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Weshalb Kinder Vater und Mutter brauchen
Kinder brauchen Vater und Mutter, sagen Psychiater und Psychologen. Ist der Vater häufig da, werden Kinder eigenständiger. Ohne Vater entwickeln sich viele Buben zu Machos. Und für Töchter ist die väterliche Bewunderung in der Pubertät sehr wichtig.
Daniela Niederberger
Wir leben in einer Zeit der mannigfaltigen Familienformen: Es gibt Patchwork-Familien, Alleinerziehende, Familien mit zwei Müttern oder zwei Vätern. Ist es für Kinder egal, wie sie aufwachsen – Hauptsache, die Zuneigung stimmt? Nein, sagen Fachleute. «Es ist die günstigste Ausgangsposition, wenn ein Kind Mutter und Vater hat», sagt Dieter Bürgin, ehemaliger Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Uniklinik Basel. «Ja, sie brauchen beide», sagt Hans Kurt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Vom «Optimum, wenn Kinder beides haben» spricht der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl.
Weshalb? «Diese Ausgangslage bietet die grösste Unterschiedlichkeit (zwei Geschlechter) an und reflektiert damit die Fakten in unserer Gesellschaft», sagt Bürgin. «Der Mensch hat zwei Augen. Binokular sieht man besser. Ähnlich kann das Kind die Dinge besser in Abgleichung bringen, wenn es zwei Modelle, das männliche und das weibliche, im Alltag erlebt. Es gibt eine Rollenteilung in der Gesellschaft. Wächst das Kind mit Vater und Mutter auf, lernt es diese Rollen im Alltag kennen», so Bürgin. «Es mag in einzelnen Familien anders sein, aber meistens gibt der Vater die Linie durch, er steht für Klarheit und Autorität, er ist derjenige, der Grenzen setzt.»
Ausserdem öffnet der Vater als «dritte Person» die «Zwei-Personen-Beziehung» von Kind und Mutter. Guggenbühl spricht von einer «dualen Herrschaft», die für die Entwicklung förderlich sei. Das Kind kann mal von einem Elternteil Distanz nehmen. Wenn es sich über die Mutter aufregt oder die Beziehung zu ihr zu eng wird und die Verstrickung zu gross, geht es zum Vater. Das Kind kann sich so besser aus der Mutter-Kind-Symbiose lösen, Trennungsängste werden vermindert.
Alain Di Gallo, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, sagt, ein Kind brauche in erster Linie einfühlsame Bezugspersonen. Aber natürlich habe es viele Vorteile, wenn ein Paar das Kind gemeinsam grossziehe: «Man kann Freude und Sorgen teilen, sich gegenseitig unterstützen und das Kind auch mal dem andern abgeben.» Und nicht zuletzt sei meist die ökonomische Situation stabiler.
«Gäll, Männer sind gescheiter!»
Was bringt der Vater aber konkret? Häufiger Kontakt mit dem Vater macht Babys in Gegenwart fremder Menschen sicherer und Kleinkinder sprachlich versierter. Dies fand der französische Psychologe Jean Le Camus in Untersuchungen heraus.* Väter verwenden schon bei kleinsten Kindern einen relativ grossen Wortschatz, sie brauchen mehr unvertraute, schwierige Wörter. Mütter sind eher darauf bedacht, so zu reden, dass Kinder alles verstehen, und schrecken vor groben Vereinfachungen nicht zurück.
Die Autorin gehört zu diesen Müttern. Sie guckte mit ihrer vierjährigen Tochter einmal ein Buch an, in dem Raumschiffe und Satelliten zu sehen waren. Sie tippte auf ein Bild und sagte: «Rakete.» Die Tochter korrigierte: «Nein, Satellit.» Seither sagen die Töchter, wenn es um komplizierte Sachverhalte geht und die Mutter einen Moment überlegt, wie man das einfach erklären könnte: «Ist schon gut. Wir fragen Papi.» Der Vater erklärt, wie das Weltall aufgebaut ist, der Grossvater doziert über die Entstehung von Vulkanen und Erdbeben. Und so meinte die jüngere Tochter kürzlich beim Zubettgehen: «Gäll, Männer sind gescheiter!»
Männer fordern mehr von ihren Kindern und geben weniger schnell Hilfestellung, weshalb Kinder eigenständiger sind in Gegenwart des Vaters. Väter sind eher draussen, machen risikoreichere Dinge und erweitern den «Aktionsradius», so Guggenbühl. «Sie stimulieren eher die Aktivität der Kinder und fördern das Explorationsbedürfnis und das Bewusstsein für den Körper», sagt Alain Di Gallo. Väter werfen beispielsweise ihre Babys gerne im Spiel hoch und fangen sie wieder auf, etwas, was Mütter kaum je tun.
Keine «zweite Mutter»
Viele Väter sind heute engagiert im Familienalltag. Sie wechseln Windeln und sitzen am Sandkasten. Wichtig ist dabei, so Le Camus, dass der Vater nicht «zur zweiten Mutter» wird. Seine Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, deren Väter sich im Erziehungsverhalten in Hinblick auf Autorität und Verbote deutlich von der Mutter unterscheiden, autonomer sind als Kinder, deren Eltern ähnliche Erziehungsstile haben. Die Kinder haben mehr Kontakt zu anderen, können sich besser eingliedern und sind weniger aggressiv.
Leider, schreibt Felix Rohner-Dobler**, seien manche Frauen «extrem kontrollierend, nörgeln an der vielleicht gefährlicheren, abenteuerlichen Art der väterlichen Erziehung herum und lassen die Väter nicht machen». Dabei sei es wichtig, dass Männer die «Beseelung», die sie durch Politik, Sport oder Beruf spürten, mit ihren Kindern teilten. Sie sollen mit den Kindern nicht bloss auf Spielplätze und ins Kasperlitheater gehen, sondern in prähistorische Museen, oder sie sollen ihnen die griechische Sagenwelt näherbringen. Allan Guggenbühl hat beobachtet, dass in einer Zeit der modernen Rollenteilung die Gefahr besteht, dass das Private im Vordergrund steht. Dadurch werde den Kindern vorgegaukelt, die Familie sei der Nabel der Welt. «Die Kinder merken nicht, dass es draussen in der Welt wichtige Territorien gibt, für die es sich lohnt, sich anzustrengen.»
Für Mädchen ist der Vater «ausgesprochen wichtig», sagt Professor Bürgin. Er ist so etwas wie die erste grosse Liebe. «Mädchen lieben den Papi dann fast mehr als das Mami.» Viele kleine Mädchen sagen, sie möchten ihn heiraten. Bürgin spricht von «einer hohen Gefühlsintensität und einer hohen Kränkungsgefahr». Es brauche viel Einfühlung, um die Gefühle auf «ein vernünftiges Niveau» zu bringen.
Später, in der Pubertät, ist der Vater wieder wichtig. «Wenn die Väter stolz sind auf ihre Töchter, die zu schönen Frauen werden, stärkt das das Selbstbewusstsein. Es gibt den jungen Frauen Anerkennung», sagt Hans Kurt. Umgekehrt litten magersüchtige Mädchen oft an der fehlenden Bestätigung vom Vater, ebenso wie Frauen, die den Männern um jeden Preis gefallen wollen, wie Felix Rohner-Dobler schreibt.
Buben brauchen den Vater logischerweise ebenso. Sie merken früh, dass sie anders sind als die Mutter und all die Frauen, von denen sie in der Krippe oder im Kindergarten umgeben sind. Es ist gut, wenn sie ein männliches Vorbild haben, mit dem sie sich identifizieren und an dem sie sich reiben können. Bäche stauen, Hütten bauen, Fussball spielen, kämpfen – das lieben Knaben, und das machen sie gerne mit dem Vater. In der Pubertät wenden sich viele Buben dem Vater zu, weil er im Aussenbereich aktiv ist und Kinder sich in dem Alter nach aussen wenden, weg von der Nestwärme der Mutter.
Wenn das realistische Vorbild fehlt
Fehlt der männliche Gegenpart, besteht die Gefahr, dass die Buben zu Machos werden, wie das häufig bei Söhnen von alleinerziehenden Müttern zu beobachten ist. Sie sind oft sehr ehrgeizig und leistungsbewusst, auch aggressiv. Guggenbühl sagt, sie entwickelten sich zur Karikatur eines Mannes, weil sie sich gegenüber dem Weiblichen um sie herum abgrenzen wollten und müssten, um ihre Identität zu festigen. Es fehlt ihnen aber das realistische Vorbild und der um eine Generation ältere Rivale. «Diese Jungen tun so, als könnten sie Partner sein», sagt Bürgin. Sie übernehmen bewusst oder unbewusst ein Stück weit die Vaterrolle, «was ja prinzipiell nichts Schlechtes ist», wie Hans Kurt anmerkt. Früher, wenn ein Vater starb, war der älteste Sohn das Familienoberhaupt. Mädchen von Alleinerziehenden dagegen binden sich zu eng an die Mutter, was ihre eigene Entwicklung hemmen kann, und lösen sich schwerer ab.
Di Gallo schwächt ab und sagt, Alleinerziehende holten sich in der Regel Unterstützung. «Es kommt weniger auf die Beziehungsform an als auf die Beziehungsqualität und das Klima in der Familie.» Wenn also ein Grossvater oder eine Grossmutter die Kinder regelmässig mit betreut, ist alles nicht so tragisch. Allerdings zeigen Untersuchungen, dass Scheidungskinder später oft Mühe haben, Beziehungen einzugehen.
Und was ist mit der Regenbogenfamilie?
Und wenn Lesben oder Schwule Kinder haben? «Das ist sicher nicht so gut wie bei einem heterosexuellen Paar. Aber es kann gleich gut sein wie eine Mama und eine Grossmutter», sagt Bürgin. Das Kind hat wenigstens zwei Bezugspersonen. Guggenbühl sagt, Kinder suchten sich aktiv Bezugspersonen. «Sie tasten die Umgebung ab nach Menschen, die ihnen in ihrer Entwicklung helfen.» Wachse ein Kind bei zwei Müttern auf, werde es sicher das Männliche suchen und dieses bei einem Onkel, Lehrer oder Nachbarn finden. «Es ist in jedem Fall wichtig, dass Kindern der häufige und nahe Kontakt zu Bezugspersonen beiderlei Geschlechts gewährleistet ist», sagt Daniel Münger, Kinderarzt und Kinderpsychiater am Kantonsspital Aarau.
Und ausserdem hätten diese Kinder ja einen Vater, gibt Di Gallo zu bedenken. In der Schweiz gebe es Tausende von Regenbogenfamilien, wie Schwulen- und Lesbenfamilien genannt werden. Die meisten Kinder in diesen Familien stammten aus einer früheren heterosexuellen Partnerschaft. Di Gallo zitiert eine Studie aus Deutschland, in der rund 1000 Eltern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und 700 Kinder untersucht wurden. Es zeigte sich, dass es den Kindern sehr gut geht. «In Lesben- und Schwulenpartnerschaften erfolgt die Übernahme der explorativen und fürsorglichen Beziehungsrolle meistens flexibel und nach Stärken und Temperament der Partner.» Ausserdem werde das andere Geschlecht mit einbezogen. Der Kontakt zum ausserhalb der Partnerschaft lebenden Elternteil sei meist besser als bei heterosexuellen Patchwork-Familien. Jedenfalls, so Di Gallo, erleben die Kinder «es nicht als Manko», mit zwei Frauen oder zwei Männern zusammenzuleben.
Nun sind Kinder notgedrungen sehr gut darin, sich den Gegebenheiten anzupassen. Sie leben im Moment und nehmen die Dinge so, wie sie sind. Sie können nicht vermissen, was nicht ist, und deshalb auch kein Manko empfinden. So gesehen, sagt die Studie nichts aus darüber, was wirklich besser ist für die Entwicklung eines Kindes. Vermutlich eben doch das seit Jahrtausenden bewährte Modell.
* Jean Le Camus: Väter. Die Bedeutung des Vaters für die psychische Entwicklung des Kindes. Beltz.
** Felix Rohner-Dobler: Familien brauchen Väter – Ermutigungen und Rituale. Kösel.
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Manhood,
17.05.2013, 15:26
- Titelstory der Weltwoche -> Unbedingt Weltwoche finanziell unterstützen! Haben regelmässig anti-feministische Themen - SpiegelIn, 17.05.2013, 19:27