Hass im Netz und Angriffe auf Politiker (Allgemein)
"Der Geist ist aus der Flasche"
Im Netz wird beschimpft, gedroht und verleumdet. Was sich dagegen tun lässt und ob es einen Zusammenhang mit Angriffen auf Politiker gibt, erklärt Medienexperte Marc Liesching.
Das Ausmaß an Anfeindungen in sozialen Medien ist riesig und wächst. Das hat zuletzt auch eine repräsentative Studie des "Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz" gezeigt. Lesen Sie hier mehr dazu. Auch Politiker werden dort beleidigt und diffamiert. Zugleich nehmen auch im realen Leben die tätlichen Angriffe auf sie zu, zuletzt am Aschermittwoch auf Grünen-Politiker im baden-württembergischen Biberach.
Der Medienwissenschaftler Marc Liesching von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig erklärt, ob soziale Netzwerke dafür stärker in die Verantwortung genommen werden könnten und müssten.
t-online: Herr Liesching, wie groß ist die Gefahr, dass Hass im Netz gegen Politiker in reale Gewalt umschlägt?
Marc Liesching: Ein Kausalzusammenhang zwischen Hass im Netz und realer Gewaltausübung im analogen Leben ist bisher wissenschaftlich nicht belegt. Es spricht zwar manches dafür, nur lässt sich das in der Wirkungsforschung methodisch nur schwer untersuchen. Demgegenüber legen Studien aber einen Einschüchterungseffekt nahe: Viele, die sich eigentlich gern in den sozialen Medien äußern wollen, tun es möglicherweise nicht, aus Angst vor den Reaktionen.
Was lässt sich dagegen tun?
Zunächst einmal: Hass im Netz ist keine juristische Kategorie. Das geht oft unter in der Debatte. Viele Formen von Hassäußerungen – etwa: "Ich hasse Fahrradfahrer" oder auch "Ich hasse dich" – sind grundsätzlich nicht strafbar. Wir leben in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, in welcher der Meinungsäußerungsfreiheit ein hoher Wert zukommt. Nur was strafbar ist bzw. Rechte anderer Personen verletzt, kann über Gesetze verfolgt und aus dem Netz entfernt werden.
Seit dem Wochenende gilt eine europäische Verordnung, der Digital Service Act (DSA). Er verpflichtet Onlineplattformen, strafbare Inhalte zu melden – und Funktionen anzubieten, damit auch Nutzer dies tun können. Jetzt hat die EU mit Verweis auf den DSA ein Verfahren gegen TikTok eingeleitet. Kann der DSA also gegen strafbaren Hass im Netz helfen?
Das wird sich erst noch zeigen müssen. Die Kommission hat eine ergebnisoffene Untersuchung eingeleitet. Generell ist die Wirksamkeit einer Regulierung durch den DSA begrenzt, wie wir auch an dem seit 2017 in Deutschland geltenden Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) gesehen haben. Die sozialen Netzwerke warten nicht auf Beschwerden und Meldungen, sondern suchen in der Regel proaktiv über Algorithmen und Künstliche Intelligenz (KI) nach problematischen Inhalten. Sie schauen dabei nicht primär, ob der Inhalt in einem bestimmten Land strafbar ist, sondern prüfen vorrangig, was gegen ihre eigenen Community-Regeln verstößt. Diese umfassen viel mehr als nur Strafrechtliches. Weit über 90 Prozent der Inhaltsentfernungen erfolgen auf diesem Wege. Auch deshalb gehen auf Beschwerdemeldungen ausgerichtete Verordnungen wie der DSA in Bezug auf Hass im Netz zum Teil an der Praxis vorbei.
So wirksam können die KI-Filter aber bislang nicht sein: Es gibt ja immer noch viel zu viele strafbare Inhalte in den sozialen Medien.
Das ist bei täglich millionenfach neu generierten Inhalten in sozialen Medien auch nicht verwunderlich. Bei dieser im Grunde nicht zielgenau kontrollierbaren Menge wird es immer vorkommen, dass einerseits zu wenig und andererseits zu viel gelöscht wird. Eines der Probleme besteht darin, eine KI auf rechtliche Bewertungen zu trainieren, die in jedem Einzelfall korrekt sind. Nehmen Sie das Beispiel mit dem Tucholsky-Zitat: "Soldaten sind Mörder". Da war sich in der letzten Instanz nicht einmal das Bundesverfassungsgericht einig, ob das eine strafbare Aussage ist. Wie soll das dann eine KI zuverlässig erkennen können?
Die Hoffnung, dass der DSA eine Art Grundrecht des Internets wird, ist also überzogen?
Ja. Grundsätzlich ist es allerdings gut, dass wir jetzt eine europaweit einheitliche Regelung haben. Aber bahnbrechend ist der DSA nach meiner Einschätzung nicht. Die Regeln der Verordnung setzen einen Rahmen. In ihm kann man operieren. Da ist es dann eher eine Frage, wie gut Behörden und Justiz dafür aufgestellt sind, das Recht dann auch in der Flut täglich neuer, unzähliger Inhalte umzusetzen. Aber die sozialen Medien werden in Bezug auf Strafbares im Netz nicht viel anders verfahren als bisher. Die Vorstellung, dass mithilfe von Gesetzen der Hass aus den sozialen Medien zu bekommen ist, ist in gewisser Weise naiv.
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Viele Politiker nähren diese Hoffnung aber.
Das ist zum Teil irreführend und Augenwischerei. Wie gesagt, in einer demokratischen Grundordnung mit Meinungsfreiheit muss man viel aushalten. Aber man hat ja auch das Recht, sich argumentativ gegen extreme Positionen zu stellen. Auch mündige und mutige Bürgerinnen und Bürger, die demokratische und gemäßigte Standpunkte verteidigen, erhalten eine auf Freiheit basierende Mediengesellschaft, nicht nur Gesetze.
Mit anderen Worten: Ist der Hass im Netz, bekommt man ihn nicht wieder heraus?
Ja – zumindest den Hass, der nicht strafbar ist. Das Internet ist ein prinzipiell anarchisches, weltumspannendes Kommunikationssystem, das man nur bedingt regulieren kann. Frühere Massenmedien wie Rundfunk oder Zeitungen ließen sich leicht regulieren. Sie hatten nur einen Sender und passive Empfänger. Aber in dem Moment, wo Sie demokratischere Medien haben, in denen sich alle beteiligen und so sprechen können, wie ihnen die Schnauze gewachsen ist, sind Hass-Äußerungen im Netz im System begründet. Und nicht unbedingt darin, dass Gesetze zu lasch sind. Der Geist ist aus der Flasche.