Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Reclam Komponistenlexikon wird fleißig gegendert

Ein Leser, Tuesday, 09.03.2010, 13:12 (vor 5381 Tagen) @ Ein Leser

http://www.amazon.de/review/R1D3VY6B5H4AQV/ref=cm_cr_pr_viewpnt#R1D3VY6B5H4AQV

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3.0 von 5 Sternen Ein feministisches Komponistenlexikon, 3. Februar 2010
Von Dr. Adorján Kovács (Frankfurt am Main) - Alle meine Rezensionen ansehen
Jedes neue Lexikon muss sich von seinen Konkurrenten unterscheiden, um auf dem Markt bestehen zu können. Reclams Komponistenlexikon hat zwei Besonderheiten, die beim Durchforsten des Buches sofort auffallen. Sie spiegeln das "gegenwärtige Verständnis von Musik und ihrer Geschichte" insofern wider, wie Herausgeberin Melanie Unseld, die aus der Genderforschung stammt, im Vorwort schreibt, als der hohe "Anteil der dargestellten Komponistinnen" im Sinne des heutigen "gender mainstreaming" motiviert ist.

Dieser Vorteil (oder Nachteil) des Lexikons, das selbstverständlich alle zum etablierten Kanon zählenden Komponisten behandelt, was ohnehin erwartet werden kann, führt zur Einbeziehung völlig unbekannter weiblicher Komponisten, die offenbar weniger aufgrund musikalischer Qualität, sondern weil sie Frauen waren, aufgenommen wurden. Während z. B. Barbara Strozzi, deren Arbeit als Kurtisane feministisch stolz hervorgehoben wird, nach Ausweis der verfügbaren CDs noch ein wichtiger Neueintrag zu sein scheint, erscheinen Namen wie Emma Lou Diemer oder Mel Bonis doch eher entbehrlich, auch wenn bei letzterer das schwere frauenspezifische Schicksal (Heirat mit einem wesentlich älteren Geschäftsmann, uneheliche Tochter) im Mittelpunkt steht. Das sicherlich oft unverdiente Pech, nicht wahrgenommen worden zu sein, teilten wohl ebenso viele Männer mit diesen Frauen. Sicher sind auch bisher unbeachtete männliche Komponisten in dieses Lexikon aufgenommen worden (Unseld nennt sie mit Hugo Riemann "anmutige Seitentäler" der Musikgeschichte), aber das ist nur ein Nebenziel der Autoren.

Eine zweite Besonderheit des Lexikons ist die Hervorhebung der Alltagsgeschichte. Es konzentriert sich nämlich innerhalb der Kurzbiografien auf Angaben zu den Lebensumständen, manchmal bis zum Klatsch. Unter Adlgasser, Anton Cajetan lesen wir: "A. war bekannt mit der Familie Mozart. L. Mozart war Trauzeuge bei den 3 Eheschließungen A.s. Dessen Tochter Maria Victoria Cäcilia war befreundet mit Maria Anna Mozart." Derlei Informationen verdanken wir Claudia Maria Knispel. Diese Funde können im gesamten Lexikon beliebig fortgesetzt gemacht werden. Teilweise machen sie den größten Anteil der Kurzbiografien aus, die darum zur Musik der Komponisten manchmal erschreckend wenig mitteilen. Das bedeutet z. B. bei Stockhausen, Karlheinz, dass dessen GRUPPEN und andere wesentliche Werke überhaupt nicht genannt werden, nachdem sich die Hälfte des Beitrags mit seiner Kindheit und Jugend beschäftigt hat. Dieser Artikel von Katrin Eggers strotzt vor Wiederholungen und ist auch ein Beweis für eine hässliche Tendenz. Während bei praktisch jedem anderen zeitgenössischen Komponisten am Ende des jeweiligen Beitrags die erhaltenen Ehrungen aufgezählt werden, soll beim seitens der Herausgeberin offenbar ungeliebten Stockhausen der falsche Eindruck einer völligen Negierung durch die Zeitgenossen erweckt werden, was ja bekanntlich nicht stimmt.

Diese Fixierung auf Lebensumstände, die natürlich auch eine begrüßenswerte Farbigkeit des Inhalts bewirkt, hat unfreiwillig erheiternde Konsequenzen, wenn sie sich mit der feministischen Ausrichtung trifft. Sibelius z. B. setzte sich "auch infolge der Begegnung mit dieser hochgebildeten und überzeugt für die finnische Sprache und Nation eintretenden Frau [Aino Järnefelts] mit der finnischen Volkskunst auseinander"; bei Grieg lesen wir, dass er "auf seine Cousine, und spätere Frau, Nina Hagerup [traf], die als ausgebildete Sängerin das Liedschaffen G.s anregte." Immer wieder erfährt der Leser, dass es Frauen waren, die ihre Männer erst eigentlich zu ihren Leistungen gebracht hätten. Die Einsicht, dass die Männer den Frauen alles zu verdanken haben, ist keineswegs neu, wird hier aber doch zu penetrant vertreten.

Insgesamt ist das Lexikon, dessen 672 Seiten zwischen ein in tiefem feministischem Rosa prangendes Vorsatzpapier gepackt sind, mit über 700 Einträgen und 150 Abbildungen, die durch 16 ausgezeichnete Essays zu ästhetischen Schulen (wie Notre Dame und Mannheim) oder Gruppierungen (wie Les Six und das mächtige Häuflein) ergänzt werden, durchaus zu empfehlen, eben weil es den Blick auf die Komponistenlandschaft weitet und mit interessanten Details aus dem Leben der Musiker aufwartet; es muß aber aufgrund seiner ideologischen Prämissen mit Vorsicht gelesen werden. Zum Abschluß sei dem Reclam Verlag gedankt, dass er sich dem von Herausgeberin und Autoren vermutlich geäußerten Wunsch nach dem Titel "KomponistInnenlexikon" verweigert hat.


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