Unterhalt, weil Schulen ihrer Pflicht nicht mehr nachkommen können
Leserdiskussion
Note für Berlins Grundschulen: mangelhaft
In einem noch nicht veröffentlichten Urteil stellt das Berliner Kammergericht den Grundschulen ein vernichtendes Zeugnis aus. Vor allem der Personalmangel führe dazu, dass der Stoff nicht mehr vermittelt werden kann. Wie denken Sie über die pädagogische Betreuung in den Grundschulen? Diskutieren Sie mit!
Mit ungewöhnlich deutlichen Worten hat das Berliner Kammergericht die Zustände an den Grundschulen kritisiert. In einem noch nicht veröffentlichen Urteil, das dem Tagesspiegel vorliegt, heißt es, es sei gerichtsbekannt, "dass gerade die Grundschulen aufgrund des in Berlin bestehenden Personalmangels... ihren Ausbildungspflichten nicht mehr in ausreichendem Maße nachkommen". Lehrer würden zunehmend von den Eltern häusliche Nacharbeit mit den Kindern fordern, "weil der Schulstoff nicht mehr angemessen vermittelt werden kann".
Bisher boten vor allem die Zustände an den Berliner Oberschulen Anlass für eine solch harsche Kritik. Anlass für das schlechte Zeugnis für die Grundschulen durch das Kammergericht bot den Richtern der Fall einer Mutter, der sie Unterhalt für die Betreuung ihres achtjährigen Sohn zusprachen, weil die Schulhorte nicht in der Lage seien, den Kindern die notwendige Förderung und Zuwendung zukommen zu lassen.
Rund 400 Grundschulen gibt es in Berlin. 343 davon sind offene Ganztagsgrundschulen, das heißt, Kinder mit nachgewiesenem Betreuungsbedarf können vor und nach dem Unterricht zusätzliche Betreuung in Anspruch nehmen, maximal ab 6 und bis 18 Uhr. 64 Schulen sind gebundene Ganztagsgrundschulen. Hier gibt es für alle Schüler ein Gesamtkonzept von Unterricht, Erziehung, ergänzender Förderung und Betreuung von 8 bis 16 Uhr. Auch hier können Kinder bei nachgewiesenem Bedarf zusätzliche Betreuung in Anspruch nehmen. In der Vergangenheit wurde immer wieder der Lehrermangel kritisiert. Vor allem in sozial schwierigen Kiezen würden die Pädagogen ihr Pensum kaum noch vermitteln können. Kürzlich belegte die Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu), dass jeder vierte Zehnjährige so schlecht liest, das ein erfolgreicher Besuch weiterführender Schulen fraglich ist. Die Kinder sind im Bundesvergleich weit hinten.
Das Urteil vom 8. Januar ist auch deshalb so spektakulär, weil die Richter feststellten, dass die Grundschulen von den Eltern "tätiges Interesse und Mitwirkung an den schulischen Aktivitäten" einfordern. Dies mache es insbesondere alleinerziehenden Eltern schwer, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen.
Mit dem Urteil hat das Kammergericht die Rechte von teilzeitarbeitenden Müttern gestärkt. Die Richter sprechen der Mutter Unterhalt für die Betreuung ihres Sohnes zu, obwohl der Vater die Mutter hatte zwingen wollen, wieder Vollzeit zu arbeiten, und sich dabei auf das neue Unterhaltsrecht berufen hatte. Seit dem 1. Januar 2008 kann der Elternteil, bei dem das Kind lebt, für mindestens drei Jahre nach der Geburt Betreuungsunterhalt verlangen und darf während dieser Zeit zu Hause bleiben. Ist das Kinder älter als drei, ist eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs nur möglich, wenn der Wegfall des Unterhalts "grob unbillig" wäre. Soll heißen: "Die Mutter muss darlegen, warum sie trotz eines Betreuungsangebots nicht voll berufstätig ist", erklärt Familienrechtsexperte Dieter Schwab.
"Das Kammergericht dreht jetzt das Regel-Ausnahme-Verhältnis um", sagt Imke Börner von der Rechtsanwaltskanzlei CSC, die eine der Parteien vertreten hatte. In ungewöhnlich deutlichen Worten betont das Gericht, warum die Betreuung durch die Mutter für das Kind unerlässlich ist - auch nach den ersten drei Lebensjahren. Aufgrund der Situation an den Grundschulen könne die Mutter - eine Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin - mit einer Vollzeitbeschäftigung ihren Aufgaben nicht gerecht werden. Imke Börner hält das Urteil für spektakulär, weil die Mutter eines Grundschulkindes danach nicht begründen muss, warum sie es einen Teil des Tages betreuen möchte. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig, möglicherweise geht der Fall bis vor den Bundesgerichtshof.
Die Reaktionen der Bildungsexperten auf das Gerichtsurteil klaffen weit auseinander. Wie denken Sie über das Urteil und welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Werden Kinder an Grundschulen ausreichend pädagogisch betreut? Oder hat Berlins Bildungspolitik versagt? Schreiben Sie einen Kommentar unter diesem Artikel.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 19.01.2009)
http://www.tagesspiegel.de/berlin/Schule-Grundschulen;art270,2709381
--
Es ist kein Merkmal von Gesundheit, wohlangepasstes Mitglied einer zutiefst kranken Gesellschaft zu sein