Sloterdijk über Geschlechtliches im Fußballspiel
Der "Spiegel" bringt ein Interview mit dem Philosophen Peter Sloterdijk (dessen "Kritik der zynischen Vernunft" eines der meistgelesenen philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts sein soll). Ich zitiere (Hervorhebungen von mir):
Das Fußballspiel ist atavistisch, und es ist eine anthropologische Versuchsanordnung. Seit einigen tausend Jahren suchen die männlichen Menschen nach einer Antwort auf die Frage: Was macht man mit Jägern, die keiner mehr braucht? Von unserem anthropologischen Design her sind Männer so gebaut, dass sie an Jagdpartien teilnehmen. Doch haben wir seit gut 7000 Jahren, seit Beginn des Ackerbaus, die Jäger einem riesigen Sedierungsprogramm unterworfen. Je höher die Religion, desto stärker war der Versuch, den inneren Jäger davon zu überzeugen, dass es im Grunde eine Schande ist, ein Mann zu sein, und dass Männer als Männer niemals des Heils teilhaftig werden.
SPIEGEL: Es sei denn, sie spielen Fußball und ersetzen die Jagd nach dem Wild durch die Jagd nach dem Tor?
Sloterdijk: So ist es. Es gibt kaum ein Spiel, bei dem unsere alten protoartilleristischen Jagderfolgsgefühle so deutlich imitiert werden können. Wenn man den inneren Jäger ganz paralysiert, ganz umgebracht hat, dann kommt man unvermeidlich zu der Überzeugung, dass es auf der Welt nichts Dümmeres gibt als die Reaktion von Fußballern nach dem Torerfolg. Es ist wirklich obszön, was man da zu sehen bekommt. Eine Pornodarstellerin müsste sich genieren, verglichen mit diesen seltsamen Torschützenorgasmen, die vor zahlendem Publikum zum Besten gegeben werden. Aber: Sobald man auf diesen Mord am inneren Jäger verzichtet und die alten Jagdgefühle zulässt, spürt man sofort, was auf dem Rasen verhandelt wird. Da wird nämlich das älteste Erfolgsgefühl der Menschheit reinszeniert: mit einem ballistischen Objekt ein Jagdgut zu treffen, das mit allen Mitteln versucht, sich zu schützen. Ich glaube, das ist der Punkt, wo man den Begriff "deep play" ins Spiel bringen darf. Er bezeichnet die Arten von Spielen, die den ganzen Menschen mitreißen.
SPIEGEL: Der Ur-Mann im Mann ist also weitgehend nutzlos und nur im Spiel zu gebrauchen. Haben es die Frauen besser?
Sloterdijk: Frauen sind herkunftsmäßig Sammlerinnen, und die braucht man heute mehr denn je, denn aus der Sammlerin wird auf dem kürzesten Weg die Konsumentin. Frauen sind in diesem Punkt viel kapitalismuskompatibler als Männer. In der Konsumentin zeigt sich noch immer diese stille, triumphale Genugtuung der Sammlerin, die in ihrem Korb etwas heimbringt. Daraus ist dieses mysteriöse weibliche Universal der Handtasche entstanden. Ein Mann ohne Speer oder ohne Ball, das geht ja noch, aber eine Frau ohne Handtasche, das ist wider die Natur.
(...)
Am besten kommen daher die Spieler mit ihrer Starrolle zurecht, die bewusst in die Modelwelt wechseln, wie zum Beispiel Beckham. So jemand kann zeigen, dass der Spieler selbst seine Entheroisierung verstanden hat. Folglich ist es heute besser, als Hermaphrodit aufzutreten statt als männlicher Heros. Die Kicker-Models folgen einem evolutionären Trend, der seit den sechziger Jahren zu beobachten ist: dem Zug zur Hermaphroditisierung. Das ist eine Langzeitbewegung, bei der die Männer abrüsten und als Klientel für kosmetische Angebote entdeckt werden.
SPIEGEL: Ist die deutsche Nationalmannschaft ein Team von Hermaphroditen?
Sloterdijk: Im Prinzip ja. Wobei sich Klinsmann dagegen wehrt. Ich denke, der hat den Kuranyi nicht wegen der angeblich schwachen Leistung rausgeschmissen, sondern weil er ihm übelnimmt, dass er eine halbe Stunde braucht, um sein Bärtchen zu rasieren. Das ist auch ein antihermaphroditisches
Votum von Klinsmann, ein Anti-Model-Protest.