Vergessene Debatte über den Geburtenrückgang
Mein Mann hat folgendes in unserem Datenarchiv gefunden und wir finden es wert, veröffentlich zu werden.
Gruß - Christine
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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.06.2004 Seite 8
Leserbrief von Dr. Volker Scheuing, Gräfelfing
Vergessene Debatte über den Geburtenrückgang
Die Demographiedebatte der letzten Zeit hat bisher die Tatsache übergangen, dass es in den späten 1970er Jahren eine heftige politische Auseinandersetzung über die Folgen der Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat. Die damalige Kontroverse lässt sich am besten durch Vergleich mit der französischen Reaktion auf den deutschen Geburtenrückgang würdigen. Als die Geburtenrate in der Bundesrepublik von 2,4 Kindern pro Frau 1968 auf 1,5 im Jahr 1973 abfiel, führte das weltweit angesehene Institut National dÉtudes Démographiques in Paris im Auftrag der französischen Regierung Modellrechnungen zur langfristigen Bevölkerungsentwicklung der französischen Bevölkerung bis zum Jahr 2100 durch. Einer der Modellvarianten war auch die in Deutschland erreichte Geburtenrate von 1,5 Kindern zugrunde gelegt als Beispiel einer bis dahin nicht für möglich gehaltenen Extrementwicklung. Die französische Regierung formulierte im März 1975 ihr bevölkerungspolitisches Ziel, eine stabile Geburtenrate, die nahe der Rate oder leicht über der Rate liegt, die die Ersetzung der einzelnen Altersgruppen sicherstellt. Frankreich intensivierte seine bereits seit Kriegsende betriebenen familien- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen mit Einfallsreichtum und Flexibilität. Schwerpunkte waren unter anderem die Vereinbarkeit der Berufstätigkeit der Frau mit der Kindererziehung und die massive Unterstützung von Familien mit drei und mehr Kindern. So konnte Frankreich seine heute im europäischen Vergleich günstige Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau aufrechterhalten.
Zur selben Zeit wie in Frankreich, 1974, wurden im bayerischen Landesentwicklungsministerium Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung im eigenen Land bis zum Jahr 2070 in fünfzehn Varianten durchgeführt, die für die bis dahin 1,5 Kinder pro Frau abgesunkene Geburtenrate exzessive jährliche Geburtendefizite und entsprechende Bevölkerungsverluste ab etwa dem Jahr 2010 ergaben mit der Folge drastisch fortschreitender Überalterung der bodenständigen Bevölkerung und deren Halbierung innerhalb von hundert Jahren.
Einem landeseigenen Bündel familienpolitischer Maßnahmen folgte im Januar 1977 die grundsätzliche Forderung an den Bund nach einer Staffelung der Sozialversicherungsbeiträge und der Einkommensteuer nach Kinderzahl, um die finanzielle Benachteiligung der Familien mit Kindern gegenüber den Kinderlosen zu beseitigen; bevölkerungspolitisches Ziel sei eine in allen Altersgruppen ausgewogene Bevölkerungsstruktur.
Als die Unionsparteien als damalige Bonner Opposition das Thema aufgriffen und im Bundestag Gesetzentwürfe für familienpolitische Maßnahmen mit bevölkerungspolitischer Begründung einbrachten, kam es zu einer unerwarteten geharnischten Reaktion aus dem Bundeskanzleramt.
Albrecht Müller, Leiter der Planungsabteilung des Bundeskanzleramts, warf im Mai 1978 den Befürwortern bevölkerungspolitischer Maßnahmen vor, sie pflegten völkisch-kollektivistische Vorstellungen. Man denke in Kategorien der Gruppe, der Horde, des Volkes. Bestandserhaltung sei ein Begriff aus der Viehhaltungsstatistik.
Unmittelbar nach Antritt der neuen Bundesregierung 1970 war der Abschied von der Familienideologie verkündet worden und 1975 der berühmte und berüchtigte Zweite Familienbericht der Bundesregierung erschienen. Diesem zufolge ist entgegen Artikel 6 des Grundgesetzes die Erziehung der Kinder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die die Gesellschaft Familien und außerfamilialen Einrichtungen überträgt; dabei dürften nicht legalisierte Partnergemeinschaften, Wohngemeinschaften, Kollektive und so weiter gegenüber der historischen Form der Normalfamilie nicht benachteiligt werden.
Gesetze der sozialliberalen Regierung wie Scheidungsrecht, Abtreibungsrecht, Namensgesetzgebung, Schüler-Bafög und so fort zielten auf die Destabilisierung und letztlich Auflösung der überkommenen Familie.
Im Bundeskanzleramt befürchtete man nun, diese Familienpolitik der sozialliberalen Regierung würde für den dramatischen Absturz der Geburtenraten in den Jahren 1968 bis 1977 von 2,4 auf 1,4 verantwortlich gemacht werden. Der Leiter der Planungsabteilung des Kanzleramts bereiste ab 1978 wichtige Tagungen, auf denen über die Bevölkerungsentwicklung gehandelt wurde, und attackierte jedermann, der den Geburtenrückgang als bedrohlich darstellte. Die Prognose- und Wirtschaftsforschungsinstitute mussten um Aufträge der Bundesregierung bangen und übten fortan äußerste Zurückhaltung in Aussagen über die Folgen der deutschen Bevölkerungsentwicklung. Auf einer Tagung des Ifo-Instituts zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft im Oktober 1978 warf Albrecht Müller selbst der Wissenschaft vor, sie leiste Handlangerdienste bei der Dramatisierung und beim politischen Missbrauch der in der Bundesrepublik eingetretenen Bevölkerungsentwicklung. Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte am 2. August 1979, es stehe dem Staat nicht zu, die Geburtentwicklung beeinflussen zu wollen.
Man kann heute im Rückblick feststellen, dass die Tabuisierung des Themas demographische Entwicklung durch die damalige Bundesregierung so nachhaltig gelungen ist, dass es über ein Vierteljahrhundert aus der öffentlichen Diskussion verdrängt blieb und dringend notwendiges politisches Handeln verhinderte.
Deutschland braucht heute Demographen, die der Bevölkerung und der Politik klar und mutig sagen, dass wir mit einer schwersten Herausforderung konfrontiert sind, nach dreißig Jahren verhängnisvoll niedriger Geburtenraten mit einem Rekordtief von 1,3 Kindern pro Frau und den dadurch für die kommenden Jahrzehnte nicht mehr abwendbaren Verlusten von mehreren hunderttausend jungen Menschen pro Jahr wirtschaftlich bestehen zu können.