Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 1 - 20.06.2001 - 20.05.2006

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Thema am Rand

Andreas (der andere), Thursday, 28.08.2003, 17:20 (vor 7924 Tagen)

Hallo zusammen,

ein kleines Thema am Rande: Gestern abend lief auf ARD eine interessante Sendung unter dem Titel "Multiple Persönlichkeiten - Wahn der Therapeuten?" Vorgestellt wurden mehrere Frauen aus Deutschland und den USA, bei denen Therapeuten eine Dissoziative (Multiple) Persönlichkeit diagnostizierten und sie dann daraufhin "therapierten". Die Dokumentation ging auf die Vorgehensweise der Therapeuten ein, zeichnete die Entwicklung der Frauen während der "Therapie" nach und berichtete die Veränderungen, nachdem die Behandlung schließlich abgebrochen worden war.

Die Diagnose wurde meist gestellt, nachdem die Patientinnen unter dem Einfluß von Psychopharmaka und Hypnose "Bröckchen" der Erinnerung "wiedererinnert" hatten, die der Therapeut zu einem "verdrängten Mißbrauchsszenario" zusammensetzte. Dazu zeigte man Aufzeichnungen der originalen Hypnose-Sitzung, die die suggestive Vorgehensweise ziemlich deutlich entlarvte. (In etwa so - die Patientin sagt unter Hypnose und Medikamenten: "Ich erinnere mich an meinen Vater." Der Therapeut fragt: "Noch etwas?" Sie: "Ich weiß nicht. ... Da ist ein Tisch. Es ist hell." Er: "Sie erinnern sich an den Mißbrauch durch ihren Vater und ihren Onkel auf einem Tisch in einem hellen Raum ...?" usw.)

Nach der "wiederentdeckten" Mißbrauchserfahrung und der beständigen Konfrontation damit in der Therapie entwickelten die Frauen ein selbstverletzendes Verhalten, gaben ihre sozialen Kontakte auf und entwickelten ein absolutes Abhängigkeitsverhältnis von ihren Therapeuten. Doch es ging noch weiter - im Laufe der voranschreitenden Therapie "entdeckten" die Therapeuten noch viel mehr Schreckliches: Alle Frauen hatten in irgendeiner Weise Kontakt zu satanistischen Untergrund-Organisationen, in denen sie sowohl als Täterinnen als auch als Opfer an grausamen Sex-und-Mord-Ritualen teilnahmen. Eine Frau aus den Staaten, bei der über 300 verschiedene Persönlichkeiten diagnostiziert wurden, sei, obwohl selbst auch Opfer, u.a. gar Priesterin in einem dieser Zirkel, habe Menschen getötet und gegessen und ihre Kinder dazu angeleitet, wie man Menschen töte - und verzehre. Sie selbst war über Jahre in einer Klinik, aber auch ihre Kinder, fünf und vier Jahre, sperrte man ein, da man einmal "befürchtete", die Krankheit könne sich auf sie übertragen. Von der Mutter holte man allerdings das "Einverständnis", indem man ihr sagte, man "müsse ihre Kinder vor dem nächsten Halloween in die Klinik in Sicherheit" schaffen, da sie sonst "von den Satanisten gefangen und getötet" würden, vermutlich "gegessen", und dann habe sie "nicht einmal die Möglichkeit, sie zu beerdigen". - "Wenn man sich unter dem Einfluß von Medikamenten befindet und ein Arzt vor einem steht und dies mit dem Brustton der Überzeugung sagt, glaubt man ihm und gibt nach. Meine Kinder haben in ihrem Leben keinen Kindergarten gesehen", sagte sie später. - Eine Frau, deren Familie sehr religiös war, reiste nach Rom, wo der Papst ihren Sohn über die Absperrung nahm und ihn segnete. Die Fotos dieses Ereignisses deutete ihr Therapeut später als den Beweis, daß der Papst (!) ihren Sohn sexuell mißbraucht habe und - und jetzt kommt's - der Chef der Satanisten wäre (der Papst!). :-O

Den meisten Frauen ging es während der Therapie so schlecht, daß sie sie irgendwann abbrechen mußten. Die angebliche Menschenfresserin, Satanspriesterin, Kinder-zum-Kannibalismus-Verführerin und was sonst noch wurde, nachdem ihre Versicherungsgrenze von insgesamt neun Millionen US-Dollar (für sich un die Kinder) fast erreicht war, einfach entlassen - zusammen mit ihren Kindern. Keinerlei Bedenken trübten das nicht mehr finanzierten Psychiater-Gewissen ...

Natürlich klagte sie - und gewann, wie auch die anderen, deren Persönlichkeitsstörung, nachdem sie aus dem Dunstkreis ihrer Behandler entkommen waren, seltsamerweise sofort verschwanden (nicht jedoch die Depression, das Gefühl, um einen Teil des Lebens gebracht und benutzt worden zu sein). Man interviewte einen Anwalt, der sich auf derartige Fälle spezialisiert hatte und meinte, es gebe Hunderte davon. Man befragte auch einen Hypnotiseur und einen Psychiater, der Gutachten über den Geisteszustand von diesen Leuten anfertigte. Nicht einen Fall habe es bei ihm gegeben, bei dem die Multiple Persönlichkeit vor der Therapie selbst aufgetreten sei. Auch die Mißbrauchserfahrungen seien erst während der Therapie "wiederentdeckt" worden. Das Problem, so sein abschließender Kommentar, sei es, daß man glaube, "der Therapeut wisse mehr über einen als man selbst. Wenn man erst einmal bereit ist, das zu glauben, kann einem der Therapeut alles erzählen."

Der Grund, warum ich dachte, das Thema sei für dieses Forum von Interesse, liegt zu allererst natürlich darin, daß die in diesen Therapien gefundene Mißbrauchserfahrungen alle fabuliert waren. Eine (wirklich sehr begabte) deutsche Malerin, die sich unter der Therapie fast umgebracht hatte, hatte nur noch Bilder ihrer Mißbrauchserfahrung (durch ihren Vater) gezeichnet. Als sie sich von dem Therapeuten trennte und erkannte, daß sie in keiner Weise so etwas wie "multipel" war, fiel ihr auch auf, daß die Mißbrauchserfahrungen, an die sie sich erst unter der Hypnose "erinnert" hatte, rein zeitlich gar nicht möglich gewesen sein konnten. Was ihr blieb, war die Wut - und eine Klage gegen den Therapeuten. Aus einigen Büchern, die ich vor ein paar Jahren zu diesem Thema gelesen habe, weiß ich zumindest, daß es wirklich so eine Art Besessenheit von sexuellem Mißbrauch, meist in Verbindung mit satanistischen Ritualen und Geheimorganisationen gibt. Nicht zu Unrecht bezeichneten die Macher der Sendung diese Arbeit als modernen Exorzismus. Der Umstand, daß bisher alle FBI-Untersuchungen in diese Richtung zu keinen beweiskräftigen Ergebnissen führten, ist für die Anhänger der Satanisten- übernehmen-die-Weltherrschaft-These eher ein ihre Ansichten stützendes Argument: Daß das FBI nichts finde, beweise im Gegenteil ihre Verwicklung in die Sache. (Überhaupt hängt die halbe Gesellschaft mit drin - ein sehr "schönes" Beispiel ist: "Vater unser in der Hölle" von Ulla Fröhling.) - Robert Anton Wilson hätte vor Vergnügen in die Hände geklatscht - vermutlich 23 mal ...

Um es klar zu stellen: Ich will damit auf keinen Fall gesagt haben, es gäbe keinen sexuellen Mißbrauch, man solle den in einer Therapie "wiederentdeckten" verdrängten Erinnerungen prinzipiell keinen Glauben schenken oder Gewalterfahrungen, wenn sie zu grotesk und unvorstellbar sind, gehörten in das Reich der Märchen. Was aber auf jeden Fall immer ein Punkt skeptischen Abwägens bleiben sollte, ist die Aussagekraft von psychologischen Gutachten und Urteilen. Als Erkenntnisquelle sind sie keinesfalls so sicher, wie wir durch die darüber gehaltenen Diskurse zu glauben aufgefordert sind. Im Hinblick auf die Bedeutung, die die durch Therapeuten und -innen wiederentdeckten Mißbrauchserfahrungen aber in Prozessen, Wildwasser-Aktionen oder dem allgemeinen öffentlichen Bewußtsein einnehmen, kann es nur vorteilhaft sein, sich damit wissenschaftskritischer auseinanderzusetzen.

Nichts neues für die, die sich schon ein Weilchen damit beschäftigen vermutlich.

Freundliche Grüße, Andreas


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