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Wer als Vater der Willkür der Justiz ausgesetzt ist, sollte das hier wissen ...... (Recht)

Yussuf K., Saturday, 21.09.2013, 11:18 (vor 3894 Tagen)

Der Niedergang des Rechtsstaates

Festschrift für Christian Richter II "Verstehen und widerstehen" von Dr. Egon Schneider

Der Niedergang des Rechtsstaates
von Dr. Egon Schneider

Eberhard Kempf/Gabriele Jansen/Egon Müller (Hrsg.) Nomos - Verlag

Festschrift für Christian Richter II
Verstehen und Widerstehen

Vorbemerkung

Obwohl ich kein Strafrechtler bin, habe ich immer wieder einmal mit dem Jubilar zusammengearbeitet. Es ging dabei oft um grundsätzliche Fragen des Zivil- und Zivilprozessrechts. Und so will ich auch hier aus Sicht des Zivilrechtlers auf die grundsätzliche Frage schlechthin eingehen: Haben wir noch einen unbeschädigten Rechtsstaat? Können die Bürger und Anwälte als ihre legitimierten Helfer noch darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber immer die Gerechtigkeit anstrebt und die Gerichte stets bemüht sind, die Gesetze zum Schutz der Bürger fehlerfrei anzuwenden?

Die Antwort auf diese Frage lässt sich nicht durch die üblichen abstrakten Beteuerungen finden. Nur die forensischen Erfahrungen sind aussagekräftig.

Wem ein materieller Anspruch zusteht, der hat zunächst lediglich ein Recht, das auf dem Papier steht. Oft muss er vor Gericht um dessen Erfüllung streiten. Wie seit eh und je spielt sich diese Auseinandersetzung nach festen Regeln ab. In der Prozessordnung sind sie beschrieben. Sie sind unerlässlich, um im „Kampf um"s Recht“ Wahrheit und Fairness zu gewährleisten. Alle Verfahrensbeteiligten - Parteien, Anwälte und vor allem den Richtern - werden dazu genau beschriebene Rechte und Pflichten auferlegt. Und hier liegt vieles im argen, sosehr, dass oft die Rechtsstaatlichkeit auf der Strecke bleibt.

Wer nicht praktizierender Anwalt ist, macht sich keine Vorstellung über den alltäglichen Kampf ums Verfahrensrecht. Unentwegt wird im Zivilprozess - auf den sich die folgende Darstellung beschränkt - von den Gerichten fahrlässig bis vorsätzlich gegen zwingende einfachrechtliche Vorschriften und gegen die Grundrechte verstoßen. Vielfach müssen die Parteien das wehrlos hinnehmen.

Berichte über grobe und gröbste Verstöße gegen das Verfahrensrecht werden aus Justizkreisen damit abgeblockt, es handele sich um Einzelfälle. Um diese unwahre Beschönigung zu widerlegen, habe ich seit 1992 als Herausgeber der Zeitschrift für die Anwaltpraxis (ZAP) den ZAP-Report: Justizspiegel eingeführt und die Leser um Mitarbeit durch Einsendungen gebeten. Deren Reaktion war überwältigend! Anwälte aus ganz Deutschland haben über ihre bedrückenden Erlebnisse berichtet und berichten immer noch darüber. Fast alle äußerten sich frustriert und verbittert, weil sie Rechtsverletzungen wehrlos hinnehmen mussten. Denn zu den Verfahrensverstößen kommt es vornehmlich, wenn kein Rechtsmittel vorgesehen ist. In den zwölf Jahren habe ich weit mehr als tausend Einsendungen bearbeitet und über viele davon berichtet. Der folgenden Darstellung liegt auch ein Teil dieser Veröffentlichungen zugrunde.

1. Was ist ein Rechtsstaat?
Der Begriff „Rechtsstaat“ kommt im Grundgesetz nicht vor. Nirgendwo wird er definiert. Er wird nur umschrieben als „ein Staat, in dem nicht Willkür, sondern Recht und Gerechtigkeit herrschen“ (Deutsches Rechts-Lexikon, Band 3, 3. Aufl.2001 S. 3498). Oder: „Rechtsstaat, ein Staat, dessen Staatstätigkeit vom Recht bestimmt und begrenzt ist und in dem die Rechtsstellung des einzelnen durch garantierte Rechte (Grundrechte) gesichert ist“ (ZEIT -Lexikon, Band 12, 2005, s.138). Das Schrifttum weicht aus auf das Rechtsstaats “Prinzip“: Unterwerfung der gesamten Staatsgewalt unter das Recht ist der Kern des Rechtsstaatsprinzips (Seifert/Hömig, Grundgesetz, 7. Aufl., 2003, Art. 20 Rn. 9). Sodann werden die „Erscheinungsformen und Ausstrahlungen dieses Prinzips“, seine „Kernelemente “ aufgezählt: Menschenwürde, Rechtsweggarantie, Gewaltenteilung, Bindung an Gesetz und Recht, Bestimmtheitsgrundsatz, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, gesetzlicher Richter, faires Verfahren, rechtliches Gehör (siehe v. Mangoldt/Klein/Strack-Sommermann, Bd.2,5 Aufl. 2005, Art. 20 Abs. 3 Rn.287 ff.; Dreier/Schulze -Fielitz, Grundgesetz, 1998, Art. 20 Rn. 61 ff.; von Münch/Kunig – Schnapp, Grundgesetz, Bd. 2,5. Aufl. 2001, Art.20 Rn.27 ff.; Sachs, Grundgesetz,3.Aufl., 2003, Art. 20 Rn. 77 ff). Zum Rechtsstaatsprinzip gehört auch die Entschädigung bei staatlichen Eingriffen sowie der Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt (Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 7. Aufl., 2004, Art. 20 Rn. 28).

Wie steht es nun damit, wenn man die Rechtswirklichkeit im Rechtsalltag an diesen Prinzipien misst? Dann sieht es gar nicht gut aus. Verstöße werden, wie schon oben erwähnt, mit dem Hinweis abgetan, es handele sich um Einzelfälle. Das ist insofern richtig, als jeder Fall ein Einzelfall ist. Es gibt keine identischen Fälle. Doch ist das mit dem Einwand gar nicht gemeint. Das Wort „Einzelfall“ steht für „Ausnahmefall“. Und hier liegt das Problem, dem sich Gesetzgeber und Gerichte nicht zu stellen bereit sind. Solche „Ausnahmefälle“ treten nämlich in der Praxis so häufig auf, dass sich die Problematik hin zum massiven Verlust an Rechtsstaatlichkeit verschiebt. Die nachstehenden Ausführungen, die sich aus Raumgründen auf einige wesentliche Bereiche beschränken müssen, werden das deutlich machen.


II. Staatshaftung

Eine Haftung der Beamten für Verletzung ihrer Amtspflicht besagt, dass sie persönlich haften. Unter den Begriff „Beamter“ fielen auch die Richter (so nach § 839 Abs. 2 S.1 BGB). Diese persönliche Haftung konnte nur gesetzlich ausgeschlossen werden. Das war nach Auffassung der Verfasser des BGB notwendig, um Beamte nicht einer unbilligen Belastung auszusetzen. Insbesondere galt das für die Rechtssprechung (Planck/ Greiff, BGB, 4.Aufl., 1928, § 839 Anm. 1a ). Deshalb wurde das Richterprivileg des § 839 Abs.2 s.1 BGB für Fehlurteile eingeführt, ausgenommen nur eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Amtsausübung (§ 839 Abs. 2 S. 2 BGB). In diesem Fall trat die Haftung des Beamten schon bei einfacher Fahrlässigkeit ein.

Für Fehlurteile haftete daher wegen des Richterprivilegs letztlich niemand, der Richter nicht persönlich und der Staat überhaupt nicht. Durch Art. 131 der Weimarer Reichsverfassung wurde die Haftung des Staates für Amtspflichtverletzungen eingeführt und in Art. 34 GG übernommen. Am Richterprivileg änderte sich jedoch nichts. Daher steht diese Staatshaftung nur auf dem Papier. Richter haften für Fehlurteile nur, wenn sie sich strafbar machen. In Betracht kommt dabei fast nur die Rechtsbeugung nach § 339 StGB (Staudinger/Wurm, BGB, 13. Bearb., 2002, 839 Rn. 320). Auch die steht aber tatsächlich nur auf dem Papier. Durch eine mit dem Gesetz unvereinbare Ausweitung der Tatbestandsmerkmale haben das Reichsgericht und später der Bundesgerichtshof mit einer „Freispruch - Justiz“ dafür gesorgt, dass solche Haftungsfälle nicht realisierbar sind (sehr ausführlich: Scholderer; Rechtsbeugung im Demokratischen Rechtsstaat, 1993).

Die Inkongruenz zwischen der haftungsbegründenden Norm des § 839 BGB und dem haftungsverlagernden Art. 34 GG schafft Haftungsprivilegien der öffentlichen Hand, die nicht zu begründen sind (Erman/Hecker, BGB, 11. Aufl., 2004, § 839 Rn.22) Notwendig wäre ein Staatshaftungsgesetz, das auch vorgesehen war (Staatshaftungsgesetz v. 26.6.1981, BGB 1 S. 553). Sein Inkrafttreten ist jedoch an der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes gescheitert (BVerfGE 61,149). Dieses Hindernis ist 1994 durch eine Änderung des Grundgesetzes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 25) behoben worden. Geschehen ist seitdem nichts, und geplant ist auch nichts. Es bleibt also dabei, dass der Staat für Richterunrecht haftet, diese Haftung aber leer läuft, weil Richter nicht haften.


III. Restriktive Rechtsprechung

Der weitgehend als unbefriedigend und antiquiert empfundene derzeitige Rechtszustand muss hingenommen werden. Rechtsstaatlich unerträglich ist es aber, wie die Rechtsprechung durch anhaltende „Auslegung“ contra legem auch die geringen realisierbaren Haftungsansprüche der Rechtsunterworfenen beschnitten hat.

1. § 839 Abs. 2 S. 1. Abs. 3 BGB

Was auch immer bei der Anwendung dieser Vorschriften an Begriffsverbiegungen denkbar ist, wird von der Rechtssprechung praktiziert. Dem eindeutigen Begriff Urteil werden auch Nichturteile zugeordnet, etwa Beweisbeschlüsse, Berichtigungsbeschlüsse nach § 319 ZPO, sogar die Beweiserhebung oder das Verlesen einer behördlichen Auskunft (Bamberger/Roth-Reinert, BGB 2003, § 829 Rn.90).

Ebenso wird bei dem gleichfalls eindeutigen Begriff Rechtsmittel in § 839 Abs. 3 BGB verfahren. Dazu zählen Nichtsrechtsmittel wie eine Dienstaufsichtsbeschwerde oder eine formlose Gegenvorstellung ( Bamberger/Roth-Reinert a.a. O. Rn. 92), sogar die Bitte um Erledigung eines Antrags (ZAP-Report: Justizspiegel, Heft 12/2002, S. 688 f.; Münch Komm BGB Papier, 4. Aufl., 2004, § 839 Rn. 331).

Zu einer solchen Begriffserweichung besteht überhaupt kein Anlass, da Richter wegen Art. 34 GG ohnehin nicht selbst haften und ein Rückgriff nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit zu befürchten haben.

2. § 839 Abs.2 S. 2 BGB

Das Richterprivileg in § 839 Abs: 2 s. 1 BGB gilt nach § 839 Abs. 2 S.2 BGB nicht bei pflichtwidriger Verweigerung oder Verzögerung der Amtsausübung. Schuldhafte Verzögerungen sind so häufig, dass die Rechtsprechung eine Ausnahmebeschwerde wegen Untätigkeit schaffen musste (Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 567 Rn. 10)! Damit wird „amtlich“ bestätigt, dass ein Richter sich vor seiner Arbeit gedrückt hat.

Zur Amtshaftung des Richters wegen Verzögerung genügt die einfache Fahrlässigkeit des § 276 Abs.2 BGB (Bamberger/Roth-Reiner a.a. O. Rn./9). Auch das geht dem Bundesgerichtshof zu weit. Er schränkt ein: (BGH NJW 2003, 3052) Wegen der richterlichen Unabhängigkeit kommt gegenüber Richtern ein Schuldvorwurf nur bei grober Fahrlässigkeit in Betracht.

Begründen lässt sich das nicht. Der Bundesgerichtshof versucht es deshalb mit einer Täuschung des Lesers durch Hinweise auf Belege, die ihrerseits kein einziges Wort der Begründung enthalten, sondern sich wechselseitig abschreiben. Zunächst beruft er sich auf BGB NJW-RR 1992, 919. Dort findet sich jedoch keine Begründung, sondern nur dieselbe Behauptung wie in BGB NJW 2003,2053. Er hat also lediglich die ältere Entscheidung wörtlich abgeschrieben. In BGH NJW-RR 1992, 919 wird nur auf den Beschluss vom 26.4.1990 - III ZR 182/89 - Bezug genommen, der jedoch nicht veröffentlicht worden ist und deshalb als Begründungsersatz ausscheidet. Weiter beruft sich der BGH auf OLG Frankfurt, NJW 2002, 3270. Dort ist aber ebenfalls nur ohne eigene Begründung BHG NJW-RR 1992, 919 wörtlich abgeschrieben worden. Schließlich wird noch Staudinger/Wurm (BGB, § 839 Rn.316) erwähnt. Dort ist nur OLG Frankfurt wörtlich abgeschrieben worden. Zusätzlich hat Wurm noch den Satz gebracht „Inhaltlich läuft das auf eine Haftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit hinaus“. Dieser Satz hat dann der BGH wieder in NJW 2003, 3053 wörtlich abgeschrieben.

Reduziert man die Ausführungen des BGH auf einen Justizsyllogismus, dann zeigt sich, wie willkürlich er argumentiert:
-Obersatz (das Gesetz): Beamter = Richter haftet für pflichtwidrige ververweigerte oder verzögerte Amtsausübung bei einfacher Fahrlässigkeit.
-Untersatz (des BGB): Richter sind aber unabhängig.
-Schlusssatz (des BGH) Also haften Richter nur bei grober Fahrlässigkeit.

Wenn es ein Examenskandidat wagen würde, dergleichen als Gesetzesauslegung anzubieten, dann stünde es schlecht um seine Prüfungsaussichten. Aber Bundesrichter können sich das leisten. Und sie werden nicht einmal ausgelacht, sondern mit diesem Unfug noch ernsthaft in den Kommentaren zitiert, womit wieder einmal Gracian bestätigt wird: „Den Götzen macht nicht der Vergolder, sondern der Anbeter.“


3. Befangenheitsablehnung

Richter werden nicht nur haftungsrechtlich von ihren rechtsprechenden Kollegen abgeschirmt, sondern sie werden auch vor dem Einstehen für Persönlichkeitsausfälle geschützt. Das geschieht durch richterrechtliche Ausgestaltung des Ablehnungsverfahrens.

Nach § 42 Abs, 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Es geht dabei ausschließlich um die subjektive Wertung der ablehnenden Partei. Diese eindeutig psychologischen Ausgangslage wird von der Rechtsprechung auf den Kopf gestellt, und der Gesetzgeber hilft nach. Die Gerichte haben die subjektive Lage des Ablehnenden kurzerhand objektiviert und an Stelle der konkreten Partei eine Kunstfigur gesetzt, eine besonnene, objektive und einsichtige Idealperson. Auf diese Weise sollen rein subjektive Wertungen und persönliche Überempfindlichkeiten ausgeschaltet werden. Der vorsitzende Richter am OLG Chlosta (SchlHA 1994,140) hat eingeräumt, dass es sich dabei in Wahrheit um einen semantischen Trick handelt, mit dem Unvereinbares auf einen Nenner gebracht werden soll. So schaffen sich Richter die Möglichkeit einer Projektion. Was der fiktive Ablehnende denken und empfinden muss, bestimmen sie auf Grund ihrer eigenen Wertung und übertragen diese auf die ablehnende Partei. Die Anforderungen an deren Besorgnis lassen sich dann so formulieren, dass die Partei vielleicht „subjektiv“ besorgt, diese Besorgnis aber „objektiv“ grundlos sei. Voreingenommenheit, Parteilichkeit , Neutralitätsverstöße, verbale Entgleisungen und dergleichen können so als „objektiv“ harmlos behandelt werden.

Das kann so weit gehen, dass sogar Gesetzesverstöße in Kauf genommen werden, um abgelehnte Kollegen zu schützen. Nach der Wiedervereinigung hatten Drückerkolonnen Hunderttausende von Anlegern Schrottimmobilien angedreht, die von Banken ohne Bewertungskontrolle voll finanziert worden waren. Als sich die Wertlosigkeit der Immobilien herausstellt, blieben die betrogenen Anleger mit den hohen Darlehn belastet. Bei den Drückern war nichts zu holen. Die Anleger nahmen deshalb die Banken in Anspruch, die die wertlosen Objekte beliehen hatten. Der Bankensenat des Bundesgerichtshofes - XI. Zivilkammer trieb mit seiner bankenfreundlichen und verbraucherfeindlichen Rechtsprechung (siehe Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, 2004, § 358 Rn.49) Hunderttausende Anleger in den finanziellen Ruin, einige sogar in den Selbstmord. Zugleich hielten die Richter dieses Senats gegen Honorar in Bankseminaren Referate über ihre bankenfreundliche Rechtsprechung. Dabei kam es unter anderem dazu, dass einer von ihnen zu der abweichenden obergerichtlichen Rechtsprechung erklärte, drei noch nicht rechtskräftige Urteile von Oberlandesgerichten müssten aufgehoben werden, (und sind auch aufgehoben worden!), dem Spuk dieser verbraucherfreundlichen Rechtsprechung müsste ein Ende gemacht werden. Deshalb lehnte ihn ein Anleger - Kläger wegen Besorgnis der Befangenheit ab und machte diese Äußerung durch seriös eidesstattliche und anwaltliche Versicherung glaubhaft. Die Gegenseite bestritt mit Nichtwissen („nicht gehört“).

Die Rechtslage war damit eindeutig. Weicht die Darstellung des Ablehnenden von derjenigen des Abgelehnten ab, dann ist das Vorbringen des Ablehnenden nach ganz überwiegender Meinung Entscheidungsgrundlage (Nachw. Bei Schneider, Befangenheitsablehnung des Richters im Zivilprozess, 2. Aufl. 2001, §3 Rn.80ff.;Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., 2005, § 42 Rn. 10; Musielak/Heinrich, ZPO, 4. Aufl. 2005, §44 Rn.7). Dem Ablehnungsantrag hätte stattgegeben werden müssen. Er ist aber mit der Begründung zurückgewiesen worden, die Äußerung des abgelehnten Richters sei nicht glaubhaft gemacht (BGH WPM 2003,848). Die offensichtliche Unrichtigkeit kann nur darauf beruhen, dass die fünf beschließenden Senatsmitglieder entweder die Rechtslage nicht kannten und sich nicht sachkundig gemacht hatten, oder dass sie sich bewusst darüber hinweggesetzt haben, um ihren Kollegen zu schützen. Eine dritte Erklärung scheidet aus. So oder so handelt es sich um grobe Pflichtwidrigkeiten. Der Kontrollsenat (§ 45 Abs.1 ZPO) hat falsch entschieden, (Schneider, ZAP- Kolumne Heft 16, 2003; Vollkommer, WuB VII A. § 42 ZPO 1.04.s.88: Zöller/Vollkommer, ZPO, 25, Aufl., 2005, §44 Rn.4), um die abgelehnten Richter zu schützen.

Nicht genug damit, diese schützten sich selbst zusätzlich durch „Dienstliche Äußerungen“ (§ 44 Abs. 3 ZPO), die völlig nichtssagend sind und auf die Ablehnungsrüge nicht eingehen.

Die dienstliche Äußerung des ablehnenden Richters ist dessen Dienstpflicht (Zöller/Vollkommer, ZPO, § 44 Rn.4). Ihr ist durch eine zusammenhängende Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu entsprechen (Baumbach /Hartmann, ZPO, 64. Aufl., 2006, § 44 Rn.6). Dem Inhalt nach handelt es sich um eine Gegendarstellung (Schneider, Befangenheitsablehnung, § 3 Rn.162) „eine Art Zeugenaussage“ (Baumbach/Hartmann, a.a. O.) Die findet sich aber nur selten. Üblich ist statt dessen die nichtssagende Floskel „Ich fühle mich nicht befangen“ oder gar „Ich bin nicht befangen“, obwohl im Ablehnungsrecht nichts belangloser ist als das „Gefühl“ des abgelehnten Richters. Manchmal wird auch noch die Empörung darüber verlautbart, als befangen angesehen zu werden. So schrieb beispielsweise ein Amtsrichter in seiner dienstlichen Äußerung:“ Das Gericht bittet jedoch bei Entscheidungen über den Befangenheitsantrag mit auszuführen, dass erneute derartige prozessuale Anträge nicht mehr zu berücksichtigen sind.“ (ZAP-Report: Justizspiegel Heft 10/2003, 499)

Die Kontroll- und Beschwerdegerichte akzeptieren dergleichen contra legem grundsätzlich als hinreichende dienstliche Äußerung.
Doch immer noch nicht genug. Ein Ablehnungsgesuch kann von dem abgelehnten Richter selbst als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen werden (BGH NJW 1992,984; weitere Nachw. bei Pentz NJW 1999,2000; § 26a StPO). Sicherlich gibt es solche missbräuchlichen Gesuche. Doch ebenso sicher gibt es rechtsmissbräuchliche Beschlüsse dieser Art. Die Rechtslage wird dann unerträglich, wenn die Selbstentscheidung des abgelehnten Richters zugleich als Kontrollentscheidung nach § 45 ZPO behandelt wird (so z.B. OLG Braunschweig MDR 2000, 846; OLG Bremen MDR 1242; LG Frankfurt NJW - RR 2000, 1088) Dadurch wird der gesetzlich vorgesehene Rechtszug verkürzt. Es gibt nur noch die sofortige Beschwerde. Ist diese ausgeschlossen, wie durch § 49 ZPO Abs. 3 ArbGG, dann entscheidet der abgelehnte Richter selbst über das Ablehnungsgesuch und bestätigt zugleich seinen Beschluss ohne Fremdkontrolle endgültig als Kontrollrichter (so LAG Rheinland-Pfalz EzA ArbGG 1979 § 49 Nr.2; zustimmend Germelmann/Matthes/Müller-Glöge/Prütting, ArbGG, 5.Aufl., 2004, § 49 Rn. 47). Die gegenteilige Rechtsprechung (z.B. OLG Nürnberg MDR 1973, 176; OLG Bremen OLGZ, 1992, 485; OLG Frankfurt FamRZ 1993, 1467) und das ablehnende Schrifttum (Wieczorek/Schütze/Niemann; ZPO, 3. Aufl., 1994, § 46 Rn. 4; Zöller/Vollkommer, ZPO, § 46 Rn. 22; Baumbach/Hartmann, ZPO, § 46 Rn. 12; Musielak/ Heinrich, ZPO, 4. Aufl., 2005, § 46 Rn. 4a.E.), die auf die verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 2 S. 2 GG) hinweisen, werden ignoriert.

Von solchen Richtern erwartet der Gesetzgeber, sie würden auf Gehörsrüge nach § 321 a ZPO ihre Fehler einräumen und berichtigen! Nach bisherigen Erfahrungen sind Anhörungsrügen fast aussichtslos. Das wird auch durch eine Aktenauswertung Vollkommers bestätigt (FS – Musielak, 2004, S 619 ff).

Bezeichnend für diese Situation ist eine Entscheidung des Kammergerichts. Nach Zurückweisung eines Antrags auf Terminverlegung wurde der Kammervorsitzende abgelehnt. Er machte es sich einfach und wies das Ablehnungsgesuch gleich selbst zurück, weil es wegen Rechtsmissbrauch unzulässig sei. Das KG (KGReport 2005, 110) entschied als Beschwerdegericht: „Die Besorgnis der Befangenheit wird auch nicht dadurch begründet, dass der abgelehnte Richter das Befangenheitsgesuch selbst als unzulässig, weil rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen hat.“

Die Begründung dafür hat allerdings einen Haken. Das KG erklärte nämlich zugleich, die Selbstentscheidung sei unzulässig. Damit stand fest, dass die Partei Grund für ihre Besorgnis hatte, der Richter sei nicht unbefangen. Um darum herumzukommen und die Ablehnung gleichwohl als unbegründet bewerten zu können, führte das KG weiter aus, die fehlende Selbstentscheidung „ ist vor dem Hintergrund, dass nach § 227 Abs. 4 S.3 ZPO die Entscheidung über eine Terminverlegung nicht anfechtbar ist, noch vertretbar.“

Damit war ein neuer Auslegungsgrundsatz erfunden: Rechtsverletzungen eines abgelehnten Richters reichen dann nicht zur Befangenheitsablehnung aus, wenn sie unanfechtbar sind. Offenbar hatte das KG aber gespürt, welchen hermeneutischen Unsinn es von sich gegeben hatte. In den Beschlussgründen hieß es nämlich: „In Zukunft wird das LG in vergleichbaren Fällen jedoch die Wartepflicht des § 47 ZPO zu beachten haben.“

Es ist schon erstaunlich, zu welchen geistigen Verrenkungen Gerichte in der Lage sind, um Fehlentscheidungen zu decken!

Die „Modernisierungsgesetzgebung „ trägt leider das ihre dazu bei, erfolgreiche Ablehnungsgesuche zu verhindern. Nach altem Recht (§ 45 Abs. 2 ZPO) war die Ablehnung eines Richters so geregelt, dass darüber erst einmal das Landgericht, bei Ablehnung eines Familienrichters das Oberlandgericht zu entscheiden hatte. Damit war ein Mindestmaß an Objektivität sichergestellt, weil Richter eines anderen Gerichts über die Berechtigung der Ablehnung zu entscheiden hatten, so dass der Einfluss beruflicher oder persönlicher Kontakte ausgeschaltet schien. Das ist durch die ZPO–Reform 2002 geändert worden. Kontrollrichter ist nunmehr ein „anderer Richter des Amtsgerichts“ (§ 45 Abs.2 S.1 ZPO). Es wird also einem Richter angesonnen, das Verhalten seines Kollegen kritisch zu überprüfen und vielleicht dadurch abzuwerten, dass die Befangenheitsablehnung für begründet erklärt wird. Welche psychischen Hemmschwellen müssen dazu überwunden werden! Das ist etwa so, wie wenn ein Sozius bestätigen sollte, sein Kollege habe eine Widereinsetzung in den vorigen Stand verpatzt.

Doch nicht einmal das war genug. Durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 30.8.2004 (JuMoG) ist auch noch die in § 47 ZPO a.F. vorgeschriebene Wartepflicht ausgehebelt worden. Bis dahin durfte ein abgelehnter Richter bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Ablehnungsverfahrens nicht mehr tätig werden, ausgenommen Handlungen, die keinen Aufschub gestatten. Nunmehr ist es so, dass er bei Ablehnung in der mündlichen Verhandlung weiter tätig sein darf, um eine Vertagung zu verhindern (§ 47 Abs. 2 S. 1 ZPO). Erlaubt sind danach sogar die Vernehmung erschienener Zeugen und verfahrensabschließende Urteile.

Der abgelehnte Richter wird somit als „gesetzlicher Richter auf Probe“ zugelassen. Erweist sich die Ablehnung später als begründet, ist der nach Anbringung des Ablehnungsgesuchs liegende Teil der Verhandlung zu wiederholen (§ 47 Abs. 2 S. 2 ZPO). Es wird also tatsächlich dem Kollegen eines Amtsrichters, dem „anderen Richter“ zugemutet, durch einen dem Ablehnungsgesuch stattgebenden Beschluss seinem Kollegen ein vorwerfbares Verhalten zu bescheinigen und den geschäftsplanmäßigen Vertreter dieses Kollegen anzuweisen, das Verfahren zu wiederholen. Anwälte und Parteien müssen dann einen neuen Termin wahrnehmen. Bereits vernommene Zeugen sind erneut zu vernehmen, wobei aussagepsychologisch zu beachten ist, dass die erste Vernehmung Fakten schafft, die bei Wiederholung des Verfahrens fortwirken.

Befangenheitsablehnungen haben im Zivilprozess jetzt noch geringere Erfolgsaussichten als vorher. Das ist mit diesen Abschwächungen der Rechtsstellung der Parteien auch bezweckt. Bezeichnend dafür ist die statistische Entwicklung des Ablehnungsrechts. Das NJW – Fundheft weist für die acht Jahre von 1945 bis 1952 nur drei einschlägige Gerichtsentscheidungen nach. Für 1980 waren es schon zwölf, für das Jahr 2003 fünfzehn. Diese Zahlen indizieren einen erheblichen Anstieg der Ablehnungsverfahren, deren Ergebnisse ganz überwiegend nie veröffentlicht werden. Man kann also ohne weiteres davon ausgehen, dass sich die Zahl der Ablehnungsverfahren mindestens verzehnfacht hat. Jedenfalls ist es auffällig, dass mit dem Anstieg der Ablehnungsverfahren eine gegenläufige Gesetzgebung einher geht.


4. Nichterhebung von Kosten

Dieses „Wegbügeln“ von Fehlern zu Lasten des Rechtssuchenden setzt sich sogar im Kostenrecht fort. Nach § 21 GKG (früher § 8 GKG) werden Kosten nicht erhoben, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären. Die Parteien sollen also gegenüber der Staatskasse nicht fehlerhafte und damit überflüssige Sachbehandlungen zahlen müssen. Aus dem „nicht richtig“ hat die Rechtssprechung „in freier Rechtsfindung“ gemacht: ein Verstoß gegen eine eindeutige gesetzliche Norm, sofern der Verstoß offen zu Tage tritt (Hartmann, Kostengesetz, 35. Aufl. 2005, § 21 Rn. 8).

Diese Auslegung ist völlig abwegig. Der Gegensatz von richtig ist unrichtig und nicht ein offen zu Tage tretender Verstoß gegen eine eindeutige Norm. Der Gesetzeswortlaut ist eindeutig, desgleichen der Gesetzeszweck. Parteien sollen keine Gerichtskosten für belastende Fehler des Gerichts zahlen müssen.

Diese abwegige Auslegung des § 21 GKG ist nur durch das Bestreben der Gerichte zu erklären, eigene Fehler herunterzuspielen und sich möglichst von Sanktionen frei zu stellen. Das OLG Koblenz (JurBüro 1980, 406) und das OLG Karlsruhe (JurBüro 1999, 425) haben dazu sogar die richterliche Unabhängigkeit bemüht, mit der es unvereinbar sei, fehlerhaftes Vorgehen von Richtern zu ahnden!

Selbst dann, wenn die Nichterhebung von Gerichtskosten beschlossen wird, bleibt eine Partei auf den wesentlichen Kosten sitzen, nämlich auf der doppelt anfallenden Anwaltsvergütung. Die kann nicht niedergeschlagen werden. Wie sich das auswirkt, zeigen Berufungsverfahren, in denen das erstinstanzliche Urteil wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels aufgehoben und die Sache zurückverwiesen wird (§ 538 Abs. 2 ZPO). Selbst wenn die durch eine erstinstanzliche unrichtige Sachbehandlung angefallenen Gerichtskosten nicht erhoben werden (das ist die Regel; s. Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 3538 Rn. 58), muss die letztlich unterliegende Partei die Anwaltskosten des auf den vorinstanzlichen Fehler zurückgehenden Berufungsverfahrens tragen! Wie ungerecht und wie wenig verständlich das für die unterliegende Partei ist, mag folgender Fall zeigen: Nach einem notariellen Kaufvertrag über Geschäftsanteile einer GmbH mit einem Kaufpreis von 2,25 Mio. DM blieb der Verkäuferin die Zwangsvollstreckung wegen eines Teilbetrages von 57.786 DM. Die Käufer erhoben Vollstreckungsgegenklage, unterlagen erstinstanzlich und legten Berufung ein. In einem Aufklärungs- und Hinweisbeschluss teilte der Berufungssenat den Parteien mit, im Hinblick auf die Bedeutung der Sache für beide Parteien werde er die Revision unabhängig davon zulassen, wie das Berufungsurteil ausfalle.

Dann wechselte die Besetzung des Senats. In der Schlussverhandlung erklärte der Senatsvorsitzende, „von einer so kraftvollen Äußerung werde das Gericht auch in der neuen Besetzung nicht abweichen.“ Im Vertrauen darauf sehen die Berufungskläger davon ab, sich die Zulässigkeit der Revision durch Erweiterung ihres Antrags auf einen 60.000 DM übersteigenden Betrag zu sichern (§ 546 S. 1 ZPO a.F.) dieses Vertrauen zahlte sich nicht aus. Das Berufungsgericht wies die Berufung zurück und ließ die Revision trotz doppelter Zusage nicht zu (Urteil OLG Thüringen – 1 U 205/95). Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision wegen Nichterreichens der Revisionssumme und fehlender Zulassung. Das Bundesverfassungsgericht gab der daraufhin eingelegten Verfassungsbeschwerde statt (1 BvR 10/99): „eine unzulässige Überraschungsentscheidung“. Ungeachtet der Schamlosigkeit, mit der das Berufungsgericht sein Wort gebrochen hatte, muss die letztlich unterliegende Partei die Anwaltskosten tragen, die dieser Rechtsmissbrauch ausgelöst hat.


5. Dienstaufsicht

Dieser vorstehend beispielhaft an einigen Situationen aufgezeichnete richterliche Selbstschutz wird durch faktischen Ausschluss der Dienstaufsicht perfekt gemacht. Es geht dabei darum, die ordnungswidrige Ausführung von Amtsgeschäften zu schützen. Nach § 26 Abs. 2 DRiG umfasst die Dienstaufsicht „auch die Befugnis, die ordnungswidrige Art der Ausführung eines Amtsgeschäfts vorzuhalten und zu ordnungsgemäßer, unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte zu ermahnen.“ Die Dienstaufsicht soll also sicherstellen, „dass die Richter pflichtgemäß handeln und notfalls zu pflichtgemäßem Handeln angehalten werden.“ (Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, 5. Aufl. 1995, § 26 Rn.2). Es geht unter anderem um Pünktlichkeit, angemessenes Verhalten und angemessene Umgangsformen, aber auch um offensichtliche Fehlgriffe bei der Entscheidung, wenn darüber kein Zweifel bestehen kann (Schmidt-Räntsch, § 26 Rn.23).

Durch die Maßnahme der Dienstaufsicht darf jedoch nicht die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtig werden (§ 26 Abs. 1 DRiG). Das ist dann der Vorwand, mit dem die Dienstaufsicht von Gerichten ausgehebelt wird. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat dazu eine „Kernbereichstheorie“ entwickelt, der alles Mögliche zugeordnet wird (Schmidt-Räntsch, § 26 Rn. 24 ff) Um die Dienstaufsicht zuverlässig auszuschalten, ist zusätzlich eine Auslegungsvermutung geschaffen worden: Im Zweifel ist die richterliche Unabhängigkeit zu respektieren und hat eine Maßnahme der Dienstaufsicht zu unterbleiben (BGHZ 76, 291). Die Folgen sind manchmal absurd, geradezu lächerliche Entlastungsbegründungen.

So hat der KG NJW 1995, 2115 ein Richter einfach vier Termine „aus dienstlichen Gründen“ aufgehoben, um sich mit einem Plakat „Gegen Chaos und lange Verfahrensdauer an Berliner Familiengerichten“ vor dem Gerichtsgebäude postieren zu können. Die Dienstaufsicht schritt ein, jedoch vergeblich: Das Dienstgericht entschied, dem Richter habe es im Zeitpunkt der Terminverlegung an dem Bewusstsein gefehlt, den Kernbereich richterlicher Tätigkeit zu verlassen (so wörtlich das KG!) ( weitere Beispiele bei Schneider AnwBl.1990, 113 ff)

In einem anderen Fall (LG Paderborn Rpfleger 2005, 208 mit Anm. Schneider) hatte ein Amtsrichter ohne gesetzliche Grundlage Vorführungsbefehle gegen säumige Vollsteckungsschuldner erlassen, um sie persönlich nach den Gründen ihres Ausbleibens im Termin zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung anzuhören. Er hätte aber nach § 901 S.1 ZPO auf Antrag des Gläubigers gegen den Schuldner sofort Haftbefehl erlassen müssen. Trotz wiederholter Aufhebung durch das Beschwerdegericht hielt er an seiner Praxis der verfassungswidrigen Freiheitsentziehung (Art 104 GG) fest. Die vom Verfahrensbevollmächtigten des Gläubigers deshalb eingelegte Dienstaufsichtsbeschwerde wurde in drei Instanzen unter Hinweis auf die richterliche Unabhängigkeit zurückgewiesen. Danach ist ein Richter kraft seiner Unabhängigkeit nicht mehr an das Gesetz (Art. 20 Abs.3 GG) gebunden, sondern darf ohne jede gesetzliche Grundlage, also nach Gutdünken, Frei- heitsentziehung beschließen.

Eine Strafanzeige wegen Rechtsbeugung blieb ebenfalls erfolglos. Der Generalstaatsanwalt räumte ein, der Erlass des Vorführungsbefehls stelle „einen erheblichen Rechtsverstoß auf Grund seines freiheitsentziehenden Charakters zulasten des Schuldners dar“, sei also rechtswidrige Freiheitsberaubung. Die Tatbestandsverwirklichung des § 339 StGB verneine er jedoch, weil der Richter – darauf lief seine Begründung hinaus – es ja gut gemeint habe.

Jede noch so grobe Gesetzesverletzung, jeder evidente Verfahrensverstoß, jede Verletzung der Dienstpflicht – alles wird unter den Teppich der richterlichen Unabhängigkeit gekehrt. Richter wissen das und schämen sich nicht einmal, sich wegen ihres Fehlverhaltens auf ihre vermeintliche Unabhängigkeit zu berufen. Der Bundesgerichtshof unterstützt sie dabei nach Kräften mit seiner „Kernbereichstheorie“ und einer völlig abwegigen Beweislastregelung, wonach bei Zweifeln, ob ein Verhalten als Dienstvergehen zu bewerten sei, zugunsten der richterlichen Unabhängigkeit zu entscheiden sei.

Man kann die Auffassung vertreten, wenn der dienstrechtlich relevante Sachverhalt nicht feststehe (non liquet), sei zugunsten des Richters zu entscheiden. Unvertretbar ist aber die Ansicht, bei feststehenden Sachverhalten würden sich Bewertungszweifel zugunsten des Richters auswirken. Ein feststehender Sachverhalt erfüllt entweder die Voraussetzung eines Dienstvergehens oder er erfüllt sie nicht, ein Drittes ist ausgeschlossen. Dienstvorgesetzte oder Dienstgerichte müssen das entscheiden und dürfen sich nicht auf „unaufhebbare Bewertungszweifel“ zurückziehen, obwohl sie bewerten müssen.

Um das Elend der Richterdienstaufsicht einmal zu dokumentieren, habe ich ein Experiment, einen „Selbstversuch“ durchgeführt, der meine schlimmsten Erwartungen noch übertroffen hat. (Näher dargestellt in ZAP - Kolumne Heft 2/2005)

Der Vorsitzende einer Zivilkammer benutzte ständig eine Ladungsverfügung, wonach unter anderem
- eine geladene Partei nur vom Erscheinen entbunden werde, wenn sie am Terminstag telefonisch erreichbar sei,
- Schriftsätze im Termin nicht entgegengenommen würden,
- Verlegungsanträgen nur stattgegeben werde, wenn mit dem Antrag mehrere zeitnahe Alternativtermine vorgeschlagen würden, die mit dem Anwalt des Gegners und den Parteien abgestimmt worden seien.

Das alles war offensichtlich rechtswidrig. Die Befreiung einer Partei vom persönlichen Erscheinen darf nicht von ihrem Telefondienst abhängig gemacht werden, für den sie sich vielleicht noch beim Arbeitgeber unter Lohnverzicht beurlauben lassen müsste. Zudem können die Beteiligten Telefongespräche zwischen Partei und Richter nicht einmal mithören (Art. 103 Abs. 1 GG). Auch die Weigerung, im Termin keine Schriftsätze entgegenzunehmen, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, weil darin zugleich die Weigerung liegt, Parteivorbringungen zu Kenntnis zu nehmen (BVerfGE 42, 365 f). Folgerichtig hat das KG (MDR 2001, 1435) eine solche Gehörsverletzung als hinreichenden Grund für eine Befangenheitsablehnung gesehen. Die Terminverlegung von der Vorgabe mehrerer, also mindestens zweier Alternativtermine (mal 2=4 Vorschläge!)abhängig zu machen, weicht von der eindeutigen, höchstrichterlich abgesicherten Auslegung des § 227 ZPO ab und verstößt gegen das Willkürverbot (BVerGE 74, 234 f.; NJW 2001, 1565; NJW-RR 2002,6).

Die dienstliche Äußerung des abgelehnten Vorsitzenden (§ 44 Abs. 3 ZPO) wurde mir nur auszugsweise bekannt gegeben – Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, denn jeder Verfahrensbeteiligte muss sich über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (BVerfGE 84, 190; 86, 144; 89, 35) Der Vorsitzende ging nicht auf die Rechtsfragen ein, sondern meinte, er dürfe kraft seiner richterlichen Unabhängigkeit so verfahren. Der Landgerichtspräsident wies die Dienstaufsichtsrüge zurück, ebenfalls ohne auf die Rechtsfragen einzugehen, und nahm nur auf die Stellungnahme des abgelehnten Richters Bezug. Der Oberlandesgerichtspräsident bezog sich auf den „überzeugenden Bescheid“ des Landgerichtspräsidenten und auf die richterliche Unabhängigkeit. Das Justizministerium als oberste Dienstaufsichtsbehörde bezog sich auf beide vorangegangenen Bescheide.

Keine Instanz war auch nur mit einem Wort auf meine ausführlichen, mit Rechtssprechung und Schrifttum belegten Darlegungen zur Rechtslage eingegangen. Und aus dem Bescheid des Justizministerium ergab sich zudem noch, dass die nicht abgelehnten Beisitzer zur Dienstaufsichtsrüge unaufgefordert Stellungnahmen abgegeben hatten, die berücksichtigt worden waren. Von diesen Stellungnahmen wusste ich nichts. Sie sind mir auch nie bekannt gegeben worden, so dass mir alle drei Instanzen das rechtliche Gehör verweigert hatten (Art. 103 Abs.1GG). So sieht die Praxis aus!

Allerdings ist auch nicht zu verkennen, dass Dienstvorgesetzte einen schier aussichtslosen Kampf gegen Richterdienstgerichte führen und längst resigniert haben. Einer der letzten einschlägigen veröffentlichten Fälle zeigt das (BGH NJW – RR 2005,433).

Vorgesehener Verkündigungstermin in einer WEG – Sache war der 7.4.2000, „wegen Überlastung“ kam es erst am 5.7.2001 zu einer Entscheidung. Auf anwaltliche Rüge hin hatte der Dienstvorgesetzte dem Richter unter dem 6.3.2001 – um es unkompliziert auszudrücken – geschrieben, er möge doch endlich einmal voran machen. Der untätige Richter wurde nicht etwa tätig, sondern sah sich in seiner Unabhängigkeit beeinträchtigt. Und dann ging es los: Widerspruch, Dienstgericht in erster Instanz, Dienstgerichtshof in der Berufungsinstanz, Revision an den BGH. Dieser gab- natürlich? – der Revision des getadelten Richters statt. In der umfangreichen Urteilsbegründung wird minutiös unterschieden, was ein Dienstvorgesetzter darf und was er nicht darf und dann geschlussfolgert, was er getan habe, das habe er nicht gedurft. In § 26 Abs. 2 DRiG steht allerdings etwas ganz anderes. Welcher Dienstvorgesetzte wird sich diese vorhersehbare Prozedur mit vorhersehbarem Ergebnis antun wollen? Der Weg des geringsten Widerstandes ist unter dem Diktat der bedingungslosen Entlastungsrechtsprechung der Dienstgerichte zum Handlungsgrundsatz der Dienstvorgesetzten geworden.

IV. Rechtsmittelausschluss

Der Gesetzgeber bestärkt diese Grundhaltung unter anderem dadurch, dass besonders fehlerhafte Entscheidungen für unanfechtbar erklärt werden. Einige Beispiele dazu:
Die Anhörungsrüge (§ 321a ZPO) ist wegen der in der Regel fehlenden Bereitschaft von Richtern, Fehler einzugestehen und zu beheben, als Abwehrmaßnahme untauglich. Bleibt es wegen fehlerhafter Zurückweisung der Rüge bei dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, dann gibt es dagegen nur die Verfassungsbeschwerde, weil der Beschluss unanfechtbar ist (§ 321a Abs. 4 S. 4 ZPO) Diese ist mit einer Erfolgsquote von 2,5 % so gut wie aussichtslos. Die naheliegende Lösung, solche Beschlüsse höherinstanzlich überprüfen zu lassen, (siehe Gravenhorst MDR 2003, 888) hat der Gesetzgeber vermieden, um den dann zu erwartenden Beschwerdeverfahren vorzubeugen.

Die äußerst bedenkliche umfassende Zuständigkeitsverlagerung auf den Einzelrichter (§§ 348, 348a, 568 ZPO) ist mit erheblichen rechtsstaatlichen Einbußen verbunden (Deutsch NJW 2004, 1150) alle Übertragungsvorgänge zwischen Einzelrichtern und Zivilkammer sind aber unanfechtbar (§§ 348 Abs. 4, 348a Abs. 3, 568 Abs.3 ZPO).

Die missbrauchanfällige einstimmige Beschlusszurückweisung einer Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO ist unanfechtbar, während gegen Beschlussverwerfung die Rechtsbeschwerde stattfindet (§ 522 Abs. 1 S. 4 ZPO). Auch die Verwerfung der Berufung durch Urteil ist anfechtbar. Zulassungsrevision (§ 543 ZPO) oder die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 ZPO). Also ausgerechnet gegen die besonders risikobehaftete einstimmige Beschlusszurückweisung hat die beschwerte Partei kein Rechtsmittel. Auch hier bleibt ihr nur die – wenig aussichtsreiche – Verfassungsbeschwerde.

Gegen Urteile in Bagatellsachen, die gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, hatte die Rechtssprechung die vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Ausnahmeberufung analog § 513 Abs. 2 ZPO a.F. = § 614 Abs. 2 ZPO n.F. geschaffen. Sie soll angeblich durch das völlig ineffektive Verfahren nach § 321a ZPO abgeschafft worden sein (siehe dazu Schneider MDR 2004, 549). In der Gesetzesbegründung findet sich dazu kein Wort. So wird wieder eine neutrale, höherinstanzliche Kontrolle verhindert.

In BGHZ 150, 133 wird sogar die Auffassung vertreten, die ZPO 2002 habe die Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit abgeschafft, obwohl aus den vom Senat verschwiegenen Motiven (BT – Drucks. 14/4722, S.69) das Gegenteil zu lesen ist. Der Gesetzgeber ist danach davon ausgegangen, dass die Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit weiterhin anwendbar sei. Wieder wird das Bemühen erkennbar, eine Fremdkontrolle für fehlerhafte Beschlüsse auszuschalten.


V. Resümee

Die vorstehenden Schilderungen sind nur Beispiele unter vielen anderen. Die dadurch verursachten Rechtseinbußen ließen sich nicht für den Zivilprozess, sondern auch für die Strafprozessordung und alle anderen Verfahrensordnungen umfangreich nachweisen:

Die Praxis der Ämterpatronage unter Verstoß gegen den Grundsatz der Bestenauslese in Art. 33 Abs. 2 GG (Dreier, GG, Bd. III, 2000, Art. 95 Rn. 27 ff). Im öffentlichen Dienst hat sich die Patronage in Anknüpfung an die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei zu einem unübersichtlichen Phänomen entwickelt... Im Publikum wird es weiterhin als Indiz für die Verwerfungen des demokratischen Systems wahrgenommen... Schleichendes Gift (v.Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd.2, 4/5 Aufl. 2001. Art. 33 Rn. 17; siehe auch Bertram NJW 2001, 1838. Beim BFH und beim BAG gehören mittlerweile zwischen 65 und 75 % der Richter einer Partei an).
Die Finanzverwaltung weist Finanzämter an, der öffentlichen Hand ungünstige Entscheidungen des Bundesfinanzhofes nicht anzuwenden (Lange DB 2005, 354).

Zweierlei Maß! Rechtsanwälte haften ersatzweise für Fehler der Rechtsprechung, weil sie haftpflichtversichert sind (BGH NJW 2002, 1048, „Das Richterprivileg wird damit zum Anwaltssündenfall stilisiert“ so Bornemann/Jungk/Grams, Anwaltshaftung, 4. Aufl., 2005, 22 Rn. 141, S. 166) Das BVerfG NJW 2002, 2937, hat dem jetzt ein Ende bereitet: Die Gerichte sind nicht legitimiert, den Rechtsanwälten auf dem Umweg über den Haftungsprozess die Verantwortung für richtige Rechtsanwendung aufzubürden).

Der psychologische Abwehrmechanismus insbesondere der Justiz funktioniert perfekt (siehe dazu Schneider AnwBl. 2004.333), alles läuft darauf hinaus, die Unantastbarkeit richterlichen Verhaltens zu stärken und den Staat von dem Einstehen für ihm zuzurechnendes Unrecht freizustellen. Die einzigen Juristen, die sanktionslos die Gesetze verletzen dürfen, sind die Richter! Wenn aber die Rechtsunterworfenen richterliche Fehlurteile und richterliche Pflichtverletzungen ersatzlos tragen müssen, dann sind die Kriterien eines Rechtsstaates nicht mehr erfüllt. Und so bleibt am Ende die Erkenntnis: Ein Rechtsstaat, wie er den Verfassern des Grundgesetzes vorgeschwebt hat, den haben wir nicht, und wir entfernen uns ständig weiter von diesem Ideal.


Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung vom Autor Dr. E. Schneider und dem Nomos - Verlag veröffentlicht.

Egon Schneider - 26.09.2006


Quelle: http://www.hu-marburg.de/homepage/justiz/info.php?id=134#text

oder

Quelle: http://www.hu-marburg.de/homepage/justiz/gettext.php?id=134


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