Deutschland hätte wie das glänzende Vorbild Türkei handeln sollen, (Allgemein)
die dort an der Grenze auf Flüchtlinge schoss.
Trauma-Professorin
"Ich schäme mich, wie Deutschland Flüchtlinge behandelt"
Zur Person
Professorin Dr. Meryam Schouler-Ocak ist Deutschlands einzige Professorin für Interkulturelle Psychiatrie. Sie arbeitet an der Psychiatrischen Universitätsklinik Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. Außerdem leitet sie das Referat "Interkulturelle Pychiatrie und Psychotherapie, Migration" der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
Wenn Menschen traumatisiert vor Krieg, Folter und Gewalt fliehen, brauchen sie Hilfe, um das Erlebte zu verarbeiten. Doch das ermöglicht Deutschland nicht. Das hat Folgen bis hin zu Gewalt, sagt Professorin Meryem Schouler-Ocak.
Flüchtlinge, die gewalttätig werden, tauchen in Medienberichten auf und verunsichern die Gesellschaft. Wer sind die Menschen, die nach Deutschland kommen? Schnell sind dann Rufe nach Abschiebungen und Asylrechtsverschärfungen zur Hand – auch aus der Politik. Doch was hilft wirklich, um ein friedliches Zusammenleben von Geflüchteten und alteingesessenen Bewohnern zu erreichen? Wir haben mit Professorin Meryam Schouler-Ocak gesprochen, die als Trauma-Therapeutin mit psychisch belasteten Flüchtlingen arbeitet. Sind traumatisierte Geflüchtete das Problem – oder unser Umgang mit ihnen?
t-online: Menschen flüchten aufgrund von Krieg, Diskriminierung oder Gewalt nach Deutschland. Oft sind sie traumatisiert. Kümmern wir uns genug um sie?
Meryam Schouler-Ocak: Im Moment kommen alle Menschen in den sogenannten Ankerzentren an. Dort sind die Zustände katastrophal. Die Zentren sind überfüllt. Oft werden die Menschen in diesen Sammelunterkünften untergebracht, in denen die Betten nur mit Vorhängen voneinander getrennt sein können. Wildfremde Menschen müssen aufeinander hocken. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag gibt es Geräusche, Gerüche, Reize und keine Chance, sich zurückzuziehen. Außerdem gibt es nichts Sinnvolles zu tun. Das ist schon für psychisch gesunde Menschen belastend.
Und was bedeutet das für Menschen, die psychisch krank sind?
Für Menschen mit psychischen Belastungen sind genau diese Umstände krankheitsverschärfend: keine Privatsphäre zu haben, keine Rückzugsmöglichkeiten zu haben, immer mit Stresspegel. Es ist keine gesundheitsfördernde Atmosphäre. Wir machen kranke Menschen so noch kränker, als sie kommen. Ich schäme mich wirklich, dass wir das nicht besser hinbekommen.
Professorin Meryem Schouler-Ocak
Unsere Art des Umgangs mit Geflüchteten macht also ihre Situation schlimmer?
Viele dieser Menschen haben Krieg erlebt, Folter, Gewalt. Wenn ich sie dann in eine unsichere Situation mit ständiger Reizüberflutung stecke, haben sie keine Chance, ihre Selbstheilungskräfte zu nutzen. Ihre Ressourcen werden durch den Stress der Situation aufgebraucht. Weil sie keine Ruhe haben, um sich zurückzuziehen und sich mit ihren Belastungen auseinanderzusetzen, sind sie ihren Gefühlen, Gedanken, Bildern und Körpererinnerungen, also den Folgen ihrer Traumata, immer wieder ausgesetzt. Sie durchleben sie wieder und wieder. So werden auch Störungen, die behandelbar gewesen wären, stärker, sie chronifizieren. Außerdem: wenn etwa jemand Albträume hat, dann schreit er vielleicht im Schlaf. Das stört aber alle anderen in der Halle. Wenn einer unruhig ist, kann er nur in der Halle hin und her laufen. Auch das stört alle anderen. Das Konfliktpotenzial ist sehr groß.
Wenn wir von traumatisierten Geflüchteten sprechen, die eine Behandlung bräuchten: Wie viele sind das?
Etwa jeder dritte Flüchtling hat eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Jeder Dritte hat Depressionen. Angststörungen sind noch verbreiteter. Und oft kommen mehrere Krankheitsbilder zusammen. Andere klagen über körperliche Beschwerden, Kopfschmerzen oder Magenschmerzen, ohne dass körperliche Ursachen zu finden wären. Dann ist es manchmal das Körpergedächtnis, das sich etwa an Folterschläge gegen den Kopf erinnert. Der Körper merkt sich das Erlebte und arbeitet damit – auch, wenn solche Erfahrungen verdrängt werden.
Wie sehen in Deutschland die Möglichkeiten aus, um traumatisierte Geflüchtete zu behandeln?
Wer in Deutschland als krankenversicherter Mensch versucht, eine psychische Erkrankung behandeln zu lassen, weiß: Die Ressourcen reichen schon so nicht aus. Und jetzt kommen schwer traumatisierte Menschen, die verschiedenste Hintergründe haben, verschiedenste Sprachen sprechen. Das ist kompliziert. Neben den vorhandenen Ärzten gibt es medizinische Behandlungszentren und auch die Psychosozialen Behandlungszentren für Geflüchtete und Folteropfer, die sich spezialisiert der betroffenen Geflüchteten annehmen. Leider sollen jetzt auch dort Mittel gestrichen werden. Ein großes Problem ist auch die Sprache: Als Trauma-Therapeutin muss ich ja mit meinen Patienten sprechen. Da ich nicht alle Sprachen der Welt spreche, brauche ich also einen Dolmetscher. Das ist aber nicht vorgesehen. Ich zahle die Dolmetscher zum Beispiel aus eigenem Budget. Weil ich es ethisch nicht vertretbar finde und weil Gesundheit ein Menschenrecht ist und Erkrankungen behandelt werden müssen. Aber solche Dolmetscher-Kosten kann auch nicht jeder Arzt zahlen.
Das klingt verbesserungswürdig.
Und das ist noch nicht mal das größte Problem. Bisher durften Flüchtlinge 18 Monate lang keine Psychotherapie beginnen – erst dann haben sie Zugang zu Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Kürzlich ist im Rückführungsverbesserungsgesetz dieser Zeitraum auf 36 Monate erhöht worden. Drei Jahre! Drei Jahre lang verweigern wir psychisch kranken Menschen den Zugang zu Behandlungen.
Was sind die Folgen?
Wir machen die traumatisierten Flüchtlinge kränker, hier in Deutschland. Wir sorgen durch die Nicht-Behandlung dafür, dass ihre Erkrankungen chronisch werden. Das bringt Leid für die Betroffenen, ist aber auch ausgesprochen teuer für unsere Gesellschaft. Chronifizierte Erkrankungen sind schwerer zu behandeln, sie werden teurer, und vielleicht werden die Menschen auch nie wieder so gesund, dass sie in den Arbeitsmarkt kommen können, auch wenn sie in Deutschland bleiben. Sie kommen auch schwerer in der Gesellschaft an.
Ist eine Folge auch Gewalt?
Grundsätzlich sind Flüchtlinge nicht gewalttätiger als andere Menschen. Aber unverarbeitete Traumata können jederzeit und unberechenbar hervorkommen. Die Bilder und Gedanken überfluten die Betroffenen, es gibt Flashbacks und Körpererinnerungen – und die Betroffenen können das ja nicht ausschalten, da gibt es keinen Knopf. Und jeder hat andere Trigger: zum Beispiel der Anblick eines Polizisten oder bestimmte Situationen, die als bedrohlich erlebt werden. Dann kann es auch zu Gewalt kommen, weil Menschen möglicherweise Angst haben, dass ihnen wieder Gewalt angetan wird und sie wähnen, sich verteidigen zu müssen.
Was Gewalt begünstigen kann, sind allerdings auch oft die Folgen des Flüchtlingslebens hier in Deutschland. Die Menschen müssen untätig herumsitzen. Sie haben keinen Tagesrhythmus, der sie beruhigen könnte. Sie können sich nicht durch Arbeit ablenken und stabilisieren, oft nicht einmal durch Ehrenämter. Sie sind ihren Gefühlen ausgeliefert. Sie erfahren zudem rassistische Diskriminierung und Diskriminierung aufgrund ihres Flüchtlingsstatus – dazu tragen auch Bezahlkarten bei, denn sie stigmatisieren die Menschen noch einmal extra. Dazu kommt der oft unklare Aufenthaltsstatus.
Die von psychischen Problemen betroffenen Flüchtlinge brauchen schnellstmöglichen Zugang zu Therapiemöglichkeiten – und bezahlte Dolmetscher, um Verständigung sicherzustellen. Wichtig wäre auch eine Unterbringung, die Ruhe und Rückzug ermöglicht. Sie sollten schnellstmöglich sinnstiftende Beschäftigungen aufnehmen dürfen – das hilft psychisch, aber auch sozial. Die Politik sollte verstehen, dass das mehrere Probleme lösen würde, die Deutschland in Zukunft haben wird. Wir brauchen ja auch Arbeitskräfte. Und wir haben hier Menschen, die diese Arbeit erledigen könnten – gerade die körperliche Arbeit, für die es keine perfekten Deutschkenntnisse braucht. Stattdessen haben wir die ständigen Verschärfungen des Asylrechts, die mehr Diskriminierung bedeuten, die Unterbringung im ländlichen Nirgendwo. Wir drängen Menschen so in die Ecke. Sie werden krank. Manche greifen aus Frust zu Gewalt. Diese Probleme schaffen wir uns selbst.