Kinder in Deutschland ...
Das Haus der verlorenen Kinder
An der Tür ist kein Schild, und sie machen auch nicht jedem auf, denn sie müssen die drinnen schützen vor ihren Eltern
Von Constanze von Bullion
Es gibt Eltern, die ihre Kinder lieben. Es gibt Eltern, die ihre Kinder nicht lieben können. Und es gibt welche, die es trotzdem versuchen. Das können manchmal die gefährlichsten sein.
Bei den Eltern von Ralf zum Beispiel ist es so, dass sie gar nicht verstehen können, was so schlimm sein soll an ein paar Tieren in der Wohnung. Jennys Mutter sagt, dass sie nur aufpassen wollte auf ihre Tochter. Irgendwann muss endlich Schluss sein mit den alten Geschichten, sagt die Mutter von Natascha. So ein paar Narben können doch wieder verheilen.
Am Stadtrand von Berlin steht unter alten Bäumen ein Haus, es fällt nicht weiter auf, und an der Haustür steht kein Name. Die Tür wird nicht für jeden aufgeschlossen, aber abgeschlossen wird sie immer. Neun Kinder leben hinter der Tür, das jüngste ist vier, das älteste 16 Jahre alt, und wer nicht weiß, was sie hinter sich haben, könnte sie für eine muntere Wohngemeinschaft halten. Durch die Küche flitzen zwei halbstarke Mädchen, im Keller spielen Teenager Tischfußball, und in den Zimmern unterm Dach sieht es aus, als tobte hier öfter mal eine Schlacht.
Es gibt eben Dinge, die nicht so leicht in Ordnung zu bringen sind in diesem Haus, das von der Kinderwohngruppe Neuhland bewohnt wird und ein Ort ist, an dem junge Leute Zuflucht finden: vor Eltern, die sie verkommen und verkümmern lassen, die sie schlagen, vergewaltigen, zum Wahnsinn treiben. Wer hier lebt, gilt als vernachlässigt oder schwer traumatisiert, wollte mal sterben oder kam fast um vor Kälte. Die Kinder von Neuhland, das sind sozusagen die, von denen man jetzt so oft in der Zeitung liest.
Alle paar Tage werden in Deutschland Kinder entdeckt, die von ihren Eltern gehalten wurden wie lästige Köter, die verwahrlosen oder misshandelt wurden. Allein in Berlin flogen in vier Wochen sieben Fälle auf: Da waren drei Geschwister, die in Lumpen aus den Müll- und Hundehaufen einer ungeheizten Wohnung in Lichtenberg geholt wurden. Da tauchte ein halb tot geschütteltes Baby in Marzahn auf, eine Elfjährige in einem Dreckloch in Reinickendorf, zwei Jungs in einer Gammelwohnung in Spandau.
Berlin, so glauben viele, ist die Hauptstadt der Kinderquäler, mit 398 entdeckten Kindesmisshandlungen und 93 Fällen grober Vernachlässigung lag die Stadt 2004 weit vor allen anderen deutschen Großstädten. Ganz so einfach aber ist es nicht. Die Berliner Polizei zum Beispiel ist stolz auf diese hohe Zahl, denn hinter jedem Fall, so heißt es, verbirgt sich ein gerettetes Kind. Als einziges Bundesland besitzt Berlin ein Polizeidezernat für Delikte an Schutzbefohlenen. Da gibt es Fotos von verbrühten Babys, von halb verhungerten, wunden Leibern oder diesem Kinderbett, das ein handwerklich begabter Vater zugenagelt hat wie einen Sarg.
Wer mal so lebendig begraben war, der hat Glück, wenn er überlebt und irgendwie rauskommt. Nur, dass das Rauskommen allein nur der allererste Schritt ist.
Als Ralf vor der Haustür der Kinderwohngruppe Neuhland stand, da war er fünf Jahre alt, konnte kaum sprechen und war so dürr wie ein Vögelchen. Polizisten hatte ihn in der Wohnung seiner Eltern aufgestöbert, ein Häuflein Elend. Ralf schwieg und blieb und begann zu lernen, dass große Menschen nicht immer betrunken sind, dass man Unterhosen wechseln kann und nicht alles Essbare auf der Stelle in den eigenen Mund muss, bevor es in einem fremden verschwindet.
Eines Tages fing Ralf an zu schreien, außer sich vor Angst und in höchster Not. Er hatte im Bad eine Spinne entdeckt. Ralf brüllte auch, wenn er Fliegen sah, Käfer und anderes Krabbelzeug. Seine Betreuer wissen nicht genau, was so alles gekrabbelt ist durch die Wohnung der Eltern. Nur, dass es da Reptilien gab und Insekten, die sich wohl freier bewegen durften als er. Nach Monaten bei Neuhland ist Ralf mal wieder zu Hause gewesen. Er hat die Jacke lieber angelassen und ist nicht mal runter vom Schoß seiner Betreuerin.
Anja Lilienweiß ist eine nette, große Person, die nicht wirkt, als könnte sie so schnell etwas umwerfen. Seit neun Jahren leitet die 37-Jährige die Kinderwohngruppe Neuhland, die vom Jugendamt unterstützt und vom Verein Hilfen für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche getragen wird. Fast jeden Tag hört sie Geschichten, die als Drehbücher für Horrorfilme taugen würden, aber sie versucht, die extremen Bilder innerlich beiseite zu schieben. Was war, bespricht jedes Kind mit seinem Therapeuten. Was wird, das ist Sache der Betreuer.
Bis ein Kind es nämlich schafft, seinen Alltag zu meistern, regelmäßig in die Schule zu gehen, ein Zimmer aufzuräumen, nachts nicht mehr zu toben und keine Türen einzutreten, vergehen oft Jahre. Manche Schützlinge des Hauses brechen innerlich auseinander, sobald sie nicht mehr mit Drohungen in Schach gehalten werden. Andere wurden zum Schmusen abgerichtet und lernen nur widerwillig, dass ihre Betreuer das nicht mögen. Viele haben keine Ahnung, wie Vertrauen sich anfühlt. Und fast alle packt irgendwann die Sehnsucht nach denen, die sie so fest in der Hand gehabt haben.
Die Mutter von Jenny ist keine dumme Frau, im Gegenteil. Sie hat studiert, viel gelesen und kann so gut reden, dass die Ärzte ihr alles gegeben haben, was sie wollte. Pillen, Geräte, Behandlungen für ihre kranke Tochter. Gutachten über die schwere Immunschwäche des Kindes. Schließlich einen Behindertenausweis und die Bestätigung, dass das Mädchen ein Pflegefall war. Jenny, die wie alle Kinder dieser Geschichte in Wirklichkeit anders heißt und Neuhland schon verlassen hat, fühlte sich richtig elend damals, hatte oft Fieber, musste dauernd liegen.
Es war nicht leicht für die Betreuer der Kinderwohngruppe, dem Mädchen klar zu machen, dass eigentlich nicht es selbst schwer krank war, sondern seine Mutter. Was sie ihrer Tochter angetan hat, ist eine seltene, manchmal tödliche Form der Misshandlung, bei der Eltern ihrem Kind Krankheiten andichten, Gebrechen vortäuschen oder maßlos übertreiben. Sie provozieren qualvolle Odysseen durch immer neue Kliniken, und Jennys Mutter erreichte noch mehr: dass ihr Kind die Charlottenburger Wohnung kaum noch verließ, sich den Viren ergab und dieser Mutter, der sie jetzt ganz allein gehörte.
Natürlich hat Jennys Mutter gekämpft, als ein Richter ihr das Sorgerecht entzog. Sie wies es weit von sich, schuld daran zu sein, dass ihre Tochter jedes Gefühl für den eigenen Körper verloren hatte und kaum zu wissen schien, wer sie war. Fragte jemand Jenny, ob sie ein Brot essen wollte, antwortete sie nur: Wie du willst. Bot ihr jemand eine Fanta an, sagte sie: Wie du meinst. Rief ihre Mutter in der Wohngruppe an, ließ sie sie reden und reden und sagte zu allem Ja.
Es ist kein Geheimnis in diesem Projekt, dass die Elternarbeit nicht das Arbeitsgebiet ist, auf dem hier die größten Erfolge erzielt werden. Fast alle Eltern streiten jede Mitschuld am erbärmlichen Zustand ihrer Kinder ab, begreifen nicht, dass sie es sind, die sich ändern müssen, und arbeiten oft fieberhaft daran, die alten Machtverhältnisse wiederherzustellen. Täterstrategien nennt Anja Lilienweiß die tausend Tricks, mit denen Angehörige verhindern wollen, dass ihre Kinder hier im Haus Wurzeln schlagen.
Mama wird krank, wenn du nicht heimkommst, heißt es dann zum Beispiel. Papa trinkt wieder, weil er so traurig ist. Solche Botschaften werden durchs Telefon geflüstert, auf kleinen Zettelchen in Geschenken versteckt oder diskret hinterlassen, wenn Eltern und Kinder sich nach Monaten der Trennung auf neutralem Boden treffen dürfen. Kaum ein Kind ist dann in der Lage, sich solchen Liebeserklärungen zu entziehen.
Natürlich ist es legitim, dass Väter und Mütter kämpfen um ihre Kinder, und es gibt Fälle, in denen Eltern zu Unrecht einer Misshandlung beschuldigt wurden. Viel häufiger aber sind die Fälle, in denen die strafrechtliche Verfolgung eingestellt wird, weil nichts zu beweisen ist. In der Kinderwohngruppe Neuhland leben ausnahmslos junge Leute, die an Körper oder Seele schwer verletzt wurden. Aber es gibt niemanden hier, dessen Eltern vor Gericht dafür zur Verantwortung gezogen wurden.
Katharina war zwölf Jahre alt, als einer Lehrerin auffiel, dass sie in ärmlichen Kleidern herumlief und immer öfter in der Schule fehlte. Irgendwann vertraute das Kind ihr an, dass es im Bett der Mutter nicht mehr in der Mitte schlafen wollte. Katharinas Mutter gab schließlich zu, sie habe sich angewöhnt, ihre Tochter im Ehebett zwischen sich und ihren Freund zu legen. Er hatte die Mutter immer wieder vergewaltigt, und als sie nicht mehr konnte, schob sie ihm die Tochter hin.
All das konnte natürlich nie bewiesen werden, Katharina aber wurde trotzdem rausgeholt von zu Hause. Als sie bei Neuhland landete, da gehörte sie zu den Pflänzchen, die schnell aufblühen in diesem Klima der Sicherheit. Nur, dass es auf Dauer eben keine Sicherheit gibt vor dem Unkraut im eigenen Kopf. Als ihr Körper erwachsen wurde, brach diese Bilderflut wieder über sie herein und mit ihr die Erinnerung an damals. Sie wurde laut, manchmal aggressiv, fing an, männliche Betreuer sexuell zu belästigen. Die haben versucht, sie zu zähmen. Vergeblich. Da gab es Kräfte, die stärker waren als sie.
Katharina ist zurückgegangen zu ihrer Mutter. Weil sie sich schuldig fühlte. Weil die Mutter trank und bettelte und versprach, das Trinken zu lassen, wenn ihr Kind endlich zurück nach Hause käme. Es hat nicht sehr lange gedauert, bis Katharina begriff, dass es dieses Zurück längst nicht mehr gab. Sie hat das Experiment abgebrochen, blieb noch eine Weile bei Neuhland, dann musste man sie abgeben, wie das hier heißt. Auch in der nächsten Einrichtung haben sie sie nicht halten können. Katharina ist verschwunden. Irgendwo im Leben da draußen.
Wenn die Tür der Wohngruppe Neuhland ins Schloss fällt und ein Kind die Einrichtung verlässt, dann ist selten alles klar und nie alles wieder gut. Ralf lebt jetzt bei einer Pflegefamilie, auch Jenny ist nicht zurückgekehrt nach Hause. Sie kämpft noch immer mit der Angst vor den Viren, mit sich und mit ihrer fürsorglichen Mutter. Die vermisst sie, von der erzählt sie und die wünscht sie jetzt oft zum Teufel. Sie hat sich auf den Weg gemacht.