Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Doing Gender - Rainer Paris - Kritik dazu

DschinDschin, Friday, 04.08.2006, 18:40 (vor 6941 Tagen) @ DschinDschin

aus single-generation: single-generation

Was wäre wenn...

1968 gilt den einen als Chiffre für die Befreiung Deutschlands aus dem Muff der Nachkriegszeit, den anderen gilt es als eine Art Untergang des Abendlandes. Der Mythos 1968 ist der Ausgangspunkt für die Nostalgiker auf beiden Seiten geworden.
Die Erzählungen jener, die - je nach Standpunkt durchaus unterschiedliche - ungeliebte Errungenschaften der letzten 35 Jahre rückgängig machen möchten, beginnen mit 1968 (die Nennung ist dazu gar nicht mehr notwendig) und fahren dann mit Folgen fort, die eine Linearität der Geschichte voraussetzen, die selten gegeben ist, aber im Nachhinein an Plausibilität zu gewinnen scheint.

Die neue Männerbewegung formiert sich

Rainer PARIS hat sich mit dem Beitrag Doing Gender eingereiht in die neue Männerbewegung, die im Gleichschritt mit dem Postfeminismus unserer Tage, gegen den Popanz des 70er-Jahre-Feminismus (Feindbild Alice SCHWARZER) angetreten ist, um den Tod des Märchenprinzen (Svende MERIAN) zu verhindern.
Spätestens seit dem Erfolg von Michel HOUELLEBECQs Romanen Ausweitung der Kampfzone und Elementarteilchen trauen sich auch weniger mutige Männer an die Front des Geschlechterkrieges, um dem kränkelnden Mann zu seinem Recht zu verhelfen:
# "Nichts erhöht das Aggressionsniveau einer Gesellschaft mehr als die Vergiftung der Geschlechterverhältnisse. Sie raubt den Menschen das emotionale Hinterland, die Hoffnung, daß es jenseits der privaten Miseren und Katastrophen vielleicht doch eine Chance von Glück geben könnte. Wenn sich bei einer relevanten Minderheit von Männern das Grundgefühl ausbreitet, daß es keine Frauen mehr gibt, zumindest keine, die es wert scheinen, begehrt zu werden, so ist dies in seinen atmosphärischen Auswirkungen und Folgen für die mentale Verfaßtheit der gesamten Gesellschaft kaum zu unterschätzen."

Damit ist die Motivation von Rainer PARIS? Streitschrift gegen den 70er-Jahre-Feminismus auf jenen Punkt gebracht, der nicht wenigen Männern aus der Seele sprechen dürfte.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen

In einer Zeit, in der neoliberaler Arbeitsplatzabbau, Niedriglohnsektor und Umbau des Sozialstaats die traditionelle (Flucht-)Sphäre des Mannes bedroht (ganz zu schweigen vom Einbruch weiblicher Konkurrenz), muss der private Rückzugsort - traditionell als Ehe und Familie gedacht - aufgeräumt sein.
Das bescheidene Männerglück wohnt also im Winkel der neuen Klassengesellschaft. PARIS hilft bei der notwendigen Entrümpelung der Privatsphäre, indem er erstens die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausblendet und zweitens diese öffentliche Sphäre auf den Aspekt des Geschlechterhasses reduziert.

Die Berliner Republik und ihre Hamburger Verhältnisse

Am Anfang der Erzählung von PARIS steht ein scheinbar belangloser Vorfall in einem Berliner Stadtteil: Eine Frau mokiert sich über das Verhalten eines männlichen Hundebesitzers.
Für PARIS ist diese Szene das Urbild eines feministischen Rassismus, dessen Entstehen er im Rahmen der Neuen sozialen Bewegungen verortet:
# "Was (...) Feminismus und Frauenbewegung von anderen Bewegungen dieser Ära unterscheidet und die (...) Dynamik noch einmal verschärft, ist ein Mechanismus, den ich analytisch als Externalisierungssperre bezeichnen möchte. Gemeint ist folgendes: Während man als Trotzkist, Autonomer, Friedensmensch oder Anti-AKW-Kämpfer all seine Wut und Protestenergie auf klar konturierte und zugleich weit entfernte >Zentren des Bösen« (...) richten, den Feind also externalisieren kann und somit in seinem sonstigen Alltag im Grunde nicht weiter tangiert ist, lauert für die frauenbewegte ?Frau der Feind, also der männliche Unterdrücker, an allen Ecken und enden: Zu Hause, auf der Straße, im Beruf - überall Männer!"

PARIS verharmlost hier einerseits Kader- und Sektenstrukturen innerhalb der männlichen Neuen Linken, um sie anderseits den Auswüchsen der feministischen Bewegung gegenüber zu stellen.
Das Urbild des öffentlichen Geschlechterhass, den PARIS beschreibt, findet sich bei Svende MERIAN im Kultbuch Der Tod des Märchenprinzen. Das Buch beschreibt die "Hamburger Verhältnisse" am Ausgang der 70er Jahre:

"Ich bin 24, und es ist das erste Mal, daß ich einem Typen, der mich angebrabbelt, eine gescheuert hab. Und ich bin alleine. Ich bin alleine in der S-Bahn. Keiner kennt mich hier. Keine Feministin in Sicht, die eingreifen würde, wenn der Typ zurückschlägt. Ich bin alleine und habe es gewagt, einem fremden Typen in der Öffentlichkeit eine zu scheuern.
Ich bin 24. Seit ungefähr zehn Jahren werde ich täglich angegafft, angesabbelt und angegrabbelt. heute habe ich zum erstenmal zurückschlagen können. Zehn Jahre habe ich dazu gebraucht, lange genug. Aber was sind schon die zehn Jahre, die ich hinter mir habe, wenn ich daran denke, daß ich ab heute täglich den Mut haben werde, mich auch körperlich zu wehren."
(aus: Svende Merian "Der Tod des Märchenprinzen", 1980)

Rainer Paris als Vertreter der neuen Identitätspolitik

Was PARIS aber im Grunde kritisiert, das ist die Identitätspolitik, die in der Lesben- und Schwulenbewegung entwickelt und seit dem letzten Bundestagswahlkampf selbst die CSU erreicht hat.
Mit Katherina REICHE ist Identitätspolitik im Mainstream der Minderheiten angekommen, denn nicht mehr randständige Minderheiten, sondern alte & neue Mitte haben den Spieß umgedreht und betreiben nun ihrerseits Identitätspolitik.
PARIS? Beitrag ist Teil dieser Identitätspolitik, die im Gewande der Normalisierung daher kommt und der Normalität zum Recht verhelfen möchte. Die neue Konfliktlinie heißt Familien contra Singles.
Als Vertreter der Normalität stilisiert sich PARIS zum Gemeinwohl-Kämpfer gegen den partikularistischen Extremismus. Lesben und Schwule werden hier zum Alibi, um der Normalfamilie und dem dazu notwendigen Normalpaar das Wort zu reden:

"Höflichkeit wird Zurücksetzung und bekräftigt >traditionelle Rollenklischees« (...). Kontakte und Annäherungen werden zur >Anmache«, Hausarbeit ist von nun an Ausbeutung. Die Umwälzung der Wahrnehmung und Gewohnheiten ergreift den gesamten Alltag und krempelt ihn um."

Am Ende steht für PARIS die Verachtung von Konvention und Rollenhaftigkeit und damit das Erlöschen des männlichen Begehrens angesichts des Todes der Erotik.
Die Nach-68er-Soziologie hat das veränderte Geschlechterverhältnis mit einem Wechsel von der Rollen- zur Identitätstheorie nachvollzogen.
PARIS greift nun auf die vor-68er-Rollentheorie zurück, um das moderne Geschlechterverhältnis zu kritisieren.
Rollen setzen unhinterfragbare Institutionen voraus, weswegen die bürgerliche Ehe die Folie ist, vor der alle anderen Lebensformen als defizitär erscheinen müssen.

Das Alleinleben als defizitäre weibliche Lebensform?

Im Rückgriff auf die Studie Singlefrau und Märchenprinz des französischen Soziologen Jean-Claude KAUFMANN beschreibt PARIS die Einsamkeit der Karrierefrau:

"Abgeschnitten vom traditionellen Modell des Privatlebens (Mann, Kind, Haus), das sie als ?erhobenen Zeigefinger? gleichwohl tief verinnerlicht hat, findet sich die solo lebende Frau im gesellschaftlichen und emotionalen Niemandsland wieder. Umstellt von Bildern des Paares und der Familie erlebt sie sich auch dort als zerrissen und defizitär, wo sie beruflich erfolgreich und nach außen hin alles in Ordnung ist. Ja mehr noch: Gerade die Perfektheit des schönen Scheins, mit dem sie ihr Leid kompensieren sucht, sondert sie immer stärker von den wenigen noch in Frage kommenden Männern ab und zwingt sie, die ?Flugbahn der Autonomie? fortzusetzen. Um sich ihren Nachteil erträglich zu machen, akzentuiert sie die Vorteile ihres Nachteils, die den Nachteil wiederum zementieren."

Diese typisch männliche Lesart - darauf weist PARIS selbst hin - ist für das Alleinleben nicht repräsentativ. Sie entspricht jedoch dem Wunschbild frustrierter Männer ideal.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass es diesen Typus der einsamen, allein lebenden Karrierefrau gibt, quantitativ bedeutsam ist er jedoch nicht.
Das Alleinleben im mittleren Lebensalter ist MÄNNLICH! Es kommt noch schlimmer: allein lebende Männer sind im Vergleich mit verheirateten Männern und allein lebenden Frauen gewöhnlich schlechter gebildet und überproportional unter den Geringverdienern zu finden.
Alleinleben im mittleren Lebensalter ist also - wenn überhaupt - die typische Lebensform männlicher Modernisierungsverlierer.
Mit der Abschaffel-Trilogie hat der Schriftsteller Wilhelm GENAZINO einen Prototyp des allein lebenden Modernisierungsverlierers beschrieben.
Davon abgesehen. Was nicht vergessen werden darf: Alleinleben ist weder identisch mit Alleinwohnen, noch mit Partnerlosigkeit.
Die Perspektive des Haushaltsansatzes kann die Lebensverhältnisse von Alleinlebenden nicht beschreiben und führt deshalb zu folgenschweren Missverständnissen und Fehlinterpretationen des Alleinlebens.

Basta!

Was wäre, wenn 1968 nicht stattgefunden hätte? Gemäß PARIS wäre dann die Welt noch in Ordnung:
# "Grundsätzlich lassen sich in der Soziologie der Paarbeziehung zwei Typen oder Bilder von Paaren unterscheiden und gegenüberstellen: asymmetrische Harmonie und kommunikative Partnerschaft."

Das erste Ideal entspricht der bürgerlichen Ehe, die zweite Paarform steht in nicht-ehelichen Lebensformen mit ihren Aushandlungen im Vordergrund.
Obgleich beide Formen Vor- und Nachteile besitzen, bringt PARIS nur der ersten Form Sympathie entgegen. Das "Diktat der Gleichheit" betone das Sachliche, statt Affekt und Leidenschaft. Androgynität ist für PARIS das eigentliche Problem als "Austilgen der Verschiedenheit". Und das "Säurebad der Diskussion" sollte am besten durch ein Basta wie vom Kanzler zum Schweigen gebracht werden.

Fazit

Es würde zu weit führen PARIS en Detail zu widerlegen. Es dürfte auch kaum einen Mann geben, der nicht gelegentlich den Feminismus und die moderne Partnerschaft verflucht, obgleich er im großen und ganzen zufrieden ist.
Wenn auch PARIS und andere frustrierte Männer ungern den Preis des modernen Gleichheitsstreben zahlen möchten, den Preis der früheren Ungleichheit möchte so mancher auch nicht zahlen.
In der Realität entwickeln sich selbst in modernen Partnerschaften Rituale und Gewohnheiten, die Aushandlungsprozesse in Grenzen halten oder gar unterlaufen. Das ganze Spektrum postmoderner Paarformen wird von PARIS auf ein Schwarz-Weißbild reduziert. Abgesehen davon, beschränken sich einige Probleme auf bestimmte Milieus.
Im Beitrag von PARIS fehlen gerade jene Aspekte, die heutzutage das Leben der Männer beeinträchtigen: der demografisch bedingte Männerüberschuss und die veränderten Bedingungen der Dienstleistungsgesellschaft.
Stattdessen muss der 70er-Jahre-Feminismus als Sündenbock herhalten und das Alleinleben im mittleren Lebensalter wird als weibliche Domäne, statt als männliches Problem beschrieben. Die Perspektive von PARIS ist deshalb für die Lösung der anstehenden Probleme eher hinderlich.
Die Ignoranz gegenüber der Pluralität von Lebensformen verkennt, dass Lebensformen für bestimmte Menschen und bestimmte Lebensphasen optimaler sein können als andere. Nicht Homogenisierung wie in den idealisierten 50er-Jahren ist die Lösung, sondern Differenzierung.
Eine angeblich Beste aller Lebensformen für alle Menschen durchsetzen zu wollen, das ist auch eine Form von Fundamentalismus.

--
Barbarus hic ergo sum, quia non intellegor ulli.


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