Juden in der Diaspora ja auch so hervorragend instrumentalisieren. Deshalb fällt es auch einem Zentralrat der Juden in Deutschland so schwer, kritische Worte für die israelische Regierung zu finden. Indem die israelische Regierung diese Besonderheit der jüdischen Stammesreligion nutzt, nimmt sie alle Juden weltweit in Sippenhaft.

Es ist falsch, absurd und schmerzlich, wenn irgendjemand behauptet, dass diejenigen, die Kritik am israelischen Staat üben, antisemitisch oder, falls jüdisch, voller Selbsthass seien. Man versucht, diejenigen, die eine kritische Auffassung vorbringen, zu dämonisieren und so ihre Sichtweise zu diskreditieren. Es handelt sich um eine Taktik, die darauf abzielt, Menschen zum Schweigen zu bringen: Was immer man sagt, es ist von vornherein abzulehnen oder so zu verdrehen, dass die Triftigkeit des Sprechakts geleugnet wird. Mit dieser Art von Vorwurf weigert man sich, die kritische Sichtweise zu erörtern, ihre Gültigkeit zu diskutieren, ihre Belege zu prüfen und zu einer vernünftig begründeten Schlussfolgerung zu kommen. Der Vorwurf ist nicht nur ein Angriff auf Menschen mit Ansichten, die manche verwerflich finden, sondern auch ein Angriff auf den vernünftigen Austausch an sich. Wenn eine Gruppe Juden eine andere Gruppe Juden als >antisemitisch« bezeichnet, dann versucht sie, das Recht, im Namen der Juden zu sprechen, zu monopolisieren. Der Vorwurf des Antisemitismus ist also in Wirklichkeit oftmals ein Deckmantel für einen innerjüdischen Streit.

Glücklicherweise ist Judith Butler selbst Jude und vor allem eine Frau, ein weißer, heterosexueller Mann hätte sich diese Kritik wohl kaum leisten können.

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