Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Bei den Grünen ist das genauso!

Garfield, Monday, 08.08.2005, 18:04 (vor 7039 Tagen) @ Magnus

Als Antwort auf: Re: Bei den Grünen ist das genauso! von Magnus am 07. August 2005 16:25:50:

Hallo Magnus!

Man muß das alles im historischen Kontext sehen. Das "Manifest der Kommunistischen Partei" wurde 1848 veröffentlicht. Zu der Zeit gab es noch gar kein allgemeines Wahlrecht. Erst nach den Aufständen von 1848/49 bequemte man sich in den deutschen Staaten dazu, nach und nach ein zunächst noch eingeschränktes allgemeines Wahlrecht einzuführen. Das preußische Klassenwahlrecht beispielsweise galt ab 1849.

Als Marx also dieses Manifest geschrieben hat (Dezember 1847-Januar 1948), gab es für das einfache Volk de facto keine Möglichkeit, auf gewaltlosem Wege irgendetwas mitzubestimmen. Auch das eingeschränkte allgemeine Wahlrecht konnte nur mit Gewalt durchgesetzt werden. Hätte man überall darauf verzichtet, dann hätten wir heute noch überall Monarchien und nirgends ein Wahlrecht.

Und auch Mao und die chinesische "Kulturrevolution" muß man im historischen Kontext sehen. China war damals ein unterentwickeltes Land, das aber allein durch seine Bevölkerungszahl und seine geographische Ausdehnung ein großes Wachstumspotenzial hatte. China war zwar mit der Sowjetunion verbündet, aber die Sowjetunion befand sich zu der Zeit in einer ganz anderen Entwicklungsphase. Dort war (auch mit deutscher Technologie) mittlerweile viel erreicht worden. Man war den führenden westlichen Industriestaaten Mitte der 1950er Jahre auf einigen Gebieten durchaus voraus, beispielsweise bei der Raketentechnologie und damit auch auf dem Gebiet der Raumfahrt. Man hatte dort also viel erreicht, und so bemühte man sich trotz der Differenzen mit dem Westen doch um eine mehr konservative Politik.

In China dagegen wollte man erst noch viel erreichen, und dafür war man auch bereit, einen aggressiveren Kurs zu fahren. Der sowjetischen Führung war das unbequem, und allein deshalb verweigerte man den Chinesen zunächst auch die modernste Rüstungstechnologie, vor allem Langstreckenraketen und Atomsprengköpfe. Lästig war den Sowjets auch, daß die Chinesen zunehmend die Führungsrolle in den Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas beanspruchten, mit dem Argument, daß diese Länder aufgrund ihres Entwicklungsstandes den sowjetischen Weg nicht gehen könnten und stattdessen den chinesischen Weg gehen müßten. Die Chinesen entwickelten die Lehren von Marx, Engels und Lenin in ihrem Sinne weiter, und sie bestanden darauf, daß Mao in einer Reihe mit Marx, Engels und Lenin zu nennen sei. Im Vorwort der zweiten Auflage der 1967 erstmals veröffentlichten "Mao-Bibel" hieß es dazu: "Genosse Mao Tse-tung ist der größte Marxist-Leninist unserer Zeit. In genialer, schöpferischer und allseitiger Weise hat Genosse Mao Tse-tung den MarxismusLeninismus als Erbe übernommen, ihn verteidigt und weiterentwickelt; er hat den Marxismus-Leninismus auf eine völlig neue Stufe gehoben."

Es gab dann schon in den 1950er Jahren wilde Experimente, um den technologischen Rückstand des Landes aufzuholen oder zumindest irgendwie auszugleichen. So hielt man Bauern dazu an, sich kleine Schmelzöfen zu bauen, um Metall verarbeiten zu können. Damit wollte man allen Ernstes große Fabriken ersetzen. Überhaupt versuchte man, die fehlende industrielle Basis durch Masseneinsatz von Arbeitskräften auszugleichen. Natürlich erlebte man dabei einen Mißerfolg nach dem anderen.

Trotzdem erregte dieser eigene chinesische Weg großes Interesse in den europäischen Ostblockländern und sogar in den westlichen Industriestaaten. In den Ostblockländern hoffte man, daß China in Zukunft ein Gegengewicht zur Übermacht der Sowjetunion bilden würde. Und weite Verbreitung fand ab Ende der 1960er Jahre die "Mao-Bibel" in linken Kreisen in den westlichen Industriestaaten. Wer nämlich mit der Sowjetunion sympatisierte, setzte sich immer dem Vorwurf aus, Stalins Machenschaften, von denen ja schon einiges bekannt war, zu befürworten. Über die Opfer von Maos Politik war aber noch kaum etwas bekannt. So schien der chinesische Weg tatsächlich der bessere zu sein.

Überhaupt war gerade sehr radikalen Linken die chinesische Konfrontationspolitik lieber als die mittlerweile zunehmend konservative Politik der Sowjetunion. Die Chinesen behaupteten, die USA und ihre Verbündeten wären nur "Papiertiger", die mit ihren bürgerlichen Systemen, in denen sich alles nur um Profit drehen würde, gar nicht fähig wären, einen Krieg gegen ein bevölkerungsreiches Land wie China zu führen. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen mit sowjetischen Politikern, die vergeblich versuchten, den Chinesen klarzumachen, was ein Weltkrieg mit Atomwaffen bedeuten würde. So erschien radikalen Linken die Sowjetunion als schwach und feige, während die Chinesen offensichtlich bereit waren, die "kommunistische Weltrevolution" mit allen Mittel voranzutreiben. Daß sie sich ihren aggressiven Kurs nur durch den Schutz sowjetischer atomarer Langstreckenraketen leisten konnten, wurde nicht bedacht.

Die Chinesen holten dann zwar langsam auf und wurden dabei (und natürlich auch durch Maos Mißerfolge) auch wieder gemäßigter in ihrer Politik. Trotzdem hielten viele radikale Linke im Westen der "Mao-Bibel" weiterhin die Treue. Offensichtlich gefiel sie ihnen einfach besser als die Bücher von Marx oder Engels.

Freundliche Grüße
von Garfield


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