Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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MANNdat an Bundespräsident - offener Brief

Eugen, Thursday, 03.11.2005, 03:36 (vor 6952 Tagen)

MANNdat-Schreiben vom 01.11.05

Bundespräsidialamt
Spreeweg 1
10557 Berlin

Betr.: Situation von Jungen und Väter in Deutschland

Anlage: Bericht über die Situation von Jungen und Männern in Deutschland im Ländervergleich

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

am 3. November ist Internationaler Männertag. Wir möchten Sie deshalb aus diesem Anlass anschreiben und für Jungen und Väter eine Lanze brechen.

Jungen haben heute eine geringere Bildungsbeteiligung und ein geringeres Bildungsniveau als Mädchen. Trotzdem werden sie aus bildungspolitischen Maßnahmen, wie dem Zukunftstag, in fast allen Ländern und beim Bund ausgeschlossen. Die PISA-Studie legte schon im Jahr 2000 dar: „Diese Ergebnisse zeigen, dass die schwachen Leistungen der Jungen in den meisten OECD Staaten eine ernste bildungspolitische Herausforderung darstellen, der besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, um den Anteil der Schülerinnen und Schüler auf dem untersten Leistungsniveau zu verringern.“ Bis heute stellt sich Deutschland dieser bildungspolitischen Herausforderung nicht. Die Bildungsministerien von Bund und Ländern bieten im geschlechtsspezifischen Förderbereich nach wie vor nahezu ausschließlich Mädchenprojekte an.

Obwohl schon die Shell-Jugendstudie 2000 darlegte, dass gerade männliche ausländische Jugendliche einen größeren Pessimismus gegenüber der Zukunft haben als weibliche, wurde im Jahr 2004 mit der Studie "Viele Welten leben" eine Studie verfasst, die sich ausschließlich mit der Lebenssituation weiblicher Migrantenjugendlicher befasste, die männlichen Migrantenjugendlichen blieben außen vor.

In der Vergangenheit hat sich die Politik bemüht, die Zukunftsperspektiven von Mädchen zu verbessern. Dies war richtig und ist auch immer noch richtig. Bei diesem Engagement hat die Politik die Situation der Jungen jedoch aus den Augen verloren. Ein geschlechtsspezifisch differenzierter Blick macht deutlich, dass sich unsere Gesellschaft auch tief greifend damit befassen muss, wie unsere Jungen aufwachsen und welche Zukunftsperspektiven ihnen offen stehen. Es geht nicht mehr nur um die Glaubwürdigkeit von Geschlechterpolitik, es geht vor allem um die Zukunftsfähigkeit von Jungen.

Nicht die Jungen sind das Problem, wir sind das Problem. Bei unserem Gleichstellungsbemühen mit Konzentration auf die Mädchen haben wir übersehen, dass Mädchen und Jungen unterschiedliche, geschlechtstypische Ausdrucks- und Kommunikationsweisen besitzen. Wir versäumen immer mehr, uns mit der Gefühlswelt unserer Jungen auseinander zu setzen. Statt dessen bemühen wir uns, die Fakten zu verharmlosen und zu relativieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden ideologisch interpretiert und Jungen attestiert, sie wären biologisch nun einmal dümmer als Mädchen.

Im Jahr 1985 ließ Marianne Grabrucker, eine damals vielzitierte Autorin, verlauten: „...die Anerkennung der Mädchen kann nur auf Kosten der kleinen Buben geschehen.“ Ein Jahr später steht in EMMA: „Wenn wir wirklich wollen, dass es unsere Töchter einmal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen.“ Heute, etwa 20 Jahre später sind die Aussagen nicht mehr so radikal, dafür haben sie - zumindest teilweise -Einzug in Politik und Wissenschaft gefunden. Nicht ohne Grund sind geschlechtsspezifische Bildungsmaßnahmen trotz der bekannten Bildungssituation derzeit auf Mädchen beschränkt. Selbst das Pilotprojekt „Neue Wege für Jungs“ wird vom Bundesbildungsministerium nach unserer Kenntnis derzeit nicht unterstützt. Jungenspezifische Maßnahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz sind auch 5 Jahre nach PISA nicht vorgesehen.

Die Jungenkrise ist insofern weder überraschend noch ungewollt sondern in gewissem Umfang politisches Kalkül. Gegen dieses als „positive Diskriminierung“ verharmloste Vorgehen haben wir erhebliche ethische und moralische Bedenken, nimmt sie doch bewusst die Zunahme der Perspektivlosigkeit der Jungen – mit all ihren Konsequenzen – leichtfertig in Kauf. Die männliche Jugendarbeitslosenquote ist derzeit etwa 40% höher als die weibliche, Tendenz steigend. Zudem schöpft Deutschland als ein Land, für das Bildung eines der wichtigsten volkswirtschaftlichen Faktoren darstellt, das Bildungspotential von Jungen aus Gründen einer falsch verstandenen Gleichstellungspolitik nicht aus. Nach wie vor gilt die politische Doktrin, dass es eine Benachteiligung von Jungen/Männern nicht geben kann und somit eine Schlechterstellung von Jungen lediglich ein Maß für die Güte von „Gleichstellung“ wäre.

Wir bürden den Jungen die Pflichten der archaischen Männerrollenbilder auf und weisen ihnen gleichzeitig immer mehr Pflichten alter weiblicher Rollenbilder zu, ohne ein aufrichtiges Verständnis für ihre Situation und durchaus realen Zukunftsängste aufbringen zu wollen.

Echte Alternativen bieten wir ihnen nicht. Die zunehmende Rechtlosigkeit der Väter im Familienrecht in Deutschland lässt einen Weg in die Erziehung im privaten Bereich nur unter erschwerten Bedingungen zu.

Wenn von Vereinbarkeitsproblemen von Familie und Beruf geredet wird, redet man nahezu ausschließlich von Müttern. Dass auch Väter ein solches Vereinbarkeitsproblem haben könnten, ist deutschen Politiker- und Politikerinnen meist unverständlich. Die berühmten 40% kinderlosen Akademikerinnen sind allen bekannt, die 51% kinderlosen männlichen Akademiker nicht.

Es gibt immer mehr Väter, die ihre Kinder erziehen wollen, aber nicht dürfen, weil deutsches Recht es ihnen verbietet. Immer mehr Väter müssen bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und bekommen dort Recht. Ein Recht allerdings, das ihnen in Deutschland wenig nützt, weil deutsche Gerichte und deutsche Familienpolitik nicht bereit sind, dieses Menschenrecht anzuerkennen. Man will Männer mehr in die Erziehungspflicht nehmen, ihnen die gleichen Rechte jedoch vorenthalten. Eine gleichberechtigte Partnerschaft haben Jungen später so nicht zu erwarten.

Im beruflichen Bereich gibt es keine Integrationsfördermaßnahmen von jungen Männern in erzieherische, pädagogische oder soziale Berufe. „Gleichberechtigungsgesetze“ fördern lediglich die berufliche Integration von Frauen. 49% Frauenanteil ist diskriminierend. 5% Männeranteil (z.B. im Erziehungsbereich) nicht. Glaubwürdig ist solch eine Geschlechterpolitik nicht.

Der in Deutschland erkennbare, fortschreitende Empathieverlust für Jungen spiegelt sich auch in anderen Bereichen wieder. Immer mehr Menschenrechts- und Jugendhilfsorganisationen schließen Jungen aus ihren Aktionen aus oder berücksichtigen sie nur nachrangig. Wir haben gelernt, dass Menschenrechte unteilbar wären. Heute gibt es eine dicke Mauer die Menschenrechte für männliche Mitmenschen und Menschenrechte für weibliche Mitmenschen teilt. Eine Mauer, die auch von Menschenrechts- oder Jugendhilfsorganisationen mitaufgebaut wird.

Wir im westlichen Europa leben in einer Region, für die Kinderarbeit heutzutage kein Thema mehr ist. Dies macht uns oft blind für das Ausmaß der Kinderarbeit in Ländern der Dritten Welt und damit auch blind für das Elend, das mit dieser Kinderarbeit verbunden ist. In vielen Familien werden vorzugsweise Jungen schon als kleine Kinder zu gefährlichen Arbeiten geschickt um Geld zu verdienen - nicht für sich, sondern für die Familie. Diese Arbeiten sind oft gesundheitsgefährlich, wenn nicht sogar tödlich – je gefährlicher, desto besser bezahlt. Arbeitsschutz wie bei uns gibt es dort nicht. Da werden Jungen in Erzbergwerke schickt, in denen ihre physische und psychische Gesundheit nach kurzer Zeit ruiniert ist, wenn sie nicht gar bei einem der häufigen Unglücke gleich ganz ums Leben kommen oder es sich selbst nehmen. In Druckerein oder Gerbereien müssen Jungen tagtäglich völlig bedeckt mit schwermetallbelasteter Druckerschwärze oder ätzenden Gerbchemikalien hantieren. Dies wird ihnen als Privileg ausgelegt.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO legt in Ihrem Weltbericht – Welt und Gesundheit – von 2002 dar: „Männer machen zwei Drittel aller Opfer von Tötungsdelikten aus, .... Am häufigsten waren Tötungsdelikte überall auf der Welt unter jungen Männern der Altersgruppe 15–29 Jahre. Dort lag die Rate bei 19,4 pro 100 000 ... Bei Frauen beträgt die Rate dagegen in allen Altersgruppen ungefähr 4 pro 100 000, mit Ausnahme der 5–14-Jährigen, wo sie bei etwa 2 pro 100 000 liegt“.

Trotz dieser Lage wird Gewalt gegen Jungen, männlichen Jugendlichen oder Männern von Politikerinnen und Politiker aber auch nichtstaatlichen Organisationen tabuisiert und ignoriert. Damit wird nicht nur der Legitimierung der Gewalt an männlichen Mitmenschen Vorschub geleistet. Schlimmer ist, dass damit schon Jugendlichen suggeriert wird, Gewalterfahrung gehöre unabdingbar zum Männlichkeitsbild - auch in der „zivilisierten“ Welt.

In Sebrenicza wurden während des Bürgerkrieges fast alle männlichen Einwohner, Männer, Jugendliche und Kinder, erschossen - nur weil sie männlich waren. In allen Kriegen gibt es solche Gendercide gegen männliche Mitmenschen. In Ruanda ist die männliche Bevölkerung dadurch radikal geschrumpft. Diese Toten sind tabu in der Gewaltopferdebatte.

Wer Gewalt verurteilt und bei diesem Urteil eine Trennlinie zwischen männlichen und weiblichen Gewaltopfern zieht, ist unglaubwürdig.

In vielen Ländern der Dritten Welt wird Jungen eine Waffe in die Hand gedrückt und macht sie zu Kindersoldaten. Kindersoldaten sind Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen. Die Rekrutierung und der Kampfeinsatz von Kindern werden international geächtet. Trotzdem gelten Zwangsrekrutierung oder die begründete Angst davor in Deutschland nicht als asylrelevant – auch nicht bei minderjährigen Kindersoldaten von vielleicht höchstens 15 Jahren. Dies ist beschämend.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, wir bitten Sie, die politisch Verantwortlichen eindringlich auch auf ihre Verantwortung gegenüber den Jungen, deren Situation und deren Zukunftsperspektiven hinzuweisen und sich dafür einzusetzen, dass Bildungsniveau und die Bildungsbeteiligung in Deutschland nicht zunehmend vom Geschlecht abhängen darf.

Wir bitten Sie, die Verantwortlichen nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass Verharmlosung von Gewalt gegen Kinder nicht tolerabel ist, auch wenn diese Kinder männlichen Geschlechts sind. Auch die Zwangsrekrutierung von Jungen ist Gewalt gegen Jungen und muss als solche von der deutschen Politik gesehen und benannt werden.

Wir bitten Sie weiterhin, sich dafür einzusetzen, dass im Erziehungsbereich sowohl im Beruf als auch privat, die Integration von jungen Männern, egal ob als Erzieher, Pädagoge oder Vater unterstützt wird.

Für eine Rückantwort wären wir Ihnen dankbar.

Mit freundlichen Grüßen

MANNDAT e.V. - Geschlechterpolitische Initiative
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