Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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"Aber ich erinnere mich doch!"

Odin, Thursday, 31.03.2005, 16:20 (vor 7568 Tagen)

"Aber ich erinnere mich doch!"

Fotos aus der Kindheit dienen in Therapien als Gedächtnisstütze. Dass sie nicht unbedingt die Wahrheit zutage fördern, zeigt eine aktuelle Studie

Seit über 70 Jahren trauen Gedächtnisforscher nicht mehr so recht der menschlichen Erinnerung. Bereits frühe Studien wiesen nach, dass beim Nacherzählen von Geschichten Abläufe vereinfacht oder verdreht werden. Es gilt als gesichert, dass die menschliche Erinnerung als "rekonstruktiver Prozess" anfällig ist und nicht immer der Wahrheit entspricht. Dies erschwert die therapeutische Suche nach verdrängten Erinnerungen.
Wenn traumatisch Verborgenes, wie etwa sexueller Missbrauch, aufgedeckt werden soll, lassen manche Traumatherapeuten Patienten deren Familienalben betrachten, um lang Vergessenes ernporzuholen. Der Nutzen einer solchen Rückschau wird vorn kanadischen und neuseeländischen Team um Stephen Lindsay jedoch stark angezweifelt: Da Fotos durch ihren lebendigen Detailreichtum wahrheitsgemäß erscheinen, können sie bei entsprechendem "Ansporn" Pseudoerinnerungen hervorrufen.
Lindsay befragte 45 Psychologiestudenten (in der Mehrzahl Frauen), die sich an Ereignisse aus ihrer frühen Schulzeit erinnern sollten. Darunter waren zwei wahre Begebenheiten, die von den Eltern der Studenten als schriftliche Erzählungen zur Verfügung gestellt worden waren, sowie ein Pseudoereignis (das also nie stattgefunden hatte). Dieses handelte davon, dass die jeweilige Schülerin "Slime" (eine glibbrige Masse, die auch in Deutschland vor Jahren als Spielzeug gern gekauft wurde) im Pult des Lehrers versteckt hatte.
Die drei Ereignisse wurden den Probanden vorgelesen, mit der Aufforderung, sich an möglichst viel zu erinnern, wobei die Interviewer geleitete Vorstellungen und andere Gedächtnishilfen einsetzten. Der Hälfte der Studenten wurde zusätzlich ein echtes Klassenfoto von damals vorgelegt. Die Probanden schätzten den Grad des Erinnerns und Wiedererlebens ein sowie das Vertrauen in die Nacherzählung.
In einer zweiten Phase wurden die Studenten noch einmal befragt, nachdem sie sich einige Tage zu Hause weiter erinnern sollten. Wie von den Forschern vorausgesagt, war die Rate der falschen Erinnerungen deutlich höher, wenn Fotos vorgelegt wurden, nämlich doppelt so hoch als wenn nur verbale Erinnerungshilfen gegeben wurden, und höher als in allen vorherigen Studien. Zwei Drittel der Probanden mit Fotovorlage erinnerten sich zu Unrecht an den angeblichen Lehrerstreich. Zudem waren ihre Einschätzungen der Erinnerungsstärke und Glaubwürdigkeit des Ereignisses sehr hoch. Die Forscher erklären sich dies mit dem "zwingenden" Charakter von Fotos, die zu weiteren bildhaften Vorstellungen und Spekulationen über das Geschehene anregen. Auch bloße Vorstellungen können dadurch zu Pseudoerinnerungen führen.
Die Studenten, die dachten, ihrem Lehrer in der ersten Klasse "Slime" untergeschoben zu haben, waren nachträglich oft sehr überrascht: "Das gibts nicht! Ich erinnere mich doch!' Zwar sind die Ergebnisse laut Lindsay nicht unbedingt auf . den Bereich sexuellen Missbrauchs übertragbar; doch er warnt vor dem Aufdecken von Missbrauchsverdächtigungen mithilfe alter Fotoalben.

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