Wenn Mädchen zuschlagen (Gewalt)
Mädchen sind nicht mehr nur Opfer, sondern immer öfter auch Täterinnen. Wie neu ist die weibliche Gewalt?
Weibliche Gewalt findet nicht statt, die Frauen sind die Opfer, nicht die Täterinnen. Und nun plötzlich dies: Mädchen prügeln sich, mit Mädchen und mit Jungs. Statistisch gesehen holen junge Frauen auch in der Schlägerszene gewaltig auf. Auch ich kam an die Kasse: Kürzlich fuhren mein Partner und ich mit unserer jüngsten Tochter im Tram in die Stadt, abends etwa gegen 18 Uhr. Im Tram befand sich auch eine junge Frau, hübsch zurecht gemacht. Kaum waren wir eingestiegen, begann sie unsere Tochter zu beschimpfen, vollkommen grundlos. Obwohl wir sie ignorierten – oder vielleicht gerade deswegen – pfefferte sie uns Frauen schliesslich eine Ohrfeige, die es in sich hatte.
Klar ist, dass die junge Dame nicht ganz nüchtern war. Und irgendwie scheint sie das Bild, das wir boten, gestört zu haben: ein Mädchen mit seinen Eltern. Vielleicht hat sie zerstrittene Eltern, Zoff Zuhause, und unsere Harmonie brachte sie in Rage? Keine Ahnung.
Meine erste Ohrfeige war das nicht, dafür hat meine Mutter schon gesorgt. Wer nicht hören will, muss fühlen, war ihre Devise. Nun machten mein Bruder und ich aber Kampfsport, und dabei übt man bekanntlich Reflexe. Als sie mir also wieder einmal eine knallen wollte, reagierte ich reflexartig, zog den Kopf ein und ohrfeigte automatisch zurück. Sie raste heulend ans Telefon und schluchzte meinem Vater in den Hörer, ihr Kind habe sie geschlagen. Da dämmerte mir, dass auch die umgekehrte Variante, dass Mütter eben Kinder schlagen, schrecklich ist. Jedenfalls war Schluss mit Körperstrafen. Allerdings nicht aus besserer Einsicht, sondern bloss, weil sie wohl Angst hatte. Ich hatte mir Respekt verschafft, offenbar. Es war kein gutes Gefühl.
Neu ist weibliche Gewalt also nicht, denn aus dem Rahmen fielen die Schläge meiner Mutter nicht. In den Sechzigern teilten alle Mütter aus. Man ohrfeigte die Kinder auch in der Öffentlichkeit, wenn sie nicht parierten. Mädchen hatten allerdings bloss hinzuhalten, aktiv werden durften sie nicht, oder, böse gesagt, erst wenn sie selber Kinder hatten. Buben prügelten sich zuweilen, aber Mädchen «taten so etwas nicht>.
Heute ist es umgekehrt: Mädchen prügeln sich, dafür gilt eine Mutter, die ihre Kinder schlägt, als Versagerin. Ich mag mich allerdings nicht erinnern, dass sich meine Töchter geprügelt hätten, und von Schlägereien zwischen Mädchen haben sie mir auch nie erzählt. Auf meine kürzliche Frage hin haben sie dies bestätigt. Allerdings, so wurde dann präzisiert, bis zur Pubertät würde schon gekeilt, unabhängig vom Geschlecht. In der Primarschule habe es immer mal wieder Raufereien gegeben, und ganz unbeteiligt seien auch sie nicht immer gewesen. Später aber nicht mehr. Auf dem Gymnasium gäbe es ab und zu mal eine Keilerei zwischen Jungs, aber Prügeleien mit oder zwischen Mädchen seien kein Thema. Doch scheint das nur für das Gymnasium zu gelten: In anderen Schulen geht man offenbar eher aufeinander los, Mädchen wie Jungs.
Tatsache ist, dass prügelt, wer sich anders nicht verständlich machen kann. Hinter Prügeleien steckt Hilflosigkeit, die Worte fehlen, also sprechen die Fäuste. Und ist die Schlaghemmung einmal weg – egal, ob bei Männern oder Frauen – dann ist die Faust oft schneller als das Hirn. Aggressionen müssen raus, Rangordnungen her: der Stärkere ist oben, und immer mehr auch die Stärkere. Ich lasse mir nichts (mehr) bieten, ich bin der Chef. Der Platz an der Spitze ist jedoch einsam und der Preis hoch.
Wenn heute auch Mädchen und Frauen zulangen, so hat das sicher mit dem veränderten Wertesystem zu tun. Frauen dürfen sich grundsätzlich gleich verhalten wie Männer, ohne gleich ihren Ruf zu verlieren. Bei den Trinkern, den Rauchern und auch den Schlägern, das weibliche Geschlecht ist auf der Aufholspur. Sind die Mädchen also das Bauernopfer der Emanzipation? Oder sind Prügeleien bloss ein anderes Ventil? Denn klar ist: Auch wenn sich Mädchen früher nicht prügelten, besser waren sie deswegen noch lange nicht.