Messerattacken und Herkunft (Das hat nichts mit Nichts zu tun)
"In unserer Forschung können wir keinen Zusammenhang sehen"
Die Messerattacke von Brokstedt erschüttert Deutschland. Was trieb den Täter zu diesem Angriff? Eine Expertin gibt Antworten auf die drängendsten Fragen.
In einem Zug zwischen Kiel und Hamburg hat ein Mann am Mittwoch mit einem Messer auf Mitreisende eingestochen. Zwei Menschen sind tot, fünf weitere und der Täter selbst wurden verletzt. Hier lesen Sie mehr dazu.
Was einen Menschen zu einer solchen Tat motiviert und was dagegen getan werden müsste, erklärt die Juristin und Expertin für Messerkriminalität, Elena Rausch, im Interview.
t-online: Frau Rausch, am Mittwoch tötete ein Mann in einem Zug in Norddeutschland zwei junge Menschen. Was bewegt jemanden zu einer solchen Tat?
Elena Rausch: Der Einsatz von Messern ist eine besonders extreme Form der Gewalt. Unsere Forschung legt nahe: Wenn jemand mit einem Messer auf andere losgeht, kommen oft mehrere Faktoren zusammen.
Welche sind das?
Häufig befindet sich der Täter in einer psychischen Ausnahmesituation. Oft spielt auch der Konsum von chemischen Substanzen, Drogen, vor allem aber Alkohol, eine Rolle. Ein weiterer Risikofaktor kann sein, dass die Person zuvor selbst Opfer von Gewalt geworden ist.
Bei dem aktuellen Fall in Brokstedt gibt es erste Hinweise, dass der mutmaßliche Täter "geistig verwirrt" sein könnte.
Das kann möglicherweise auch in diesem Fall eine Rolle spielen. Von außen lässt sich das aber erst einmal nicht beurteilen. Natürlich wird nicht jeder, der psychisch krank ist, ein Gewalttäter. Ein wichtiger Faktor, warum sich eine Person mit einem Messer bewaffnet, kann allerdings sein, dass sie sich bedroht fühlt – aus welchen Gründen auch immer. Ist eine Person psychisch krank, kann das häufiger vorkommen.
Warum?
In bestimmten Zuständen können psychisch kranke Personen nicht mehr rational abwägen. Unter Umständen schätzen sie bestimmte Situationen falsch ein. Nehmen sie dann noch Drogen oder Alkohol zu sich, kann das dieses Bedrohungsgefühl sogar noch verstärken.
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Immer wieder gibt es Berichte von solchen Messerattacken an Bahnhöfen oder in Zügen. Warum kommt es dort gehäuft zu solchen Vorfällen?
Das ist unsere Wahrnehmung, stimmt. Tatsächlich aber sind solche Messerangriffe im öffentlichen Raum eher selten, viel häufiger kommen sie im privaten Umfeld vor. In nur rund 28 Prozent der Fälle geht ein Angreifer mit einem Messer auf Unbekannte los. Umgekehrt heißt das: Der Großteil solcher Taten findet nicht in einem Zug statt.
Nur bekommen sie da mehr Aufmerksamkeit?
Genau. Es ist klar, dass solche Taten auf ein großes öffentliches Interesse stoßen. Das liegt schon an der Situation: Menschen sind dem Angreifer dort ausgeliefert und können sich der Situation nicht entziehen. Deshalb machen solche Taten besonders Angst. Aber noch einmal: Es ist wichtig zu sagen, dass das nicht häufig vorkommt.
Bei dem Tatverdächtigen soll es sich um einen staatenlosen Mann aus Palästina handeln. Kommt es unter Menschen mit Migrationsgeschichte häufiger zu einer solchen Tat?
Nein, die Herkunft hat nichts mit einer Messerattacke zu tun. In unserer Forschung können wir keinen Zusammenhang zwischen der Staatsangehörigkeit oder kulturellen Hintergründen und dem Einsatz eines Messers sehen. Überhaupt sind Menschen mit ausländischer Herkunft in der Minderheit bei solchen Messerangriffen.
Im Kontext von psychischen Erkrankungen können viele Faktoren eine Rolle spielen. Es ist sicherlich so: Für Menschen, die beispielsweise geflüchtet sind, sind das oft traumatische Erfahrungen. Und in Deutschland machen diese Menschen häufig nicht die besten Erfahrungen. Das kann auch zu einer ablehnenden Haltung der Gesellschaft gegenüber führen.
Ein Trauma allerdings führt nicht zwangsläufig zu einer Messerattacke. Es geht darum, wie eine Person, die traumatisiert ist, aufgefangen wird. Wenn das nicht geschieht, kann ein solches Trauma aber durchaus ein Risikofaktor sein.
Was müsste also getan werden?
Ein Messer hat jeder zu Hause in der Küchenschublade. Das können wir also nicht einfach verbieten wie beispielsweise Schusswaffen. Deshalb müssen die Risikofaktoren angegangen werden: Besonders wichtig ist der Aspekt der psychischen Gesundheit, nicht nur bei Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, sondern insgesamt.
Umstände wie etwa Krieg, eine Pandemie oder auch eine Energiekrise können psychische Probleme begünstigen. Das muss durch entsprechende Angebote aufgefangen werden. Auch ist wichtig, dass die Stigmata, die mit psychischen Erkrankungen verbunden sind, abgebaut werden.
Der Tatverdächtige in dem aktuellen Fall war offenbar bereits zuvor wegen eines Angriffs mit einem Messer verurteilt worden, der Mann hat jedoch Berufung eingelegt. Erst vor wenigen Tagen kam er aus der Untersuchungshaft. Wenn ein Mensch einmal ein Messer eingesetzt hat – kommt es dann häufiger zu solchen Attacken?
Nein, zwischen vorherigen Delikten und einem erneuten Einsatz eines Messers konnten wir keinen Zusammenhang feststellen. Es ist nicht zwangsläufig so, dass eine Person, die ein Messer einsetzt, das nochmals tut. Wenn allerdings an den Risikofaktoren nichts getan wird, kann das natürlich sein.
Muss es also auch in der Haft eine bessere psychologische Betreuung geben?
In der Strafhaft gibt es bereits viele therapeutische Angebote. Der Tatverdächtige im jetzigen Fall allerdings befand sich in Untersuchungshaft, da er noch nicht rechtskräftig verurteilt war. Dort sind die Möglichkeiten beschränkt; es macht beispielsweise keinen Sinn, in der U-Haft eine Psychotherapie zu beginnen, wenn die Person eventuell in zwei Wochen entlassen wird. Das kann am Ende sogar mehr schaden als helfen.
Elena Rausch
ist Expertin für Messerkriminalität. Die Juristin arbeitet bei der Kriminologischen Zentralstelle, einer Forschungs- und Dokumentationseinrichtung des Bundes und der Länder für kriminologische Forschungsfragen.