Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Vergessene Debatte über den Geburtenrückgang

Garfield, Tuesday, 02.05.2006, 15:31 (vor 6577 Tagen) @ ChrisTine

Als Antwort auf: Vergessene Debatte über den Geburtenrückgang von ChrisTine am 01. Mai 2006 21:53:53:

Hallo Christine!

Das ist interessant, vor allem auch, weil dieses Totschweigen des Geburtenproblems ja auch mindestens einen Regierungswechsel überlebt hat.

"dass wir mit einer schwersten Herausforderung konfrontiert sind, nach dreißig Jahren verhängnisvoll niedriger Geburtenraten mit einem Rekordtief von 1,3 Kindern pro Frau und den dadurch für die kommenden Jahrzehnte nicht mehr abwendbaren Verlusten von mehreren hunderttausend jungen Menschen pro Jahr wirtschaftlich bestehen zu können."

Rein wirtschaftlich gesehen ist das gar kein Problem. Wir haben im Moment ohnehin einen millionenfachen Überhang an Arbeitskräften. Wären in den letzten Jahrzehnten mehr Kinder geboren worden, dann wäre dieser Überhang heute noch größer.

Zwar hätten wir dann jetzt mehr Konsumenten, aber eben vor allem mehr Konsumenten, die ihre Kaufkraft zwangsläufig nur auf Kosten der Allgemeinheit erhalten können. Diejenigen, die noch Arbeit haben, müßten so noch weitaus mehr geschröpft werden und hätten entsprechend weniger Kaufkraft. Die Kaufkraft würde sich also quasi nur verlagern, und so wären auch nicht mehr Arbeitsplätze entstanden. Der Preisdruck auf die Wirtschaft wäre durch die noch niedrigeren Einkommen der Masse der Bevölkerung heute noch größer, mit all den bekannten negativen Folgen (Pleiten, Entlassungen usw.).

Dann bleibt natürlich das Problem, daß unsere Gesellschaft so niedrige Geburtenraten dauerhaft nicht überleben kann, jedenfalls wenn man mal davon ausgeht, daß es in naher Zukunft nicht möglich sein wird, den Menschen noch ein weitaus höheres Sterbealter bei weniger gesundheitlichen Beschwerden im Alter zu ermöglichen. (Die Entwicklung unseres Gesundheitswesens läßt im Gegenteil befürchten, daß sich die medizinische Versorgung verschlechtern und daß das durchschnittliche Sterbealter so bald wieder sinken wird).

Die Massenerwerbslosigkeit läßt aber eine deutliche Steigerung der Geburtenraten nicht zu. Dinge wie Elterngeld lösen dieses Problem nicht. Solche Maßnahmen könnten die Geburtenrate zwar eventuell tatsächlich leicht erhöhen - aber wir haben dann immer noch das Problem, daß die Kinder später als Erwachsene nicht gebraucht werden. Momentan stehen hunderttausende Jugendliche chancenlos auf dem Arbeitsmarkt. Diese Zahl würde sich dann erhöhen oder stabil bleiben, anstatt zu sinken.

Auch die demographische Entwicklung wird daran nicht viel ändern. Zum einen wird der Prozeß der Automatisierung weiter fortschreiten, so daß insgesamt immer weniger Personal für Produktion und Dienstleistungen benötigt werden wird. Zum anderen werden die Menschen in Zukunft länger arbeiten müssen. Ganz egal, wie man das Renteneinstiegsalter festlegt: Die Renten werden soweit sinken, daß die Masse der Rentner gezwungen sein wird, zur mageren Rente noch etwas hinzu zu verdienen. Immer mehr Rentner müssen das heute schon. So werden immer mehr Arbeitsplätze von Rentnern belegt werden, und es wird so bald keinen Arbeitskräftemangel geben. Klar - die Unternehmen könnten gezwungen sein, ihre Ansprüche an Stellenbewerber zu senken und eben auch mal älteren oder nicht ausreichend qualifizierten Bewerbern eine Chance zu geben, aber eine Situation wie in den 1960er Jahren, als wirklich Arbeitskräfte gesucht wurden, werden wir so bald nicht mehr erleben.

So muß man im ersten Schritt also erst einmal die Gesellschaft so umbauen, daß die vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten auf alle verteilt werden, wobei aber jeder Mensch in der Lage sein muß, zumindest seine Lebenshaltungskosten zu begleichen. Die momentane Entwicklung läuft eher auf das Gegenteil hinaus, und ich denke, daß das auch der wesentliche Grund für den Geburtenrückgang ist.

Natürlich spielen dabei Dinge wie die Pille und andere Verhütungsmittel eine Rolle. Früher gab es diese Mittel nicht, oder sie waren für viele Menschen nicht bezahlbar, und so blieb ihnen auch unter schlechten Umständen nichts übrig, als trotzdem Kinder in die Welt zu setzen. Heute ist das eben nicht mehr so. Heute sehen die Menschen, wie schwer es Jugendliche bei der Lehrstellen- und Jobsuche haben, sie sehen, daß man immer bessere berufliche Qualifikationen braucht, die aber immer teurer zu erlangen sind, und so wissen immer mehr Menschen nicht, wie sie Kindern einen optimalen Start in ein eigenes Leben ermöglichen sollten. DAS ist ein gewichtiges Argument gegen Kinder, das nur von denjenigen ignoriert wird, die entweder gar nicht soweit denken oder aber einen sehr starken Kinderwunsch haben, oder zu den wenigen Glücklichen gehören, die diese Probleme aufgrund ihres finanziellen Reichtums gar nicht haben.

Ich glaube, daß der Geburtenrückgang heute nur deshalb thematisiert wird, weil man so von dem wirklichen Grundproblem ablenken möchte. Man möchte es gern so darstellen, als wäre das Rentensystem ja einzig und allein durch den Geburtenrückgang gefährdet. Als würde das Problem nicht eher darin bestehen, daß wir immer weniger legal Beschäftigte haben, die obendrein auch noch immer weniger verdienen und somit eben auch immer weniger Rentenbeiträge zahlen. Im übrigen existiert dieses Problem ja auch in Bezug auf das Gesundheits- und Pflege-System, und natürlich auch in Bezug auf das Arbeitslosengeld I und diverse Sozialleistungen. Alles das wird immer schwerer finanzierbar, wenn die Zahl der legal Beschäftigten weiter sinkt. DAS ist das wesentliche Problem, das sich nur durch grundlegende Änderungen am System lösen läßt. Diese Änderungen werden aber von denjenigen, die vom System noch prima profitieren, nicht gewünscht, und deshalb sollen auch möglichst wenige Menschen auf die Idee kommen, solche Änderungen zu fordern.

Freundliche Grüße
von Garfield


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