Wenn der Mensch zur MenschIn wird - oder:

Wieviel »Gleichberechtigung« verträgt das Land?

How much »equality« the country can stand?

Homepage - Archiv 1 - Archiv 2 -- Hilfe - Regeln für dieses Forum - Kontakt - Über uns

125962 Einträge in 30843 Threads, 293 registrierte Benutzer, 370 Benutzer online (0 registrierte, 370 Gäste)

Entweder bist Du ein aktiver Teil der Lösung, oder ein Teil des Problems.
Es gibt keine unbeteiligten Zuschauer!

    WikiMANNia
    Femokratieblog

Marcel Reich-Ranicki:: Frauen können nicht komponieren... (Manipulation)

Peter, Sunday, 04.05.2014, 14:38 (vor 3648 Tagen) @ adler

http://www.youtube.com/watch?v=T7SS9etPrUk


Interview mit Marcel Reich-Ranicki (2. September 2000)

Sie geben dieses Interview mit gemischten Gefühlen.

MARCEL REICH-RANICKI: Ich befürchte das Schlimmste. Man stellt mir seit zehn fünfzehn Jahren immer wieder dieselben Fragen, und dann kommen die boshaften Bemerkungen, das habe man nun schon dreimal von mir gehört.

Mich interessiert Ihre Seelenlage.

REICH-RANICKI: Das ist schon vielversprechend.

In der letzten Sendung des "Literarischen Quartetts" wirkten Sie angeschlagen.*

REICH-RANICKI: Langsam! Ganz falsch! Ich kann Ihnen die Wahrheit sagen. Ich war nicht angeschlagen. Es war etwas anderes. Ich habe mich sehr bemüht, am Anfang so zurückhaltend wie möglich zu sein, weil ich nichts mehr fürchte als Frauen, die schüchtern sind, die mir zusammenbrechen. Ich habe panische Angst. Ich will nicht übermorgen wieder in den Zeitungen lesen, die Männer hätten die Frauen nicht zu Wort kommen lassen. Immer diese Zweiteilung! Die einen legen die Eier, die anderen nicht. Man kann die Literatur so nicht betrachten. Das ist Primitivismus und Barbarei. Mich kotzt das an.

Die Stimme versagte Ihnen fast, als Sie Sigrid Löffler für ihre Mitarbeit dankten.

REICH-RANICKI: Ich war sehr glücklich an diesem Abend.

Weil Frau Löffler fort war?

REICH-RANICKI: Ja!

Sie waren heiser vor Glück.

REICH-RANICKI: Möglich.

In der ersten Sendung vor über zwölf Jahren nannten Sie Löffler "eine der geistreichsten Frauen Österreichs".

REICH-RANICKI: Ja, und ich habe gesagt, ich nehme das nicht zurück. So edel bin ich ihr gegenüber. Sie verdient es nicht.

Sie gelte, sagten Sie 1988, "bei manchen, sehr zu Unrecht, als eine etwas boshafte Dame".

REICH-RANICKI: Sie war damals eine ungewöhnliche Figur innerhalb Österreichs. Das Niveau dort ist doch erbärmlich. Wir können seit vielen Jahren aus Österreich keine Gäste einladen. Aber das darf man nicht sagen. Man darf auch nicht sagen, Frauen können keine Romane schreiben.

Romane schon.

REICH-RANICKI: Nein.

Ich dachte, nur keine Dramen.

REICH-RANICKI: Romane auch nicht. Es gibt einen einzigen bedeutenden Roman von einer Frau...

Anna Seghers, "Das siebte Kreuz".

REICH-RANICKI: Ja, sehen Sie! Frauen können Novellen schreiben, wunderbar, Frauen können Gedichte schreiben. Fragen Sie mich nicht, warum! Fragen Sie Gynäkologen!

Ich möchte Ihnen eine Stelle aus einem Brief Rimbauds vorlesen. Da heißt es: "Wenn die unendliche Knechtschaft der Frau gebrochen ist, wenn sie für sich lebt und durch sich selbst, wenn ihr der Mann, erbärmlich bis jetzt, zurückgibt, was ihr gehört, dann wird auch sie Poet sein, auch sie! Die Frau entdeckt das Unbekannte! Werden sich die Welten ihres Denkens von den unseren unterscheiden? Sie wird seltsame, unergründliche, abstoßende, wunderbare Dinge entdecken, und wir werden das aufnehmen, wir werden es verstehen."**

REICH-RANICKI: Augenblick! Wollen Sie dazu von mir eine Stellungnahme?

Sehr gerne.

REICH-RANICKI: Ich stimme dieser Äußerung von Rimbaud voll und ganz zu. Ich halte das, was er voraussagt, für durchaus möglich...

Und hoffenswert?

REICH-RANICKI: Ja, hoffenswert, nur: Ich äußere mich in literarischen Fragen prinzipiell nur über die Vergangenheit und die Gegenwart, nicht über die Zukunft. Es ist üblich, ich habe das nicht selten gehört, daß eine Frau über eine weibliche Figur in einem Roman, den ein Mann geschrieben hat, sagt, das sei eine Männerphantasie. Aber die gesamte Weltliteratur ist eine Männerphantasie, vielleicht nicht die ganze, aber doch beinah neunzig Prozent.

Das stört manche Frauen.

REICH-RANICKI: Ja, entschuldigen Sie bitte, machen Sie mich dafür verantwortlich?

Nein, aber das gibt doch zu denken. Die Frauen meinen, nun wären sie an der Reihe, die kulturellen Bilder, die uns prägen, zu schaffen.

REICH-RANICKI: Ich habe nichts dagegen. Ich habe in meinem ganzen Leben unentwegt...

Sie könnten die Frauen ermutigen.

REICH-RANICKI: Lassen Sie mich ausreden! Machen Sie hier einen Monolog? Ich habe mich mein ganzes Leben immer wieder mit der Literatur von Frauen beschäftigt, nicht weil diese Romane, Novellen, Gedichte von Frauen geschrieben waren, sondern weil ich Literatur nicht nach den Geschlechtsteilen der Autoren zu unterscheiden pflege. Ich habe mich mit Ricarda Huch, Anna Seghers, mit Marie-Luise Kaschnitz, Sarah Kirsch, Ingeborg Bachmann, also mit vielen deutschen und ausländischen Autorinnen wie beispielsweise auch mit Virginia Woolf beschäftigt, weil ich deren Bücher schätze, weil mich diese Bücher interessieren.

Trotzdem haben Sie den Ruf eines Frauenfeindes.

REICH-RANICKI: Das ist kompletter Schwachsinn. Aber jeder Schwachsinn hat einen Grund. Der Grund ist, daß ich mir erlaube zu sagen, was ich denke. Ich bin nicht bereit, Tabus zur Kenntnis zu nehmen. Was jeder Mensch weiß, sage ich laut und habe deshalb so dümmliche Feinde. Ich sage zum Beispiel: Frauen können nicht komponieren...

Ein paar gibt es schon.

REICH-RANICKI: Nein, es gibt keine paar. Nun kommen Sie mir nicht mit Clara Schumann...

Nein.

REICH-RANICKI: Hören Sie sich mal Clara Schumann an! Das ist schrecklich, was die komponiert hat.

Vielleicht liegt es an den Männern, daß Frauen sich nicht so entfalten können.

REICH-RANICKI: Verzeihen Sie, aber wenn ich sage, es regnet, können Sie mir nicht damit kommen, daß Sie sagen, das kann ja daran liegen, daß die Wolken von Osten oder von Westen kommen. Zunächst einmal müssen Sie zugeben, daß es regnet. Ich sage nur: Frauen können nicht komponieren, jedenfalls bis jetzt nicht. Sie haben es versucht...

Und die Männer haben...

REICH-RANICKI: Lassen Sie mich ausreden! Kinder, das wird nichts, das hat keinen Zweck, wenn dauernd Sie reden wollen... Es wird gesagt, man habe Frauen als Autorinnen, als Komponistinnen, nicht zu Wort kommen lassen. Das mag in manchen, vielleicht in vielen Fällen stimmen. Aber dazu habe ich mich nicht geäußert. Das bezweifle ich nicht. Ich spreche nur von den Fakten. Es gibt keine einzige bedeutende Oper bisher, von einer Frau komponiert. Es gibt keine bedeutende Sinfonie von einer Frau. Frauen waren und sind fabelhafte Pianistinnen, Geigerinnen...

Darf ich etwas sagen?

REICH-RANICKI: Nein, Sie dürfen nicht! Ich habe mir, weil ich offen rede, einen bornierten Haß zugezogen. Aber ich bin der einzige in diesem Land, bitte, ich muß das sagen, ich will mich nicht loben und rühmen, aber ich habe einen Band von 800 Seiten herausgegeben mit dem Titel "Frauen dichten anders", eine Sammlung aller wichtigen Autorinnen deutscher Zunge vom Mittelalter bis heute. Ich frage Sie, ob dieser Band ein Ausdruck von Frauenfeindschaft ist. Wer außer mir hat so stark auf die poetische Produktion von Frauen hingewiesen?

Darum geht es nicht. Die Frage ist, ob Sie sich als Mann mitschuldig fühlen an der Lage der Frauen.

REICH-RANICKI: Nein! Ich verstehe Ihre Frage nicht. Was soll das? Sind Sie verantwortlich dafür, daß seit Jahrtausenden Juden diskriminiert und gemordet werden auf dieser Erde?

Ich fühle mich mitverantwortlich für alles, was Männer verbrochen haben.

REICH-RANICKI: Halt! Jetzt sprechen Sie von sich. Ich fühle mich nicht verantwortlich für die Verfolgung und Unterdrückung der Frauen im Mittelalter und teilweise auch in der Neuzeit. Das habe nicht ich getan. Wenn ich als Gegner von Frauen bezeichnet werde, dann werde ich total mißverstanden, und ich glaube, daß dieses Mißverständnis so dumm wie gehässig ist. Das müssen Sie wörtlich zitieren: so dumm wie gehässig.

Ich schaue dauernd Ihre Frau an, während Sie sprechen.***

REICH-RANICKI: Dann muß ich sie rausschmeißen.

Das ist aber hart.

REICH-RANICKI: Natürlich ist das hart. Aber Sie hören ja nicht zu. Sie sind eine Katastrophe als Interviewer.

Über das Verhältnis zu Ihrer Frau haben sich auch andere Gedanken gemacht.

REICH-RANICKI: Ich habe in meinem Buch ein Maximum darüber gesagt. Das reicht.

Walter Jens nannte Sie in einer Lobrede "das unemanzipierteste Mannsbild unter der Sonne" und wunderte sich, mit welch beispielloser Langmut Ihre Frau Sie erträgt.

REICH-RANICKI: Ja. Weiter!

Jens kennt Sie doch.

REICH-RANICKI: Lieber! Ich bin nicht sicher, ob Jens mich kennt. Ich war dreißig Jahre mit ihm befreundet, aber ich wage die Vermutung, wir haben ein halbes Leben lang aneinander vorbeigeredet.

Haben Sie versucht, ihm zu erklären, wer Sie wirklich sind?

REICH-RANICKI: Nein, soweit ich mich erinnere, habe ich einen solchen Versuch noch nie unternommen.

Keinem Menschen gegenüber?

REICH-RANICKI: Keinem Menschen gegenüber.

Ist es Ihnen unangenehm, sich schwach zu zeigen?

REICH-RANICKI: Ich bin kein Mensch, der das Bedürfnis hätte, seine Schwäche auf einem silbernen Tablett zu präsentieren. Aber woher wissen Sie, ob ich nicht manches als Niederlage empfinde in meinem Leben?

Als Scheitern...

REICH-RANICKI: Ja, natürlich. Haben Sie je von einem Autor gehört, der nicht gescheitert ist? Jawohl, es gibt solche Autoren! Das sind Autoren, die nichts wagen, die wissen, daß sie über einen Meter sechzig springen können und die sich die Latte nie auf ein Meter siebzig legen. Ich habe die Latte sehr oft in meinem Leben höher gelegt, als ich springen konnte. Manchmal bin ich rübergekommen, manchmal nicht.

Nennen Sie ein Beispiel!

REICH-RANICKI: Ein solches Beispiel gebe ich ungern. Ich werde Ihnen erklären, warum. Ich habe das schon öfter getan. Aber immer, wenn ich sage, da und da bin ich gescheitert, können Sie sicher sein, daß meine Gegner und Feinde das in zwei oder drei Monaten aufgreifen und, ohne mitzuteilen, daß sie es von mir haben, sagen: Bei dem und dem Roman, den er beurteilt hat, ist er völlig gescheitert. Muß ich denn meinen Feinden, um Ihr Interview interessant zu machen, Munition gegen mich liefern?

Sind die Feinde der Maßstab für Ihr Verhalten?

REICH-RANICKI: Nein, aber sehen Sie, ich habe jetzt bei der Affäre mit der Löffler Fehler gemacht, und meine Feinde haben sich sofort darauf gestürzt.

Ja, weil Sie die Fehler nicht zugeben wollten.

REICH-RANICKI: Wieso? Ich habe sie zugegeben.

In einem Interview mit der FAZ antworteten Sie auf die Frage, ob Sie die Grenzen des Erlaubten nicht überschritten hätten: "Ja, wahrscheinlich."

REICH-RANICKI: Genügt das nicht? Was Menschen Menschen mit Worten antun, mit Worten, nicht mit dem Messer oder dem Revolver, kann auch mit Worten wieder gut gemacht werden. Ich habe in der Hitze des Gefechts vielleicht Worte verwendet, die ich nicht hätte verwenden sollen. Es sind weitere Worte von mir von einem verantwortungslosen Journalisten, der ohne mein Wissen ein Tonband eingeschaltet hatte, abgedruckt worden...****

Darf ich Sie unterbrechen?

REICH-RANICKI: Nein, lassen Sie mich das zu Ende führen! Ich habe zu Frau Löffler Worte gesagt, mit denen ich sie nicht beleidigen wollte. Sie fand diese Worte verletzend, und ich war bereit, dies auf eine angemessene Art und Weise zu korrigieren, aber jetzt kommt das Wichtigste: Da eine Verständigung vorerst nicht möglich schien, hat der Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens, Herr Stolte, sich eingeschaltet...

Aber das weiß ich doch alles.

REICH-RANICKI: Nein, das wissen Sie nicht!

Das ist doch alles publiziert.

REICH-RANICKI: Nein, was jetzt kommt, ist nicht publiziert! Frau Löffler hat Bedingungen gestellt, das entspricht schon nicht der Sitte, daß man vor einem Verständigungsgespräch Bedingungen stellt. Aber diese Bedingungen wurden ihr zugestanden, und dennoch hat sie im letzten Augenblick abgesagt.

Ich wollte mit Ihnen über ganz anderes reden.

REICH-RANICKI: Ja, aber ich will dazu noch etwas sagen. Frau Löffler hat in der Diskussion über den Roman von Murakami zwei, drei Zitate gebracht, obszöne Zitate...

Ich habe die Sendung gesehen.

REICH-RANICKI: Lieber, das Gespräch gefällt mir nicht.

Mir auch nicht.

REICH-RANICKI: Sie lassen mich nicht ausreden.

Mich interessieren andere Themen.

REICH-RANICKI: Hören Sie mir jetzt zu! Was die Löffler gemacht hat, ist ein primitiver Fehler von Anfängern, die von Literatur keine Ahnung haben...

Jetzt gehen Sie ja schon wieder auf sie los.

REICH-RANICKI: Sie sind unerträglich! Das wird nichts! Ich gehe raus... (Steht auf, setzt sich wieder...) Was ich jetzt sage, wird Sie vielleicht interessieren. Die Löffler hat folgendes gemacht: Sie hat über den japanischen Roman gesagt, das sei Dreck, Fastfood und keine Literatur. Genauso hätte sie über ein deutsches Theaterstück urteilen können, in dem die Worte fallen: "Leck mich am Arsch!" Aber das sagt nicht Goethe, das sagt ein derber Ritter, sein Held.

Das Buch von Murakami ist ein Liebesroman. Was Sie unter Liebe verstehen, haben Sie in Ihrer Autobiografie***** genau beschrieben. Liebe sei eine "Sucht, die keine Grenzen kennt", "ein Außersichsein", das "zu einer Raserei führt, die der ganzen Welt Trotz bietet", "ein Segen und ein Fluch, eine Gnade und ein Verhängnis". Kann es sein, daß die Ablehnung des Romans durch Sigrid Löffler Sie deshalb so traf, weil sie Ihre Ansichten über die Liebe nicht teilen will?

REICH-RANICKI: Nein, bei Frau Löffler geht es um etwas anderes.

Sie nimmt Ihnen Ihr Lebenselixier, indem sie Ihnen die Liebe verleidet.

REICH-RANICKI: Das kann sie gar nicht. Dazu ist sie überhaupt nicht imstande. Es geht bei ihr um etwas ganz anderes. Ihr ist alles Poetische vollkommen fremd.

Sie schreiben: "Wir lieben, weil wir sterben müssen." Liebend haben Sie im Warschauer Getto die Nähe des Todes ertragen. Es stört Sie, wenn jemand nicht begreift, was Liebe für Sie bedeutet.

REICH-RANICKI: Was Sie sagen, ist richtig, wenn Sie es auf das Buch beziehen, über das wir gesprochen haben. Mich interessiert nicht, was Frau Löffler über die Liebe denkt. Mich stört, daß sie einen Liebesroman total verkannt und deshalb verrissen hat.

Ja, aber das hat doch damit zu tun, was Sie unter Liebe verstehen. Das sei, schreiben Sie "ein rauschhafter Zustand", der bis zur Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit führen kann. Zu solchen Räuschen ist die Frau vielleicht weniger fähig.

REICH-RANICKI: Also das halte ich für kompletten Schwachsinn, was Sie da sagen, daß Frauen die große Liebe nicht so empfinden können.

Den Rausch der Liebe.

REICH-RANICKI: Das sind Vorurteile, und zwar die primitivsten Vorurteile, die man sich denken kann.

Darf ich Ihrer Frau eine Frage stellen?

REICH-RANICKI: Nein!

Sie könnte vielleicht dazu etwas sagen.

REICH-RANICKI: Hören Sie auf! Hören Sie zu, was ich sage! Die Literatur erzählt von Frauen, die zum Rausch genauso fähig sind...

Die Männerliteratur.

REICH-RANICKI: Quatsch! Aber lassen wir das! Daß die Frauen zum Rausch der Liebe nicht in demselben Maße wie die Männer imstande seien, ist ein solcher Unsinn...

Sie sagen das mit geschlossenen Augen.

REICH-RANICKI: Darf ich nicht mal für einen Augenblick die Augen schließen? Weiter! Haben Sie Fragen? Konkrete Fragen!

Im Vorwort zu Ihrem Buch "Lauter Verrisse" schreiben Sie über den Untertanengeist der Deutschen, der eine Liebe zur Literaturkritik verhindert habe. Aber verdanken Sie nicht gerade diesem Untertanengeist Ihren Ruhm?

REICH-RANICKI: Einen solchen Unsinn habe ich in meinem Leben noch nie gehört.

Also gut...

REICH-RANICKI: Nein, das ist nicht gut.

Ich möchte einen Ausspruch von Adolf Muschg zitieren...

REICH-RANICKI: Ich spreche in meiner Einleitung über den Untertanengeist im wilhelminischen Deutschland. Heute ist eine ganz andere Situation. Wollen Sie wissen, warum? Nein, es interessiert Sie nicht! Sie suchen schon nach der nächsten Frage.

Ich höre zu.

REICH-RANICKI: Nein, tun Sie nicht.

Sie halten alle anderen Menschen für blöd.

REICH-RANICKI: Nein, nur Sie halte ich für ein großes Unglück. Nun hören Sie! Nachdem die Kritik im 20. Jahrhundert durch die Nazis verboten wurde, war danach das Verhältnis der Deutschen zur Kritik naturgemäß ein ganz anderes.

Muschg sagt: "Die Machtvollkommenheit, die ihm", er meint Sie, "das Publikum zugesteht, ist leider auch das Ergebnis subalterner Verhältnisse."

REICH-RANICKI: Ja gut, darüber müssen Sie sich mit Muschg unterhalten. Oh Gott, das ist nicht mein Thema.

Man muß Ihnen gehorchen.

REICH-RANICKI: Wissen Sie das so genau?

Ich merke es doch gerade.

REICH-RANICKI: Ulrich Greiner****** hat aufgrund jahrelanger Zusammenarbeit mit mir in der "Zeit" geschrieben, daß ich den Widerspruch liebe. Ich liebe den Widerspruch! Ich liebe die Diskussion und den Streit, schreibt Greiner, und da kommen Sie mir mit solchem Unsinn.

Man darf Sie nicht unterbrechen.

REICH-RANICKI: Sie lassen mich nicht meine Gedanken zu Ende führen.

Das macht doch nichts.

REICH-RANICKI: Ich hab' das nicht gern.

Das kommt doch im Leben immer wieder vor.

REICH-RANICKI: Nein.

Es kommt in Romanen vor.

REICH-RANICKI: Nein, nein.

Nicht?

REICH-RANICKI: Doch, aber mir paßt es nicht. Weiter!

Salomon Korn, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, hat in einem Fernsehinterview die Meinung vertreten, Ihr Streben nach Anerkennung sei eine Kompensation für die Erniedrigungen, die Ihnen das Leben zugefügt habe.

REICH-RANICKI: Das muß nicht falsch sein.

Ihre Erlebnisse im Warschauer Getto machen Sie resistent gegen die Anfeindungen, die Ihnen heute begegnen.

REICH-RANICKI: Das ist teilweise richtig. In eine schlimmere Situation als jene, in der ich mich in Warschau während des Zweiten Weltkriegs befand, bin ich nie mehr gekommen und kann ich auch nicht mehr kommen, es sei denn, in meiner Todesstunde. Da haben Sie völlig recht. Hinzu kommt, daß ich in meiner Umgebung Menschen habe, die mir nahe stehen, und daß meine Arbeit seit vielen Jahren viel Anerkennung findet auf die unterschiedlichste Weise. Diese Anerkennung trägt dazu bei, meine Situation besser auszuhalten. Mir war durch die geschichtliche Entwicklung das Studium der Germanistik, das ich mir erhofft hatte, verwehrt. Ich konnte nicht studieren. Ich beklage mich nicht, denn verglichen mit dem, was andere gelitten haben, ist das eine Kleinigkeit. Aber ich weiß genau, und viele Germanisten haben sich bemüht, das zu betonen, daß es sich bei mir um einen mehr oder weniger intelligenten oder begabten Dilettanten handelt, und ich will nicht verheimlichen, daß ich auch an einer gewissen Anerkennung durch die zünftige deutsche Germanistik interessiert gewesen war. Als ich meinen ersten Ehrendoktor bekam, in Uppsala, dachte ich mir, interessant, den gibt mir eine schwedische, keine deutsche Universität. Erst später ist man auch hier auf die Idee gekommen, in Düsseldorf, in Bamberg, in Augsburg...

Ist das nicht furchtbar unwichtig?

REICH-RANICKI: Für mich nicht, für Sie vielleicht. Wie können Sie so etwas sagen? Sie wollen mit mir reden. Ich sage, ich esse gern Sauerkraut. Da sagen Sie: Was hat das schon zu bedeuten?

Ich frage nur.

REICH-RANICKI: Gut, schön, weiter! Nächste Frage!

Sie sagen, die schlimmste Situation, in die Sie noch kommen können, sei Ihre Todesstunde. Empfinden Sie es als erniedrigend, sterben zu müssen?

REICH-RANICKI: Ich finde das Wort "erniedrigend" falsch. Es ist nicht erniedrigend, es ist schrecklich.

Warum?

REICH-RANICKI: Weil das Leben weitergeht. Ich habe darauf eine Antwort gegeben, die ich Ihnen gern wiederhole: Wenn ich sterbe, bedeutet das, daß ich die nächste Nummer des "Spiegel" nicht lesen kann. Das ist bedauerlich.

Sie antworten mit einem Bonmot.

REICH-RANICKI: Oh Gott, der "Spiegel" ist doch hier ein Symbol! Das verstehen Sie nicht.

Sie würden gern ewig leben, aus Neugier.

REICH-RANICKI: Diese Begründung, aus Neugier: nicht schlecht. Ja, aus Neugier.

Sie sagen das mit einem Lächeln.

REICH-RANICKI: Ja, kann man etwas Ernstes nicht scherzhaft sagen? Sie sind so teutonisch.

Ich bin gar kein Teutone.

REICH-RANICKI: Was sonst?

Österreicher.

REICH-RANICKI: Auch das noch!

Haben Sie Angst vor den Beschränkungen, die das Alter mit sich bringt?

REICH-RANICKI: Enorm!

Vor den körperlichen Beschränkungen?

REICH-RANICKI: Nicht nur. Ich habe die normale Angst eines Menschen in meinem Alter*******. Ich denke bei jedem Artikel, den ich schreibe und bei dem ich meine, na ja, ist nicht ganz schlecht geworden, es war der letzte, der nächste wird mir nicht mehr gelingen.

Sie dürfen die Angst nicht zulassen.

REICH-RANICKI: Nein, ich muß sehen...

Sie müssen sie verdrängen.

REICH-RANICKI: Nein, nein! Hören Sie zu! Meine ganzen Bemühungen zu formulieren, gehen zum Teufel, weil Sie nicht zuhören... Man muß das Möglichste tun, um die Angst produktiv zu machen. Haben Sie jetzt verstanden?

Ja, aber es gibt auch die lähmende Angst.

REICH-RANICKI: Natürlich! Natürlich gibt es die lähmende Angst. Die muß man verdrängen.

Sind Sie gesund?

REICH-RANICKI: Ja, Gott sei Dank. Was wollen Sie noch wissen?

Haben Sie Angst davor, daß Ihre Frau vor Ihnen stirbt?

REICH-RANICKI: Darüber möchte ich mich nicht äußern. Schluß! Weiter!

Darüber könnten Sie sich in Ihren wohlgeformten Sätzen vielleicht gar nicht äußern.

REICH-RANICKI: Sie! Lassen Sie das Thema in Ruhe! Bitte!

Sie würden weinen.

REICH-RANICKI: Sie wollen, daß ich mir den Tod meiner Frau vorstelle. Ich finde das bestialisch, und ich werde Sie noch rausschmeißen aus dieser Wohnung. Dazu werden Sie es noch bringen. Weiter! Next question!

Was soll ich noch fragen?

REICH-RANICKI: Einer der zentralen Fragen meines Lebens haben Sie sich noch nicht mal genähert. Sie haben keine Ahnung!

Soll ich nun raten?

REICH-RANICKI: Ich will es nicht sagen, wenn Sie nicht selbst draufkommen.

Liebe und Tod hatten wir schon.

REICH-RANICKI: Ja, weiter!

Blutdruck?

REICH-RANICKI: Ja, Blutdruck, sehr wichtig!

Das ist es?

REICH-RANICKI: Hören Sie auf! Fragen Sie mich, was Sie noch interessiert im Zusammenhang mit meiner Person!

Wie kommen Sie mit dem Haß zurecht, der Ihnen von Ihren Feinden entgegenschlägt?

REICH-RANICKI: Literaturkritiker sind immer hochunbeliebt, vorausgesetzt, daß sie Einfluß haben.

Peter Handke hat Ihnen den Tod gewünscht und Sie in einer Erzählung als blutdürstigen Hund dargestellt********, dem der Geifer von den "hängenden Lefzen" tropft.

REICH-RANICKI: Ich finde das widerwärtig. Seit Juden im Dritten Reich mit Läusen und Wanzen verglichen wurden, sind mir alle Vergleiche mit Tieren zuwider, und die sollten sich schämen, die sie benutzen.

Können Sie sich erklären, wie Handke zu solchen Vergleichen kommt?

REICH-RANICKI: Nein, das kann ich mir nicht erklären. Ich habe keine Lust, mir Gedanken darüber zu machen, warum mich Menschen ermorden wollen. Das ist doch genauso, als würden Sie mich fragen: Wie kommt ein junger Mann dazu, auf den Straßen von Warschau vierzig Juden mit der Pistole in der Hand dazu zu zwingen, daß sie rufen: "Wir sind dreckige Juden." Solche Fragen stellen Sie mir.

Da hört Ihre Neugier auf.

REICH-RANICKI: Ja, vollkommen.

Weil es Sie tief verletzt.

REICH-RANICKI: Was heißt "verletzt"! Es hat mich zutiefst getroffen. Da kommt einer und sagt, er wünscht mich zu ermorden, er möchte mich noch heute Abend erdrosseln, und Sie wundern sich, daß mich das trifft?

Aber nein, ich wundere mich nicht.

REICH-RANICKI: Das ist ein Gespräch für Geisteskranke! Da sagt einer, er wünscht meinen Tod, und ich soll lachen.

Nein, sollen Sie nicht!

REICH-RANICKI: Lieber, lassen Sie mich in Ruhe mit solchen Fragen! Sie wollen, daß ich mich mit der Psyche von Handke beschäftige. Das ist unglaublich!

Ich wollte wissen, wie Sie mit seinem Haß fertig werden.

REICH-RANICKI: Indem ich Musik von Mozart und Schubert höre und Gedichte von Goethe und Heine lese. Haben Sie das?

Ich glaube nicht, daß Heine genügt, um Sie zu beruhigen.

REICH-RANICKI: Ich habe gesagt, Goethe und Heine, Mozart und Schubert.

Ich glaube nicht, daß das genügt.

REICH-RANICKI: Dann glauben Sie es nicht! Ich will Sie nicht überzeugen.

Sie wollen gewisse Dinge für sich behalten.

REICH-RANICKI: Ist das verboten?

Nein.

REICH-RANICKI: Wenn ich jetzt etwas sage, werden Sie es nachher aus dem Manuskript streichen müssen. Also lassen wir es!

Darf ich Sie noch etwas zu Ihrem Vater fragen?

REICH-RANICKI: Ja, alles!

Ihr Vater war ein sehr weicher Mensch. Sie nennen ihn einen Versager. Sie konnten mit ihm nur Mitleid haben, schreiben Sie. Als er Pleite ging, haben Sie es als erniedrigend empfunden, von den reichen Verwandten abhängig zu sein. Ist meine Vermutung richtig, daß Sie deshalb nichts so sehr fürchten wie schwach zu sein?

REICH-RANICKI: Hundertprozentig, ja, selbstverständlich. Das lastet auf meinem ganzen Leben. Das war auch der Grund, warum ich Polen nach dem Krieg nicht verlassen habe. Meine Frau war 1945 der Ansicht, man müsse weggehen aus Polen. Aber ich hatte Angst. Ich hatte dort Arbeit. Es ging uns nicht gut, aber wir mußten nicht hungern. Ich dachte, um Gottes willen, wo gehen wir hin, wir werden irgendwelche Institutionen bitten müssen, daß sie uns helfen. Ich dachte, nur nicht in Abhängigkeit geraten von irgendwelchen Personen, Verwandten...

Aber dann gerieten Sie in eine noch viel schrecklichere Abhängigkeit...

REICH-RANICKI: Ja, ja. Ich bin nicht weggegangen, um nicht in diese Abhängigkeit zu geraten, und bin dann in eine noch viel schlimmere geraten, nämlich in die von der polnischen Diktatur.

Kann es sein, daß Sie durch Ihre Angst vor der Abhängigkeit korrumpierbar wurden?

REICH-RANICKI: Nein, ich war nicht korrumpierbar. Was da behauptet wird, stimmt alles nicht. Ich habe in Polen Kritiken geschrieben...

Ich meine, während Ihrer politischen Tätigkeit beim Geheimdienst.

REICH-RANICKI: Auch nicht. Man hat sich an mich gewandt, als noch Krieg war. Man sagte, wir brauchen Leute, die Deutschland kennen, die deutsch können, wir schicken Sie nach Berlin, damit Sie sich dort umsehen, dort gibt es Naziorganisationen...

Davon spreche ich nicht. Man wirft Ihnen vor, Sie hätten in Ihrer Zeit als polnischer Konsul in London Regimekritiker an die Kommunisten verraten.

REICH-RANICKI: Ja, ja...

Auch die Polen werfen Ihnen das heute vor.

REICH-RANICKI: Lieber, Sie müssen eines verstehen. Ich bin, seit ich Erfolg habe, von Neidern umgeben. Diesen Neid gibt es zum Teil auch im heutigen Polen.

Welche Gründe zum Neid haben die Polen?

REICH-RANICKI: Ach, verstehen Sie denn überhaupt nichts? Einer, der in Polen Kritiker war für deutsche Literatur und der nach Deutschland gegangen ist...

Den empfand man dort als Verräter.

REICH-RANICKI: Nein, als einen glücklichen Menschen! Er lebt in Deutschland und ist dort ein ganz wichtiger Mann, der führende Kritiker, und er verdient Geld, sein Buch ist ein Riesenerfolg. Der Neid ist enorm!

Warum, glauben Sie, bezeichnet Sie Günter Grass bis heute als einen Stalinisten?

REICH-RANICKI: Das wissen Sie nicht?

Er will Sie vernichten.

REICH-RANICKI: Nein, er will meine Urteile über ihn, die ihm mißfallen, desavouieren und disqualifizieren. Er will mich nicht vernichten. Es würde ihm genügen, wenn ich schweige. Aber im Grunde will er was anderes. Denn wenn ich schwiege, wäre er auch unzufrieden. Er möchte, daß ich ihn in meinen Artikeln über ihn und im Fernsehen lobe.

Das wird er nicht mehr erleben.

REICH-RANICKI: Wieso nicht?

Sie hoffen immer noch?

REICH-RANICKI: Selbstverständlich! Ich habe als einziger in Deutschland, beinahe als einziger, seinen letzten Gedichtband im Fernsehen gelobt. Alle fanden ihn schrecklich, ich habe ihn gelobt. Ich habe als erster öffentlich den Nobelpreis für ihn gewünscht und beantragt.

Den für Grass? Ich dachte, nur den für Böll.

REICH-RANICKI: Nein. Das sind zwei verschiedene Dinge. Im Falle Böll bin ich von der Akademie in Stockholm gefragt worden, wen ich vorschlage, und ich habe ihn vorgeschlagen, und im Jahr darauf hat er den Preis bekommen. Zu Grass hat mich die Akademie nicht gefragt, sondern Thomas Gottschalk...

Im Fernsehen?

REICH-RANICKI: Ja, er hat mich in einer Live-Sendung********* gefragt: Sie haben den Nobelpreis zu vergeben, ein deutschsprachiger Autor soll ihn bekommen, wer? Darauf sagte ich: Jawohl, ich gebe den Preis Günter Grass.

Wem sonst?

REICH-RANICKI: Wieso "wem sonst"?

Hätte ihn Martin Walser bekommen, wäre das für Sie, sagten Sie im "Spiegel", ein "schwerer Schlag" gewesen.

REICH-RANICKI: Es gibt ja noch andere Namen. Aber darauf wollen wir jetzt nicht eingehen.

Ist es nicht seltsam, einem Schriftsteller den Nobelpreis zu wünschen, den Sie, um nur ein paar Beispiele anzuführen, "geschwätzig", "ungenießbar" und "langweilig" nannten?

REICH-RANICKI: Ich habe nie gesagt, Grass sei geschwätzig.

Doch! In Ihrer Kritik der "Blechtrommel" steht: "Er wird immer wieder geschwätzig."

REICH-RANICKI: Ja, das ist doch etwas ganz anderes, wenn man ein bestimmtes Buch beurteilt. Sie verallgemeinern das gleich.

Von den Gedichten abgesehen, haben Sie bis auf die Erzählungen "Katz und Maus" und "Das Treffen in Teltge" alles verrissen.

REICH-RANICKI: Erstens, ich mag bestimmte Kapitel in der "Blechtrommel", in den "Hundejahren", auch in dem Buch "Der Butt", obwohl ich das nicht so bewundere. Es gibt eine Fülle guter Kapitel. Ich mag seine Lyrik und ich mag diese beiden Erzählungen. Zweitens: Ein Preis ist immer eine relative Sache. Ich sage, wenn ich Grass vorschlage, nicht, er sei fabelhaft, sondern ich sage, er habe am ehesten von allen deutschsprachigen Autoren den Nobelpreis verdient. Haben Sie das jetzt verstanden?

Natürlich.

REICH-RANICKI: Es kommt nichts heraus bei diesem Interview.

Seien Sie nicht so mißtrauisch!

REICH-RANICKI: Doch, völlig! Ich bin völlig mißtrauisch. Ich erkläre Ihnen wie einem Kind, was ich meine, und Sie begreifen nichts.

Ich bin der geborene Trottel.

REICH-RANICKI: Schön, was wollen Sie noch von mir wissen?

Ich möchte an Ihr Innerstes kommen.

REICH-RANICKI: Ja, an die Seele! Sie meinen die Seele. Also los, ran an die Seele! Bitte! Fragen Sie!

Worüber unterhalten Sie sich mit Ihrer Frau?

REICH-RANICKI: Also das geht Sie nun wirklich nichts an.

Ist mir klar.

REICH-RANICKI: Sie meinen, welche Gespräche wir führen? Wir sprechen über das Leben...

Und den Tod.

REICH-RANICKI: Nein, über die Menschen, über unsere Freunde. Auch über unseren Sohn sprechen wir.

Auch über Bilder, die Sie verfolgen?

REICH-RANICKI: Weiß ich nicht, vielleicht. Ich weiß nicht, was Sie da meinen. Ich will es nicht wissen.

Ich meine Bilder aus der Vergangenheit.

REICH-RANICKI: Ja, vielleicht. Wir erinnern uns an dieses und jenes. Es sind keine angenehmen Erinnerungen.

Wollen Sie darüber sprechen?

REICH-RANICKI: Es gibt eine Erinnerung, bei der ich bedaure, sie in meinem Buch nicht beschrieben zu haben. Eine halbe Seite hätte genügt. Wir saßen mit einigen Freunden in einer Wohnung. Es war während der letzten Wochen im Getto, als unsere Familien schon ermordet waren. Wir saßen da, vier Leute, die in dem Haus wohnten. Man durfte ja nicht auf die Straße, aber innerhalb des Hauses durfte man von einer Wohnung zur anderen. Plötzlich hörten wir, daß zwei deutsche Soldaten in das Haus kamen, lärmend die Treppe hochstiegen und dann mit dem Gewehr an die Türe schlugen. Der Inhaber der Wohnung öffnete. Die Soldaten kamen in das Zimmer, in dem wir saßen. Dort hing eine Lampe mit sechs Birnen und mit so Glasschalen darunter, verstehen Sie? Die brannten alle, und der eine Soldat schlug mit dem Gewehr auf die Lampen ein, und es zerbrachen sofort vier Birnen. Was ich nicht wußte, war, daß das so einen Krach macht. Sie können sich nicht vorstellen, welchen Krach das machte, so als würde das ganze Haus einstürzen. Dabei war es nur eine Lampe. Der Soldat brüllte etwas, und nun kommt der Augenblick, weshalb ich das hätte beschreiben sollen. Einer von uns, vielleicht acht Jahre älter als ich, ich war damals zweiundzwanzig, wurde von dem Soldaten bedroht, und dieser Mann fiel auf die Knie, hob die Hände und bat um Barmherzigkeit. Er bat um sein Leben. Die Soldaten haben noch weitergebrüllt und sind dann rausgegangen, und der auf den Knien Liegende ist mühevoll aufgestanden, und wir konnten ihm alle nicht in die Augen sehen, obwohl ich gar nicht weiß, ob ich mich anders verhalten hätte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn der Soldat den Karabiner genommen und auf mich gezielt hätte. Ich weiß es nicht. Dieses Erlebnis habe ich in meinem Buch nicht beschrieben. Warum? Ich habe nicht daran gedacht.

Mir drängt sich eine Frage auf.

REICH-RANICKI: Welche?

Erwarten Sie, daß man Sie, der so viel erlitten hat, mit mehr Respekt behandelt?

REICH-RANICKI: Nein. Das Wort "Respekt" gefällt mir nicht. Ich erwarte etwas anderes, und ich will es Ihnen am Beispiel Löffler erklären. Sie hat, um zu dem Gespräch nach Mainz zu kommen, drei Bedingungen gestellt. Eine Bedingung war, daß ich ihr einen Brief schreibe, in dem steht, daß ich dieses Treffen sehr wünsche und daß ich hoffe, daß es zu einer Verständigung führt. Ich habe diesen Brief sofort geschrieben. Sie hat nie geantwortet, bis heute nicht. Wäre sie gekommen, wir hätten uns versöhnt oder nicht versöhnt, beides ist möglich, beides ist akzeptabel. Aber nicht akzeptabel, abscheulich und abstoßend ist die Verweigerung eines Gesprächs. Das Schlimmste, was ich der Frau vorwerfe, ist ihre Unversöhnlichkeit.

Sie war verletzt. Sie hatten sie als "widerliches, niederträchtiges Weib" bezeichnet.

REICH-RANICKI: Das ist was anderes. Ich war erregt, Herrgott, und ich hatte keine Ahnung, daß da ein Tonband läuft.

Ja, aber warum ist sie denn widerlich?

REICH-RANICKI: Weiß ich nicht. Wenn Sie das nicht wissen!

Hat es mir ihren Ansichten zu tun?

REICH-RANICKI: Über Literatur?

Ja.

REICH-RANICKI: Nein, überhaupt nicht. Die Gedanken sind frei. Ich bin sehr tolerant. Nein, mit ihren Urteilen über Literatur hat es nichts zu tun. Das Buch von Murakami, über das wir im "Quartett" sprachen, war nur der äußere Anlaß für ihren Haßausbruch. Sie wußte, daß ich es vorgeschlagen hatte. Sie durfte sehr wohl sagen, sie finde es schlecht. Aber sie hat gesagt: Platzverweis! Rausschmeißen! Über ein Buch, das ich vorgeschlagen hatte!

Woher, glauben Sie, kommt dieser Haß?

REICH-RANICKI: Das fragen Sie? Mich haben viele Menschen in meinem Leben gehaßt. Soll ich Ihnen erklären, warum?

Weil Sie ihre Bücher verrissen haben.

REICH-RANICKI: Ach, nur deshalb?

Die anderen Gründe kenne ich nicht.

REICH-RANICKI: Wenn Sie nachdenken, werden Sie auch die anderen Gründe finden. Ich wecke sehr oft negative Gefühle.

Weil Sie laut sind.

REICH-RANICKI: Das ist wahrscheinlich ein Symptom. Daß ich laut bin, ist nur ein Symptom. Sie wollen, daß ich Ihnen erkläre, warum mich viele Leute nicht leiden können...

Sie meinen doch nicht, weil Sie ein Jude sind?

REICH-RANICKI: Aha, mmmhh, das hat also nichts damit zu tun?

Ich kann mir das gar nicht vorstellen.

REICH-RANICKI: Ach, Sie können sich das nicht vorstellen?

Das wäre ja schrecklich.

REICH-RANICKI: Ich habe Ihnen doch gesagt, eines der zentralen Themen meines Lebens haben Sie überhaupt nicht berührt. Das ist natürlich das Thema des Antisemitismus. Danach werde ich nie gefragt, weil das ja so langweilig ist. Der Antisemitismus spielt in meinem Leben eine enorme Rolle. Da muß man ja blind und taub sein, um das nicht zu sehen.

In Ihrem heutigen Leben?

REICH-RANICKI: In meinem ganzen Leben... Jetzt hören Sie zu! Ich kann Ihnen dazu etwas sagen. Das werden Sie schreiben, aber Sie werden es nicht verstehen. Die Frage, ob es heute in Deutschland Antisemitismus gibt, kann überhaupt nicht beantwortet werden, weil nicht geklärt ist, was man unter dem Wort "Antisemitismus" versteht. Ich will Ihnen das genau erklären. Sind Antisemiten jene, die glauben, die Juden hätten in dem Land eigentlich nichts zu suchen, sie sollten keine Rolle im öffentlichen Leben spielen? Sind das die Antisemiten? Oder sind es jene Leute, die zwar meinen, jede Diffamierung und Diskriminierung von Juden sei unzulässig, die Juden müßten genauso behandelt werden wie die anderen Bürger, selbstverständlich, sie sollten auch wichtige Positionen im öffentlichen Leben haben, die aber zugleich der Ansicht sind, daß ihnen die Juden auf die Nerven gehen, und die, bei aller Gerechtigkeit für die Juden, abends, wenn sie mit Freunden beim Bier sitzen, lieber keinen Juden am Tisch haben wollen? Denn es könnten, wenn ein Jude dabeisitzt, gewisse Themen vielleicht nicht so ganz frei besprochen werden. Verstehen Sie? Oder ist Ihnen das völlig neu?

Nein, aber können Sie sich vorstellen, daß Sie den Leuten vielleicht aus anderen Gründen auf die Nerven gehen?

REICH-RANICKI: Ach, bitte verlangen Sie nicht immer von mir, daß ich mir etwas vorstelle! Ich habe keine Lust, mir etwas vorzustellen. Das kommt mir so vor, als wolle mir jemand an die Gurgel, und Sie fragen: Können Sie sich vorstellen, daß der Mensch Gründe hat? Er ist vielleicht aufgeregt. Er hat mit seiner Frau Krach gehabt. Er muß sich entladen.

Die Frage ist, warum er das ausgerechnet bei Ihnen tut.

REICH-RANICKI: Weil ich auffalle! Wenn ich ruhig zu Hause säße, wäre meine Lebenssituation eine andere. Aber ich publiziere Kritiken, und zwar nicht in irgendeiner Literaturzeitschrift, sondern im "Spiegel", in der FAZ. Ich trete im Fernsehen auf.

Als jemand, der auffällt, wären Sie auch als Nichtjude angefeindet.

REICH-RANICKI: Möglich. Weiß ich nicht.

Man soll still und bescheiden sein.

REICH-RANICKI: Jawohl, still bin ich nie gewesen.

Ihr Schreien hat mit Verzweiflung zu tun.

REICH-RANICKI: Vielleicht, denn ich habe jahrelang schweigen müssen. Ich habe jahrelang mit meiner Frau, als wir im Verborgenen lebten, nur flüstern können. Vielleicht hat es damit zu tun.

Haben Sie es je verflucht, ein Jude zu sein?

REICH-RANICKI: Nein, ich habe es nicht verflucht. Aber wenn sich meine Ururgroßeltern hätten taufen lassen, und ich als Nichtjude geboren wäre und gar nicht gewußt hätte, daß da irgendwelche Vorfahren Juden waren, oohhh...

Das wäre Ihnen lieber gewesen.

REICH-RANICKI: Oh Gott, wieviel lieber wäre mir das gewesen! Fragen Sie einen Schwulen, ob er nicht lieber als Nicht-Schwuler geboren wäre! Fragen Sie jeden Angehörigen einer Minderheit! Es ist nicht angenehm, einer Minderheit anzugehören. Das kann ich Ihnen mit voller Verantwortung sagen. Es ist schon viel bequemer, nicht einer Minderheit anzugehören.

Außer man sieht es als eine Aufgabe an.

REICH-RANICKI: Ja, es bleibt einem nichts anderes übrig. Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe... Es gibt doch diesen Witz, da sagt ein Jude: Lieber Gott, du hast unser Volk auserwählt, es reicht, jetzt wähl dir mal ein anderes aus.

Sie können noch Witze machen.

REICH-RANICKI: Ja, warum nicht?

Glauben Sie nun, daß aus diesem Interview doch etwas werden könnte?

REICH-RANICKI: Wenn Sie sich ein bißchen Mühe geben, ja. Sie müssen sich Mühe geben.

Was machen Sie heute noch?

REICH-RANICKI: Nichts! Sie haben mich dermaßen angestrengt. Sie sind ein schrecklicher Mensch, ein abscheulicher Mensch, ein furchtbarer Mensch.

Ihre Frau schweigt und lächelt.

DIE FRAU: Ich habe einen Mann, der viel redet. Deshalb schweige ich.

REICH-RANICKI: Schreiben Sie: Ich freue mich auf das Lächeln meiner Frau.

---------------

*) Gemeint ist die Sendung vom 18. August 2000, in der zum erstenmal die "Zeit"-Redakteurin Iris Radisch die aus Protest ausgeschiedene österreichische Literaturkritikerin Sigrid Löffler ersetzte. In der vorigen Sendung (30. Juni 2000) hatte Marcel Reich-Ranicki Löffler persönlich beleidigt ("Sie halten die Liebe für etwas anstößig Unanständiges"), weil sie den von ihm gelobten Roman "Gefährliche Geliebte" des Japaners Haruki Murakami als "vollkommen sprachlich kunstloses Gestammel" bezeichnet hatte.

**) Zitiert aus Arthur Rimbauds Brief an seinen Freund Paul Demeny vom 15. Mai 1871

***) Marcel Reich-Ranickis Ehefrau Teofila (Heirat am 22. Juli 1942 im Warschauer Getto) saß während des ganzen Interviews schweigend neben ihrem Mann auf dem Sofa. Erst bei einem anschließenden Essen in Reich-Ranickis Frankfurter Stammlokal redete sie ein wenig.

**** Der Klatschreporter Paul Sahner von der Zeitschrift "Die Bunte" hatte Marcel Reich-Ranicki am 30. Juli 2000 angerufen, dessen telefonische Äußerungen mit einem Tonband aufgenommen und später veröffentlicht. Unter anderem hatte Reich-Ranicki über Sigrid Löffler gesagt: "Das ist ein widerliches, niederträchtiges Weib."

*****) "Mein Leben", Deutsche Verlagsanstalt, 1999

******) Ulrich Greiner, deutscher Journalist, von 1970 bis 1980 Redakteur im Feuilleton der FAZ, von 1986 bis 1995 Feuilletonchef bei der "Zeit"

*******) Marcel Reich Ranicki (geboren am 2. Juni 1920 in Włocławek, Polen) war zum Zeitpunkt des Interviews achtzig Jahre alt.

********) In einem Gespräch, das ich 1988 für die "Zeit" mit Peter Handke führte, sagte der Dichter über Marcel Reich-Ranicki: "Mich hat, was der schreibt, vor zehn Jahren, das gebe ich zu, sehr beschäftigt, weil er dachte, nun hätte er mich endgültig zur Strecke gebracht. Da habe ich mir gesagt, na, jetzt werden wir mal schauen. Ich glaube, daß ihm der Geifer noch immer von den Fangzähnen tropft... Ich kenne viele, die finden ihn amüsant. Die haben gar keinen Stolz. Die sagen, wenn der einmal stirbt, wird man das sehr bedauern. Dem kann ich nun nicht beipflichten." In seinem Buch "Die Lehre der Sainte-Victoire" beschreibt Handke Reich-Ranicki folgendermaßen: "Vor mir, hinter dem Zaun, stand ein großer Hund - eine Doggenart -, in dem ich sofort meinen Feind wiedererkannte... Sein Körper wirkte bunt, während Kopf und Gesicht tiefschwarz waren. 'Sieh dir das Böse an', dachte ich. Der Schädel des Hundes war breit und erschien trotz der hängenden Lefzen verkürzt; die Dreiecksohren gezückt wie kleine Dolche. Ich suchte die Augen und traf auf ein Glimmen. In einer Brüllpause, während er um Atem rang, geschah nur das lautlose Tropfen von Geifer... Sein Leib war kurzhaarig, glatt und gelbgestromt; der After markiert von einem papierbleichen Kreis; die Rute fahnenlos... Im Blick zurück auf den Hund sah ich, daß ich gehaßt wurde. Doch zu sehen war auch die Qual des Tiers, in dem sich gleichsam etwas Verdammtes umtrieb..."

*********) Gemeint ist die ZDF-Sendung "Wetten daß..."

----------------

Erschienen in einer vom Interviewten stark verkürzten und verstümmelten Fassung unter der Überschrift "Sie sind ein abscheulicher Mensch" am 15. Oktober 2000 im Berliner "Tagesspiegel". Sogar meine Fragen hatte Reich-Ranicki teilweise verändert.

--
Ihr könnt mich alle mal


gesamter Thread:

 RSS-Feed dieser Diskussion

powered by my little forum