Liste Femanzen Dr. Claudia Wallner (Liste Femanzen)
F115 Dr. phil. Claudia Wallner – geboren 1961 – freiberufliche Referentin und Praxisforscherin – Koordinatorin des „Bildungsnetz Berlin“ bei Life e.V. - www.claudia-wallner.de –– Anschrift: Dr. Claudia Wallner, Scheibenstr. 102, 48153 Münster – Mitbegründerin der Bundesarbeitsgemeinschaft BAG Mädchenpolitik – Mitglied bei FUMA e.V. - www.maedchenpolitik.de – www.maedchenarbeit-nrw.de – cwallner@aol.com - wallner@life-online.de
Selten war ein Artikel im SPIEGEL so polemisch unter dem Deckmantel der Berichterstattung wie der von René Pfister mit dem Titel "der neue Mensch" und - was noch schlimmer ist - so fachlich falsch und politisch fatal! Gender Mainstreaming ist entgegen der offensichtlich schlechten Recherche des Autors keine "merkwürdige Wendung", sondern eine politische Strategie zur Chancengleichheit, die zunächst von den Vereinten Nationen, in Folge von der Europäischen Union und dann von ihren Mitgliedsstaaten verabschiedet wurde. Sie zielt auch nicht auf "die Zerstörung von Identitäten", wie der Autor verstanden zu haben meint, sondern auf die Veränderung von Politik, indem von den Hierarchiespitzen her Verwaltungen und Politik dazu verpflichtet werden, das Ziel der Gleichstellung von Frauen und Männern regelhaft zu berücksichtigen. GM ist eine Strategie, die mit Organisations- und Personalentwicklung zu verbinden ist und Beschlüsse und Praxis grundsätzlich geschlechtergerecht gestalten helfen soll.
Wer eine Vorstellung davon bekommen will, wie GM funktioniert, sollte eben nicht bei einem Freien Träger vorbeischauen, wie der Autor fälschlicherweise empfiehlt, sondern bei einer Verwaltung wie bspw. dem Berliner Senat, weil dies die relevanten Akteure von GM sind: Politische Gremien und Ausschüsse und öffentliche Verwaltungen. Freie Träger sind überhaupt von dieser Strategie nur dann tangiert, wenn sie öffentliche Mittel beziehen wollen, die verknüpft sind mit der Verpflichtung zur Umsetzung von GM oder wenn sie sich selbst freiwillig dieser Strategie verpflichten. Insofern ist es natürlich völlig verfälschend, wenn der Autor nahelegt, dass das, was ein Freier Träger in Berlin in einer Projektwoche an Konzept anbietet, die Umsetzung von Gender Mainstreaming sei. Dies zeigt m.E. nur die Unkenntnis des Autors und wirft die Frage auf, was sein eigentliches Problem ist? Geschlechtergerechtigkeit ist eben keine "akademische Nischendisziplin", sondern basaler Anspruch einer demokratischen Gesellschaft - das sollte eigentlich auch beim SPIEGEL schon angekommen sein.
Ich frage mich, ob es irgend ein anderes politisches Thema gibt, zu dem der SPIEGEL ein solches Sammelsurium von aus dem Zusammenhang gerissenen Teilwahrheiten veröffentlichen würde - dass er es gerade zu diesem Thema tut, sagt viel aus über das geschlechterpolitische Verständnis dieser Zeitschrift."
http://www.claudia-wallner.de - Referentin, Praxisforscherin, Autorin – Münster
Claudia Wallner:
Feministische Mädchenarbeit zwischen politischem Kampf
und Anpassung: Wo liegen die Perspektiven von
Mädchenarbeit in Zeiten von „Alphamädchen“und „armen“
Jungen?
Vortrag gehalten auf der Fachtagung der BAG Mädchenpolitik e.V. am
01.12.2009 in Berlin
Das Konzept feministischer Mädchenarbeit wurde von Sozialarbeiterinnen in der
ersten Hälfte der siebziger Jahre entwickelt. Beeinflusst von den Analysen der
Frauenbewegung zur gesellschaftlichen Situation von Frauen reflektierten sie ihren
eigenen Arbeitsalltag insbesondere in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit und
kamen zu dem Schluss, dass die patriarchalen Gesellschaftsverhältnisse sich auch
in der sozialen Arbeit wieder finden und auch hier zu bekämpfen seien. Anders als
in anderen europäischen Ländern hatten sich in der deutschen Frauenbewegung
schnell radikalfeministische Strömungen durchgesetzt, die auch die feministische
Mädchenarbeit beeinflussten. Sie propagierten die ausschließliche Konzentration auf
Frauen und Frauenrechte und die Abkoppelung der „Frauenfrage“vom Kampf der
Linken um die Abschaffung des Kapitalismus. Die Radikalfeministinnen setzten im
Wesentlichen auf die Entwicklung von eigenen Frauenräumen. Grund hierfür war,
dass der in der Studentenbewegung geführte antikapitalistische Kampf die
Abschaffung des Patriarchats lediglich als einen Nebenwiderspruch gelten lassen
wollte und davon ausging, dass in einem sozialistischen Staat die
Gleichberechtigung der Geschlechter sich „von allein“einstellen würde. Dieser
Glauben fehlte den Frauen nach jahrelangen Erfahrungen mit ihren studentischen
Kollegen in der gemeinsamen politischen Arbeit.
Die politische Grundlage der feministischen Mädchenarbeit war also der
Radikalfeminismus, der Männer als Unterdrücker von Frauen ausmachte und das
Patriarchat als politisches System, das Frauen zum zweiten Geschlecht degradiere.
Ausgegangen wurde von einer grundsätzlichen Unterschiedlichkeit von Mädchen und
Jungen, Frauen und Männern. Entsprechend bezog sich feministische
Mädchenarbeit in ihren Anfängen auf differenztheoretische Grundlagen, nach denen
Frauen anders sind als Männer, weil ihre Biologie eine andere ist. Diese
Andersartigkeit führt der Theorie entsprechend dazu, dass Frauen andere (eigene,
weibliche) Interessen und Fähigkeiten haben, die allein durch das Patriarchat zu
Schwächen deklariert werden und die es durch die Frauenbewegung respektive die
feministische Mädchenarbeit gilt, zu Stärken umzudefinieren.
Die Entstehung feministischer Mädchenarbeit als Akt der Selbstbefreiung
Der Blick in die gesellschaftliche Situation von Mädchen und Frauen in den 1970er
Jahren macht deutlich, dass die feministischen Sozialarbeiterinnen allen Grund
hatten, sich aufzulehnen und dafür einzusetzen, dass die nächste Generation der
Mädchen unter besseren Bedingungen leben und aufwachsen kann. Frauen waren
entrechtet, demWillen der Ehemänner unterworfen, hatten als Ehefrauen weder ein
Recht auf den eigenen Körper noch auf die Entscheidung, ob sie den Haushalt und
die Kindererziehung übernehmen wollten oder Erwerbsarbeit nachgehen, ihr
Vermögen wurde bei der Eheschließung dem Mann überschrieben und bei einer
schuldhaften Scheidung verloren sie das Recht auf die Kinder und auf Unterhalt.
Frauen galten als „Anhängsel“ihrer Männer. Eine eigenständige weibliche Identität
und Realität war nicht vorgesehen.
Ein Blick in die eigene Berufsrolle in der sozialen Arbeit machte den Frauen zudem
deutlich, dass ihre Situation als Sozialarbeiterinnen in der Jugendarbeit ebenso
unterdrückt und abgewertet war wie die der Mädchen: Insbesondere in den
Jugendfreizeitheimen waren sie für die emotionale Versorgung der männlichen
Besucher und der Kollegen zuständig. Sie sorgen für ein angenehmes Klima und
besprachen mit den Jungen deren Probleme, während die Kollegen die Leitung, die
Außenvertretung und handwerkliche und sportliche Angebote übernahmen. Die
Sozialarbeiterinnen waren sich schnell einig, dass sie diese Berufsrollenauslegung
nicht länger bedienen wollten. Sie entschieden sich –entsprechend ihrer
radikalfeministischen Ausrichtung –sich den männlichen Besuchern und den
Kollegen soweit wie möglich zu entziehen. Hier kamen die Mädchen in den Blick, die
als quasi „Restgruppe“übrig blieben. Ein näherer Blick auf die Mädchen zeigte: Es
gibt eine gemeinsame Betroffenheit als Frauen im Patriarchat. Auch Mädchen sind
abgewertet und haben einen randständigen Status in den
Jugendfreizeiteinrichtungen.
Aus der Auseinandersetzung mit der Situation von Mädchen gesamtgesellschaftlich
und in der Jugendfreizeitarbeit, mit den Jugendarbeitstheorien, mit sozialistischen
Theorien (der Arbeiterjunge als Revolutionär muss besonders beachtet werden), mit
sexistischen Übergriffen in den Einrichtungen, mit dem Übersehen von Mädchen in
der Koedukation und mit der Abwertung ihrer Fähigkeiten entwickelten die
Sozialarbeiterinnen erste Ziele einer feministischen Mädchenarbeit:
- die Situation von Mädchen und die der Sozialarbeiterinnen sollte in den
Freizeiteinrichtungen verbessert werden
- es sollten Freiräume für die Pädagoginnen geschaffen werden von der
Bevormundung durch männliche Kollegen und von den jungenlastigen
Jugendarbeitstheorien, damit die Sozialarbeiterinnen selbst zu Expertinnen
der Jugendarbeit werden könnten
- es sollte eine Solidarisierung mit den Mädchen durch die gemeinsame
Betroffenheit als Frauen im Patriarchat hergestellt werden
- Mädchen sollten aus ihrem Randgruppenstatus gehoben und zu einer
gesellschaftlich relevanten Zielgruppe gemacht werden
- die Tätigkeiten und Verhaltensweisen von Mädchen sollten gesellschaftlich
aufgewertet und deren gesellschaftlicher Nutzen sichtbar gemacht werden
- durch Mädchengruppen sollten Freiräume für Mädchen und Pädagoginnen
geschaffen und gleichzeitig das Gesamtklima der Einrichtungen emanzipiert
werden durch den Abbau männlicher Machtpositionen
- parallel sollten Jungengruppen eingerichtet werden mit dem Ziel, Jungen zu
Verhaltensänderungen zu bewegen
- für Pädagoginnen und Pädagogen sollte Selbstreflexion eingeführt werden,
um für Unterdrückungsmechanismen zu sensibilisieren.
In den Anfängen feministischer Mädchenarbeit ging es also
- um die Verbesserung der Situation von Pädagoginnen und von Mädchen
- um die Stärkung und Aufwertung von Mädchen
- um geschlechtshomogene Mädchen- und Jungenarbeit
- um die strukturelle und konzeptionelle Veränderung der Institution und
- um die Entwicklung gendersensibler Teams.
Hieraus entwickelten feministische Sozialarbeiterinnen erste Grundsätze
feministischer Mädchenarbeit:
- Parteilichkeit für Mädchen
- ausschließlich Frauen arbeiten mit und für Mädchen
- Aufwertung weiblicher Fähigkeiten und Tätigkeiten
- Förderung einer eigenständigen weiblichen Identität
- Unterstützung der Solidarität unter Mädchen
- Befreiung der Mädchen von männlichen Zuschreibungen
- Stärkung von Mädchen und Förderung ihrer Unabhängigkeit4.
Eigene Räume für Mädchen, Geschlechtshomogenität der Angebote, ausschließlich
Frauen in der Mädchenarbeit und die Pädagogin als Identifikationsfigur waren und
sind bis heute die dem Radikalfeminismus geschuldeten Eckpfeiler feministischer
Mädchenarbeit. Feministische Mädchenarbeit war pädagogisch und politisch und
forderte eine ergänzende Jungenarbeit, in der Männer Jungen dazu bringen sollten,
Mädchen nicht länger zu unterdrücken, sich ihrer zu bewältigen und sie abzuwerten.
Mädchenarbeit war eine Provokation auf ganzer Linie - und nahm die Mädchen
in den Blick
Mit diesem Ansatz sperrte sich Mädchenarbeit gegen alles, was zu dieser Zeit als
richtig angesehen wurde: Sie beanspruchte ein eigenständiges und selbst
bestimmtes Leben für Mädchen und Frauen, wollte begleiten und stärken zu einer
Berliner Pädagoginnengruppe 1979
Zeit, als die Jugendwohlfahrt noch auf Strafen und Resozialisierung eingestellt war,
kritisierte die Koedukation, als diese gerade erst als emanzipatorisches Element in
die Jugendwohlfahrt eingeführt worden war, prangerte das Patriarchat und die
Männer als Unterdrücker von Mädchen und Frauen an und beanspruchte auch ein
politisches Mandat als Teil des Konzepts feministischer Mädchenarbeit.
Frauen- und Mädchenbefreiung als Selbstbefreiung setzte voraus, sich von Tätern
und Täterstrukturen abzuwenden. Und so ging feministische Mädchenarbeit ihren
eigenen Weg, grenzte sich nach außen ab und stärkte sich und die Mädchen nach
innen. Die feministische Haltung und die deutliche Abgrenzung gegenüber allem
Männlichen führten dazu, dass Mädchenarbeit angefeindet und ausgegrenzt wurde.
Sie war ein Dorn im Auge der Jugendwohlfahrt und später der Kinder- und
Jugendhilfe und erlangt nur sehr langsam den Status eines anerkannten, fachlichen
Konzepts.
Der geschlechtshomogene, politisch motivierte Ansatz feministischer Mädchenarbeit
nahm Mädchen und die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse detailliert und
umfassend in den Blick. Unterdrückungs- und Benachteiligungsstrukturen wurden
öffentlich gemacht, kritisiert und damit politisiert. Mädchenarbeit leistete neben derpädagogischen Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Herstellung von
Geschlechtergerechtigkeit. Der Ertrag dafür war Ignoranz, Abwertung, Hohn und
Widerstand von Seiten der Jugendhilfe. Während feministische Mädchenarbeit also
einerseits für Mädchen und Frauen große Erfolge zu verzeichnen hatte, wurde sie
genau dafür andererseits belächelt und abgelehnt.
Und heute: Erfolgsrezept Mädchen?
Von dieser Situation aus ist die Gesellschaft und sind Mädchen bis heute einen
weiten Weg gegangen, so scheint es. In der Öffentlichkeit, in den Medien und von
der Politik werden heute ganz andere Mädchenbilder gezeichnet, die denen von vor
30 Jahren nahezu diametral entgegen stehen, Mädchen heute sind demnach
selbstbewusster und besser gebildet als Jungen, gleichberechtigt oder sogar
inzwischen überlegen und privilegiert. Das öffentliche Bild von Mädchen ist einseitig
und vermeintlich durchweg positiv. Schrieben gesellschaftliche Vorgaben vor
zwanzig Jahren Mädchen noch zu, sanft, still, sorgend und selbstlos zu sein, sich als
Haus-, Ehefrau und Mutter in die Gesellschaft einzufügen und den (Ehe-)Mann in
seiner beruflichen Rolle zu unterstützen, so erscheinen die neuen Mädchenbilder,
wie sie seit den 1990er Jahren insbesondere durch Jugendzeitschriften,
Musiksendungen und Fernsehserien präsentiert werden, nahezu als Gegensatz zu
diesen alten Rollenbildern. Geboren wurden die Alpha-Mädchen:
"Ein Alpha-Mädchen wie ich steht morgens verliebt auf, arbeitet in dem Beruf, den es
sich erträumt hat und freut sich auf ihre Kinder, die sie eines Tages bekommen wird“
(Regisseurin Nina Mattenklotz in Spiegel online 13.06.07). Mädchen, so das mediale
Bild sind Bildungsgewinnerinnen, verfügen über soft skills, sind flexibel,können Multitasking, haben ihre Gehirnhälften besser vernetzt.
Kurz: Ihnen stehen alle Türen auf!
Das Mädchen von heute ist demnach stark, selbstbewusst, schlau, schlank, sexy,
sexuell aktiv und aufgeklärt, gut gebildet, familien- und berufsorientiert, heterosexuell,weiblich, aber auch cool, selbständig, aber auch anschmiegsam, es kann allesbewältigen und kennt keine Probleme, keinen Schmerz –all dies in Summe, nicht
wahlweise.
Mehrere Dinge werden hier deutlich:
gesellschaftliche Rollenbilder sind deutlich weiter und vielfältiger geworden
sie sind aber auch in sich widersprüchlich, und sie sind deutlich überfordernd,
weil überfrachtet mit Anforderungen
sie stellen so viele Optionen bereit, Mädchen zu sein, dass es wenig
Orientierung gibt –wenn alles möglich ist, was ist dann das Richtige?
sie lassen keine Ängste, Unsicherheiten und kein Scheitern zu (hier zeigt sich
besonders deutlich eine Annäherung des weiblichen Rollenbildes an das
männliche)
Gleichzeitig wirken alte Rollenbilder weiter: Je nach Schicht, Ethnie, Wohnort,
Religion etc. werden Mädchen weiterhin auch mit konservativen Rollenvorstellungen
und -bildern konfrontiert. Das öffentliche Bild des Mädchens von heute spiegelt uns
das selbstbewusste, hippe Mädchen als scheinbar einzige Variante von
Mädchensein vor.Die Realität dagegen hält so viele Unterschiedlichkeiten,
Widersprüche, Überforderungen und Gegensätze neben neuen Freiheiten vor, dass
Mädchen je nach Lebenslagenkontext deutlich verschiedene Rollenanforderungen zu
bewältigen haben. Rollenanforderungen sind in sich widersprüchlich und damit nicht
zu erfüllen, und sie gelten u. U. nur für einzelne Lebensorte oder Lebensabschnitte,
wenn z. B. die familiären Vorstellungen andere sind als die der Clique oder in der
Peer-group. Da diese Vieldeutigkeit durch das neue Mädchenbild verdeckt wird,
muss die Orientierung individuell bewältigt werden. Mädchen, die diesen modernen
Bildern nicht genügen (können) oder von denen in ihrem persönlichen Umfeld
anderes erwartet wird, haben das Gefühl, selbst Schuld zu sein, es „nicht drauf zu
haben“. Sie erleben sich oftmals in ihrer weiblichen Identität als unzulänglich oder gar gescheitert.
Ein ähnliches Problem entsteht durch die öffentliche Botschaft, dass Mädchen heute
gleichberechtigt seien und ihnen alle Wege offen stehen, zumal sie inzwischen
deutlich besser gebildet seien als Jungen. Auch hier gilt es, die in der Realität
erheblichen Unterschiede zwischen Mädchen und ihren Chancen zu realisieren, die
sich aus ihren Lebenslagen insgesamt ergeben. Je nach Familie, Bildungsstand,
Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, materiellen Verhältnissen, persönlichen
Handicaps oder Kompetenzen haben Mädchen und junge Frauen erheblich
unterschiedliche Chancen und Lebensoptionen. Gleichzeitig verschweigt dieser
Gleichberechtigungsdiskurs, dass selbst gute Schulbildung auf dem Ausbildungsund
Arbeitsmarkt weniger Wert ist, als männlichen Geschlechts zu sein. Die Folge:
Das Scheitern scheint zwangsläufig ein individuelles zu sein. Das gesellschaftliche
Versprechen, dank der vermeintlich erreichten Gleichberechtigung für die persönliche
Lebensgestaltung auf offene Türen zu stoßen, wird in der Realität nicht gehalten, die
Botschaft aber weiterhin aufrechterhalten. So müssen Mädchen und junge Frauen es
als persönliches Versagen interpretieren, wenn sie keinen Ausbildungs- oder
Arbeitsplatz finden und Kind und Familie nicht in Einklang bringen können.
Auch jenseits prekärer Aspekte bieten Lebenslagen von Mädchen und jungen
Frauen heute genügend Anlass für Scheitern, Selbstzweifel,
Orientierungsschwierigkeiten. Nie war eine Mädchengeneration heterogener, nie war
unklarer, was Mädchensein ist, nie war die Kluft zwischen gesellschaftlichen
Versprechen und realen Möglichkeiten größer. Während auf der einen Seite die
Perspektivlosigkeit für Mädchen/junge Frauen in bestimmten Lebenslagen
zugenommen hat, ist auf der anderen Seite für manche ein deutlicher
Optionszuwachs zu verzeichnen. Soziale Schichtzugehörigkeit und
Migrationshintergrund sind die beiden zentralen Faktoren, die heute über die
Bildungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen entscheiden, so eines der
zentralen Ergebnisse der ersten und der zweiten Pisa-Studie. Wer im
Unterschichtmilieu oder als MigrantIn aufwächst, hat deutlich schlechtere Chancen
als deutsche Mittelschichtkinder. So klafft auch bei den Mädchen entlang dieser
Lebenslagenkategorien die Schere immer weiter auseinander. Gewinnerinnen
gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse sind diejenigen, die, in deutschen Mittel undOberschichtfamilien aufwachsend, sich für ein Studium entscheiden, dabei noch
möglichst technische oder naturwissenschaftliche Fakultäten wählen und flexibel –
d.h. in der Regel kinderlos –sind. Je weiter die Lebenslagen von Mädchen von
dieser Konstellation abweichen, umso schlechter ihre Chancen.
Sind die Lebenslagen prekär, d.h. durch unterschiedliche, sich gegenseitig
verstärkende soziale Probleme gekennzeichnet, verschärfen sich die Schwierigkeiten
zwangsläufig. Armut, beengte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Streit und
Aussichtslosigkeit im Elternhaus, das Leben in oder zwischen zwei Kulturen, in
sozialen Brennpunkten, geringe Bildungschancen und sexuelle Gewalt
beeinträchtigen die Lebenschancen und Aussichten erheblich und machen
pädagogische, strukturelle, politische und finanzielle Intervention dringend
erforderlich.
All dies bleibt im aktuellen medialen und politischen Diskurs unsichtbar. Stattdessen
richtet die Bundesregierung ein Referat für Jungen und Männer ein und die neue
Bundesjugend- und Familienministerin Schröder teilte in einem ihrer ersten
Interviews mit, dass ihrer Ansicht nach junge Väter oft sogar ein größeres
Vereinbarkeitsproblem von Familie und Beruf hätten als Frauen. Medien und Politik
malen ein Bild, das mit den Realitäten der Geschlechterverhältnisse nicht viel zu tun
hat. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass wir es hier mit einem Backlash
zu tun haben. Die fortschreitende Gleichberechtigung scheint dem patriarchalen
System und seinen VertreterInnen bereits zu weit zu gehen.
Es ist gut und richtig, die Geschlechterverhältnisse in den Blick zu nehmen, auch das
Leiden von Jungen an männlicher Sozialisation zu beenden und soziale und
kulturelle Geschlechterzuschreibungen insgesamt aufzubrechen. Es ist aber falsch,
die sozialen, strukturellen, politischen, monetären und Machtverhältnisse zwischen
den Geschlechtern dabei aus den Augen zu verlieren.
http://www.geschlechtergerechtejugendhilfe.de/downloads/maedchenbilder1.pdf
Schwerpunktthema: Zwischen Model-Phantasien und schulischem Erwartungsdruck
Mädchen und ihre Rollenbilder
Von Anja Arp
Zwei Stunden schminken morgens vor der Schule? Junge Frauen übertreiben es in letzter Zeit schon mal gerne mit der Schminke. Doch nicht nur im Schminken sind sie stark, auch in der Schule sind die jungen Mädchen von heute längst an den Jungs vorbeigezogen. Es scheint als stünden vielen Mädchen heute alle Türen offen. Doch häufig trügt der Schein.
In der professionellen Model-Szene spielt Heidi Klum's Fernseh-Show "Germanys Next Top Model" keine Rolle. Doch bei jungen Mädchen ist die Serie super beliebt. Allein zur 5. Staffel haben sich über 23.000 Mädchen beworben. Die 14-jährige Vanessa aus München ist auch ein Fan - aber:
""Eigentlich habe ich jede Staffel gesehen, aber also die letzte, langsam finde ich es ein bisschen bekloppt. Also ich finde es ein bisschen übertrieben, die werden immer dünner und ich finde es nicht so toll."
Vanessa distanziert sich inzwischen von der beliebten Model-Show, bei der es vor allem darum geht, gut auszusehen. Obwohl das auch Vanessa sehr wichtig ist:
""Ich habe ungefähr 30 verschiedene Nagel-Lacke zu Hause und das macht auch total viel Spaß und meine Haare tönen, da habe ich auch schon alle Farben ausprobiert - außer blond",
sagt die momentan kastanien-braun getönte Vanessa aus München. Die 14-jährige hat strahlend blau lackierte Nägel und trägt beim Interview ein hautenges schwarzes T-Shirt-Kleid und dazu Leggings:
""Also manchmal - wenn ich zunehme zum Beispiel und andere vielleicht sagen: Ja sie sind zu dick oder sie haben total die tolle Figur, dann nervt mich das schon manchmal. Aber ich versuche mit meinem Körper zufrieden zu sein - ja im Großen und Ganzen bin ich zufrieden."
Mädchen von heute stehen unter einem enormen Druck. Wenn sie erfolgreich durchs Le-ben gehen wollen, dann müssen sie vielen verschiedenen Anforderungen gleichzeitig ge-recht werden. Soziologen wie Dr. Claudia Wallner aus Münster sprechen dabei von so-genannten additiven Mädchenbildern:
"Das Mädchenbild hat sich gewandelt und es hat sich gleichzeitig auch nicht gewandelt. Man kann sagen, dass es sich im Grunde verdoppelt hat. Also wir haben die alten Mädchenbilder immer noch von den süßen Mädchen, wir haben noch Hannah Montana und wir haben noch die Barbie-Puppe und wir haben noch die Lilli-Fee auf der einen Seite. Aber wir haben sozusagen auch ganz neue Bilder von frechen Mädchen, von durchsetzungsfähigen Mädchen, von coolen Mädchen. Insofern haben wir sozusagen nicht einen Wandel, sondern wir haben eine Addition von den alten typischen Mädchenbildern, um neue modernere Mädchenbilder, die aber sehr stark angelehnt sind eigentlich an die alten coolen jungen Bilder."
Zahlreiche Studien belegen, dass Mädchen in der Schule längst an den Jungs vorbei-gezogen sind und die besseren Noten nach Hause bringen. Doch dafür bekommen sie kaum Anerkennung. Lob und Aufmerksamkeit ernten sie - wie früher - vielmehr für ihr Aussehen. Vanessa über ihr Outfit:
"Zufriedenstellend aber nicht perfekt. Ich bin 1,75 groß, habe schöne blaue Augen, wo ich auch oft drauf angesprochen werde, und habe halblange Haare - braune."
Perfektion - das leben viele Models, Sängerinnen und Schauspielerinnen in den Medien vor - dem Bildbearbeitungs-Programm Photoshop sei Dank. Und dementsprechend streben viele junge Mädchen ein perfektes Outfit an. Von solchen Idealen kann man sich vor allem als ganz junge Teenagerin nur schwer befreien. Die heute 18-jährige Clara aus Bonn kann sich gut erinnern:
"Im Vergleich zu heute war ich unsicherer und habe mir mehr Gedanken gemacht. Und ich glaube, ich habe mich damals auch mehr geschminkt. Und man ist viel, also weniger selbstbewusst ja."
Clara hat naturblonde Haare und kommt gänzlich ungeschminkt daher. Ein enges tief ausgeschnittenes T-Shirt und eine ebenfalls enge Jeans betonen ihren runden weiblichen Typ. Damit entspricht sie natürlich nicht dem vorgegebenen Garde-Maß in der Model-Welt:
"Früher war ich, also, gerade auch in Bezug auf meinen Körper hatte ich auch eher, also nicht richtige Komplexe, aber man möchte natürlich schon ganz viel ändern. Und heute denke ich halt, ich habe das, was ich habe. Und damit muss ich klarkommen. Und ich komme auch gut damit klar. Und das hat sich auf jeden Fall sehr stark geändert. Und ich glaube, bei mir war das noch relativ schwach ausgeprägt. Aber wenn ich jetzt ganz viele andere Freunde sehe oder auch jüngere Mädchen. Was die jetzt mittlerweile alles machen in der sechsten Klasse, die sich schon total überschminken und aussehen wie kleine Businessfrauen. Dann ist das schon sehr übertrieben, mittlerweile, finde ich."
Auch sehr junge Mädchen inszenieren heute ihren Körper ganz selbstverständlich. Das wird ihnen teilweise sogar schon in die Wiege gelegt: Damit das Baby schon mal lernt, was das Mädchen hinterher auf jeden Fall tragen sollte, gibt es inzwischen Pumps für bis zu sechs Monate alte Babys. Die kleinen Mädchen müssen mit den hohen Absätzen ja noch nicht laufen, sondern nur im Kinderwagen sitzen. Da wundert es kaum, dass selbst 12-jährige Mädchen heute schon vom Scheitel bis zur Sohle gestylt in den Unterreicht kommen:
"Der Regelfall ist auf jeden Fall, wirklich dieses totale immer top aussehen und immer topgestylt und keine großen Pullis, alles eng und alles kurz und alles klein. Und das ist im Prinzip dieses, was immer mehr hervorkommt."
Das war nicht immer so. Es gab auch Zeiten, da wollten Mädchen vor allem frech und un-erschrocken sein:
"Die Girlies waren ein Schritt auf dem Weg zu diesen modernen, additiven Mädchen-bildern. Weil das so die ersten Frauen waren, Madonna war ja so eine Cindy Lauper, Tictactoe damals. Wenn man sich überlegt, was es in den 80er-Jahren, 90er-Jahren für Auf-stände waren, als die so frech aufgetreten sind. Das waren die ersten Ansätze im Übergang zu neuen, modernen Bildern. Insofern würde ich sagen, das Girlie ist so ein Zwischenstadium gewesen, die aber heute auch passé sind."
Mädchen von heute, so die Soziologin, sind in der Regel viel angepasster. Junge Teenager wie Vanessa sind vor allem auf der Suche. Sie wollen ihren Platz in der Gesellschaft finden. Deshalb ist der Anpassungsdruck in diesem Alter besonders groß. Soziologen und Psycho-logen sprechen in dem Zusammenhang auch von Normalitätsdruck:
"Ich will in diese Gesellschaft passen, also muss ich normal sein, ich muss so sein wie die anderen. Und wenn dann die Vorgaben eben ganz klar in eine Richtung gehen, in schlank und in groß und ich weiß nicht was, also alle diese Rollenklischees. Dann versuchen die Mädchen, sich danach zu strecken. Insofern ist es bei den Mädchen unter Umständen gar nicht so was Selbstgewünschtes, selbst gewähltes. Was man dann ja auch gerne, so in biologische Erklärungen hört. Die Mädchen wollen eben gerne mit Glitzer rumlaufen, sondern es ist einfach der Wunsch, so zu sein wie alle und der Wunsch, dazuzugehören."
Wer dazugehören will, der muss halt dem aktuellen Ideal entsprechen. Und Schönheit scheint da wieder eine wichtige Rolle zu spielen. Auf gertenschlanke, bildschöne Mädchen trifft man in allen Medien, egal ob man sich Zeitschriften wie "Bravo" oder "Mädchen" oder die ganzen Vorabend-Serien anschaut.
Gleichzeitig sind Mädchen in der Schule besser als ihre männlichen Kollegen. Immer wieder ist deshalb von den neuen Alpha-Mädchen die Rede, also von den Mädchen, die das Ruder in die Hand nehmen und die Richtung bestimmen.
"Ich finde, das ist ein gefährlicher Trend in den Medien gerade. Diese Alphamädchen so nach vorne zu stellen, um damit den Eindruck zu erwecken, dass Mädchen generell heute es sozusagen geschafft haben, dass ihnen alle Türen offenstehen, dass sie erreichen können, was sie wollen. Das ist zum einen gefährlich, weil eigentlich geht es nur um die schulische Bildung und da um den Gesamteindruck. Dass die Mädchen besser sind im Durchchnitt als die Jungs. Aber das wird sozusagen stilisiert zu einem Großbild von Mädchen oder von Lebenslagen von Mädchen, der sagen will, dass es den Mädchen eben insgesamt besser geht als den Jungs. Und das stimmt natürlich nicht."
Dass Mädchen in der Schule besser sind, ist keine neue Erkenntnis. Das weiß man seit Jahren. Doch für die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungs hat das keine nachhaltige Wirkung. Denn letztendlich haben Jungs dann doch die Nase vorn:
"Sie sind nichtsdestotrotz in den oberen Leistungssegmenten weiterhin besser als die Mädchen. Und die Jungens lernen in der Schule eher technische und mathematische Fä-cher und Inhalte, und die Mädchen lernen eben weiter Sprachen und Kunst und musische Fächer. Und da kann man natürlich auch nicht davon sprechen, dass das alles Alpha sei."
Wirklich starke Alpha-Mädchen und Vorbilder wie Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertocher gibt es im Kindesalter, aber dann brechen diese Vorbilder weg. An ihre Stelle treten bei vielen jungen Mädchen andere Werte:
"So meine Freundinnen, viele haben auch so Bauchnabel-Piercing oder so, weil sie es schön finden schon mit 13 oder so oder mit 12 und auch so künstliche Fingernägel, manchmal auch so French-Nägel so gemacht im Nagelstudio sogar manche und ja, das mache ich jetzt nicht. Ich finde das ein bisschen übertrieben."
Wie viele Mädchen empfindet die 14-jährige Vanessa den Druck, gut auszusehen, als groß. Sie lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter in München. Bei der gelernten Kosmetikerin holt sich das modebewusste junge Mädchen auch schon mal einen Schminktipp. Und shoppen gehen gehört natürlich auch zu einem richtigen Mädchen-Alltag dazu:
"Bei mir muss es vor allem bunt sein, damit es mir nicht langweilig wird, weil sonst trage ich sie nur eine Woche und dann muss ich sie wieder wegschmeißen und das ist ja auch doof."
Besonders wichtig ist ihr offenbar der Wohlfühl-Faktor:
"Ich ziehe gerne körperbetonte Sachen an, also ich fühle mich wohl darin."
Die 18-jährige Clara, die als junges Mädchen ziemlich verunsichert war, geht heute in die 13. Klasse und macht einen selbstsicheren Eindruck. Sie ist bei ihrer alleinerziehenden Mutter in Bonn aufgewachsen.
"Ich denke, ich bin da auch ziemlich gut beeinflusst von meiner Mutter, muss ich sagen. Ich weiß gar nicht, woran das liegt, dass mein Selbstbewusstsein ein bisschen mehr nach oben gegangen ist. Vielleicht auch, dass man einfach mehr Bestätigung bekommt, auch von anderen Seiten. Ja, so was in der Richtung."
Im Vergleich zu früher haben Mädchen heute in der Regel viel mehr Möglichkeiten ihren Lebensweg selbst zu bestimmen. Dennoch bestehen die alten Rollenklischees nach wie vor:
"Und das heißt zum einen, dass Mädchen deutlich weniger leistungsorientiert lernen, deutlich weniger auf Karriere orientiert sich ausrichten in ihrem Leben, immer noch sehr viel stärker auf die klassischen weiblichen Werte ausgerichtet sind. Auf Sozialverhalten, auf Sorge, auf Familie, auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf. //Die letzten Shell-Studien haben das auch wieder herausgefunden. Und alles, was wir an Wertestudien haben, in den letzten 10, 15 Jahren, zeigen immer wieder das gleiche Bild. Die Jungs sind auf Macht und Einkommen orientiert, und die Mädchen sind auf soziale Faktoren orientiert. Immer noch. Also sehr klassisch rollenorientiert. Und das sind natürlich nicht die Orientierungen, die dazu führen, dass Frauen Karriereleitern erklimmen."
Auch wenn häufig der Eindruck entsteht, den jungen Mädchen von heute stünden alle Türen offen: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Oft ist die Rollenvielfalt mehr Schein als Sein. Vielfach kehren die alten Stereotypen zurück:
"Wenn wir in die Medien reingucken, dann sehen wir diese ganzen hippen Mädchen, die in den Musikkanälen die Sendungen moderieren, wir sehen sie in den Vorabend-Soaps, die ja viel von Jugendlichen geguckt werden. Diese mutigen und starken und coolen Mädchen, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen. Aber wir sehen auch gleichzeitig oder das ist das, was wir weniger sehen, dass die alten klassischen Mädchenwerte eben ganz stark auch weiter vermittelt werden. Sodass wir heute sagen müssen oder immer noch sagen müssen, das, was wir so medial auf der Oberfläche wahrnehmen von Veränderung und Gleichberechtigung, das bewegt sich sehr an der Oberfläche und bezieht sich tatsäch-lich auf Bilder oder auf Verhaltenskodexe an Mädchen und an Jungen. Das hat aber nicht viel zu tun mit den harten Fakten der Realität."
Und das wiederum heißt, die Mädchen von heute müssen viele Widersprüche aushalten:
"Die Mädchen können nicht auf der einen Seite sanftmütig und süß sein und auf der anderen Seite durchsetzungsfähig und cool. Trotzdem ist es genau das, das was von ihnen erwartet wird. Und das ist gerade für jugendliche Mädchen eines der größten Bewältigungsthemen im Übergang zum Erwachsenenwerden. Wie kann ich denn ein richtiges modernes Mädchen sein, wenn ich doch merke, ich kann diese widersprüchlichen und sehr vielfältigen Anforderungen eigentlich gar nicht alle in mir vereinbaren und alle gar nicht bewältigen kann."
Viele halten dem Druck auch nicht stand und entwickeln zum Beispiel Essstörungen. Andere reagieren sich ab, indem sie über ihre Mitschüler lästern oder sie sogar mobben. Und wieder andere versuchen trotzdem, dem perfekten Anspruch zu genügen. Claudia Wallner:
"Wo es vor zehn Jahren noch um Diäten ging oder um Hungern oder um Tabletten neh-men, um dünner zu werden, ist heute eine Schönheitsoperation inzwischen bei den 17-, 18-jährigen zumindest in der Vorstellung gang und gäbe. In der Realität inzwischen auch schon bei zehn bis 20 Prozent in dieser Altersklasse. Das heißt, auf der einen Seite gibt es tatsächlich noch mal eine Druckerhöhung an dieses klassische Schönheitsideal an die Mädchen. Und da sind wir wieder in ganz klassischen Rollenzuschreibungen von Weiblichkeit."
Die Soziologin plädiert dafür, die Geschlechter nicht gegeneinander auszuspielen. Das bringt in ihren Augen weder für die Entwicklung der Mädchen noch für die Entwicklung die Jungs etwas. Viel wichtiger sei es, die Lebenswirklichkeit der Jungendlichen unter die Lupe zu nehmen. Und da spielen Faktoren wie Armut und Bildung nach wie vor eine wichtige Rolle.
"Und der dritte Teil ist, dass wir aufhören müssen, über diese Bildungsdebatte und diese Alphamädchendebatte zu negieren, dass in wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen Frauen und Mädchen immer noch deutlich unterprivilegiert sind. Und da muss auch Frauenpolitik und Gleichberechtigungspolitik wieder ran und an diesen Stellen weiterarbeiten. Das ist der Auftrag, den die Bundesregierung hat. Auch unter dem Gleichberechtigungsgrundsatz des Grundgesetzes und auch unter den Vorgaben des Gendermainstream."
Literatur:
Doris Katheder: "Mädchenbilder in deutschen Jugendzeitschriften der Gegenwart"
Waltraud Posch: "Projekt Körper - Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt"
Claudia Wallner: "Mädchenbilder heute und ihre Bedeutung für die Mädchenarbeit"
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/studiozeit-ks/1314425/
Feministische Mädchenarbeit
Claudia Wallner: Feministische Mädchenarbeit. Vom Mythos der Selbstschöpfung und sei-nen Folgen. Klemm & Oelschläger (Münster) 2006. 320 Seiten. ISBN 978-3-932577-70-3. 24,80 EUR.
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Reihe "Kritische Beiträge aus der Mädchenarbeit"
Das vorliegende Buch ist das erste aus der Reihe "Kritische Beiträge aus der Mädchenarbeit". Diese Reihe will Entwicklungen der Mädchenarbeit reflektieren, kritische und innovative Diskurse führen und neue, zeitgemäße Ansatzpunkte der Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen entwickeln helfen.
Haupthypothese und Ziel
Der erste Band der kritischen Beiträge zur Mädchenarbeit trägt einen sehr provokanten Titel, der Programm, Haupthypothese und Ziel von Claudia Wallners Buch ist, nämlich die Legenden- und Mythenbildungen in der feministischen Mädchenarbeit aufzuzeigen und diesen die konkreten, vielfältigen Entstehungszusammenhänge entgegenzusetzen. Damit soll die Mädchenarbeit als Arbeitsansatz historisch rekonstruiert und zugleich bestimmte Engführungen, die bis heute kursieren, in ihren Wurzeln systematisch aufgedeckt werden. Diese bis heute existierenden Engführungen stehen – so die These der Autorin – der Entwicklung von zeitgemäßen, passfähigen Konzepten der Mädchenarbeit entgegen. Deshalb ist es notwendig, diese in ihren historischen Wurzeln zu rekonstruieren. Die dem Buch zugrunde liegenden Forschungshypothesensind, dass es keine systematische Geschichtsschreibung von feministischer Mädchenarbeit gebe und dass es mit dem zeitlichen Abstand ihrer Entstehungs-und Begründungszusammenhänge in den 1960er/1970er Jahren immer schwieriger werde, diese historisch zu rekonstruieren. Die dritte These beinhaltet die provokante Programmatik des vorliegenden Buches: Die Protagonistinnen der feministischen Mädchenarbeit waren nicht von allen damaligen Diskursen inspiriert - wie die bisherige Geschichtsschreibung suggeriert, – sondern von ihren jeweils spezifischen Kontexten in der Sozialen Arbeit bzw. Pädagogik. Dass dies bis heute vielfach unkritisch übernommen und immer wieder zitiert wird, hat schließlich zu einer gewissen Mythenbildung in der feministischen Mädchenarbeit beigetragen – und ist ebenso als Folge bisher noch nicht erfolgter geschichtlicher Rekonstruktion zu sehen, wie die nach wie vor immer noch marginale Rolle von feministischer Mädchenarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe.
Umsetzung in fünf Schritten - Überblick
Claudia Wallnerbearbeitet die Zielstellungen des Buches in fünf Schritten.
1. Sie trägt zunächst zusammen, wie die Entstehungsgeschichte von feministischer Mädchenarbeit in der Literatur rezipiert wurde und wie sich dies im Verlaufe der Jahre veränderte.
2. In einem zweiten Schritt werden weitere Bezugspunkte der Entstehung von Mädchenarbeit untersucht.
3. Im dritten Schritt beleuchtet die Autorin die historischen Entstehungskontexte der 1960er und 1970er Jahre, und fokussiert sie auf die gesellschaftliche Situation von Mädchen und Frauen und auf die zweite deutsche Frauenbewegung.
4. In einem vierten Schritt werden die Ebenen der Forschung bzw. Theoriebildung ausgelotet (feministische Sozialisationsforschung, Jugendhilfe).
5. In einem letzten Schritt wird mit diesen Erkenntnissen der Frage nachgegangen, warum "die Geschichtsschreibung feministischer Mädchenarbeit unvollständig war und ist und aktuell in monokausalen Darstellungen verharrt" (S. 12). Claudia Wallner stützt sich bei ihren Analysen nicht auf biographische Interviews und Aussagen von Protagonistinnen der Mädchenarbeit (etwa wie bei Maurer 1996), sondern sie wertet Dokumente – Primär- und Sekundärquellen – aus, um Real- und Diskursgeschichte miteinander zu verknüpfen. Sie nutzt dabei die von Leo Kofler entwickelte dialektische Methode der Geschichtsschreibung.
Im Kapitel über die Entstehungsgeschichte der feministischen Mädchenarbeit verdeutlicht die Autorin sehr eindrücklich, dass dieser insgesamt sehr wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde: Bei der Recherche von über 1000 Quellen der Mädchenarbeitsliteratur und diverser Fachzeitschriften gab es im Untersuchungszeitraum von 1980 bis 2005 lediglich 21, in denen die Entstehung der Mädchenarbeit näher differenziert wurde. Deutlich wird, dass die Geschichte regional in Berlin und Hessen insbesondere von einigen Protagonistinnen (etwa Savier, Naundorf oder Funk, um nur die prominentesten zu nennen) geschrieben wurde. In der heutigen Wertung und Würdigung erscheint dies jedoch so, als repräsentieren diese die gesamte Entwicklung in der alten Bundesrepublik. Außerdem scheint sich die Geschichte durch die Analyse auf drei Kernaussagen zu reduzieren, dass Ansätze der Mädchenarbeit von Pädagoginnen entwickelt wurden, die allesamt einen engen Zusammenhang zur Frauenbewegung haben und aus der Kritik der jungen-dominierten Jugendarbeit heraus entstanden. Durch die von Claudia Wallneranalysierten Schriften der Jahre 1976 bis 1979 wird jedoch deutlich, dass es weitaus mehr und vielfältigere Beweg- und Hintergründe gab: Die Frauenbewegung inspirierte in starkem Maße die Pädagoginnen, ihre und die Situation von Mädchen im Patriarchat als Unterdrückungs- und Vernachlässigungszusammenhänge kritisch wahrzunehmen, damalige Diskurse zu hinterfragen und entsprechende Angebote zu etablieren: "Zentral ur-sächlich für die Entstehung feministischer Mädchenarbeit war nicht die Situation von Mädchen in der Jugendarbeit, sondern ihre gesellschaftliche Situation als weibliche Wesen im Patriarchat" (S. 87). Dies sei maßgeblich, weil die Bedeutung des gesellschaftlichen Kontexts im Verlaufe der weiteren Geschichtsschreibung immer mehr verloren ging. Die Wurzeln der Mädchenarbeit – die Kritik patriarchaler Verhältnisse –wurden immer mehr als Einflüsse ausgeblendet, so dass die Geschichte zur einer von Protagonistinnen wurde, nämlich von Frauen, die "zur richtigen Zeit und am richtigen Ort" (S. 88) aktiv wurden. Übrig blieben die Themen der Randgruppenposition von Mädchen in der Jugendarbeit, die Arbeitssituation von Pädagoginnen, die Kritik an der Kapitalismusorientierung linker Sozialarbeit (etwa dem Bild des "Arbeitermädchens") und der Jungenlastigkeit der Jugendarbeit –ausgeblendet hingegen zentrale politische und Jugendhilfedebatten und andere wichtige Einflüsse der Mädchenarbeit. Mädchenarbeit erscheine so als Geschichte ihrer Heldinnen, quasi aus sich selbst heraus kreiert.
Im zweiten Teilgeht Claudia Wallner auf zwei Aspekte ein: Sie verifiziert ihre These des Ideologieverdachts der Theoretisierungen von Mädchenarbeiterinnen, indem sie diese in die Kontexte von Sozialisationsforschung, Entwicklungen der Jugendhilfe und der gesellschaftlichen Situation von Mädchen und jungen Frauen stellt.
Die Zusammenstellung der Situation von Mädchen und jungen Frauen der 1960er und 1970er Jahre (z.B. durch Frauen- und Familienberichte der Bundesregierung) belegt sehr eindrücklich, dass es sehr wohl ein differenziertes Wissen um Benachteiligungen gab, auf dessen Grundlage bestimmte gesetzliche Regelungen zur Gleichstellung modifiziert wurden. Besonders die Rolle von Frauen und Mädchen auf dem Arbeitsmarkt sowie Veränderungen ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter standen im Mittelpunkt gesellschaftlicher Reformen. Für die feministische Mädchenarbeit– so Claudia Wallner –bleibt dieser zentrale Bereich außen vor: "Auf dem Hintergrund des Anspruchs feministischer Mädchenarbeit, eine eigenständige weibliche Identität fördern zu wollen, frei vom Zugriff und der Kontrolle der Männer, muss es völlig unver-ständlich bleiben, warum der gesamte Bereich der Bildung und Beschäftigung von der Kritik feministischer Mädchenarbeit verschont blieb und weder Ziele noch Inhalte oder Grundsätze feministischer Mädchenarbeit diese Bereiche weiblicher Lebensrealität beachteten. Mädchen sollten Unabhängigkeit vom Mann, Selbstbewusstsein und Stärken entwickeln, aber Bildung und Erwerbstätigkeit und damit eigenes Einkommen und die Entwicklung von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen in diesen Bereichen spielten in den Vorstellungen feministischer Mädchenarbeit für das Entwickeln dieser Fähigkeiten keine Rolle" (S. 130). Dieser Separatismus (Rückzug in eigene Räume, Autonomieanspruch, Argumentation gegen männliche Bevormundung etc.) findet in der Situation von Frauen in der Studentenbewegung bzw. APO –einer wichtigen Quelle der zweiten Frauenbewegung – ihre historische Entsprechung und kulturelle Entfaltung. Hingegen bleibt der Einfluss der "sexuellen Revolution" – von dem auch Frauen maßgeblich partizipierten– wie auch theoretische Reflexionen (in Anknüpfung an kritische Traditionen der Weimarer Republik) in der Begründung und Entwicklung von Ansätzen der feministischen Mädchenarbeit außen vor. Obschon es einen engen Zusammenhang und Einfluss der zweiten Frauenbewegung auf die feministische Mädchenarbeit gegeben hat, werden viele Impulse, etwa die Kritik an der ökonomischen Situation von Frauen und Mädchen oder die Forderung nach Einbeziehung aller Schichten von Frauen in Emanzipationsentwürfe, in der Mädchenarbeit nicht aufgenommen. Ebenso blieben reformerische Ideen des SDS oder Kinderladenbewegung (in der bereits festgefahrene Rollen der Kindererziehung in Frage gestellt wurden) ohne Wirkung auf die später entwickelten Konzepte und Projekte der Mädchenarbeit. Die Mitte der 1970er Jahre zu verzeichnende Differenzierung innerhalb der zweiten Frauenbewegung führte nicht nur zu einer Pluralität von Diskursen über Feminismus, sondern insbesondere auch zu einer Vielfalt von feministischen Projekten (die teilweise bis heute Bestand haben). Hierbei sind sowohl "Flügelkämpfe" um den "richtigen" Feminismus evident, als auch gegenseitige Abgrenzungen. Die sozialistische bzw. marxistische scheinen sich hier von den "bürgerlichen" Richtungen (feministischer und radikaler Feminismus als zentrale, mittelschichtorientierte Strömungen) mit ihren jeweiligen Implikationen besonders stark voneinander zu separieren. Dies zeigt seine fatalen Wirkungen bis in die Gegenwart: Mit seinem Ansatz der Selbstreflexion bzw. Selbsterfahrung von Frauen als Weg der Veränderung von Praxis – dem Beispiel von Frauenprojekten der USA folgend – setzt sich insbesondere der radikale Feminismus von der sozialistischen Richtung ab, der den umgekehrten Weg der Gesellschaftskritik geht. Claudia Wallnerstellt hier Parallelen der Entwicklung der feministischen Mädchenarbeit zum radikalen Feminismus her und konkretisiert damit die historischen Wurzeln: Die Ansätze der feministischen Arbeit mit Mädchen wurden in den 1970er Jahren nicht aus der Gesellschaftsanalyse und der Diagnose ihrer gesellschaftlichen Situation abgeleitet, sondern es wurden erst sehr viel später theoretische Ansätze aus der praktischen Arbeit entwickelt. Claudia Wallner zieht das Fazit, dass "feministische Mäd-chenarbeit… in ihrer Entstehung radikalfeministische Mädchenarbeit" (S. 191) und somit Folge der ideologischen Ausdifferenzierung der zweiten Frauenbewegung war, insbesondere ihres spezifischen Sexualitätsdiskurses auf der Grundlage von Anne Koedt und Alice Schwarzer. Dieser grenzte die sexuelle Revolution gänzlich als "Männerrevolte" aus. Logischer Weise blieben damit geschlechterintegrative Ansätze außen vor.
In den weiteren Abschnitten referiert Claudia Wallner die Entwicklung der feministischen Sozialisationsforschung mit ihren wichtigsten Protagonistinnen sowie die Entwicklung der Jugendhilfe. Beides sieht sie als wichtige Rahmen an, in denen sich die Mädchenarbeit entwickelte. Sie kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen des strukturellen Separatismus und ideologischer Engführungen, die eine produktive Bezugnahme verhinderten. Dies soll am Beispiel der Jugendarbeit als Teil der Jugendhilfe und ihren theoretischen Grundlegungen kurz skizziert werden. Bekanntermaßen– so die feministische Geschichtsschreibung – habe sich die Mädchenarbeit u.a. aus der Kritik der Theoriebildung innerhalb der Jugendarbeit heraus entwickelt, die Mädchen nicht als explizite Zielgruppe vorsah. Während es Anfang der 1970er Jahre zunächst darum ging, die Jugendarbeit als eigenständiges sozialpädagogisches Handlungsfeld – und damit die spezifische Zielgruppe von Jugend – zu begründen (z.B. durch Giesecke, Böhnisch, C.W. Müller, Mollenhauer), kam es später zu einer Ausdifferenzierung der theoretischen Ansätze. Im emanzipatorischen Ansatz von Liebel und Lessing kamen 1976 erstmals Arbeitermädchen als Zielgruppen von Jugendarbeit in den Blick der Forschung und konzeptionellen Entwicklung. Gleichwohl die soziale Kategorie Geschlecht hier eher rand-ständig blieb, stellt Wallner fest, "dass innerhalb der Theoriebildung bereits mit der Einführung der Begriffe Emanzipation, Parteilichkeit und gesellschaftliche Rollen zentrale Begriffe der Mädchenarbeit eingeführt wurden, ohne dass es jemals eine Verbindung in der Verwertung der Begriffe zwischen der Theoriebildung und der feministischen Mädchenarbeit gegeben hätte. Auch wenn feministische Mädchenarbeit in ihrer Entstehung die Theoriebildung innerhalb der Jugendarbeit nur als kritisches Gegenüber betrachtete, das die Lebenslagen von Mädchen vernachlässigte und deshalb abzulehnen war, hat die Theoriebildung doch wesentliche Veränderungen innerhalb der Jugendarbeit eingeführt, auf die Mädchenarbeit aufbauen bzw. von denen sie profitieren konnte, indem sie Erkenntnisse und Veränderungen für sich nutzte. Die pauschale Ablehnung der Theoriebildung lässt sich daher eher ideologisch erklä-ren: Es waren Männer, die die Theorien entwickelt hatten – insofern konnten sie alleine des-halb nicht positiv bewertet werden. Und die Theorien waren an Jungen orientiert, ohne dies zu kennzeichnen, da sie theoretisch alle Jugendlichen einbezogen. Das aber war der Hauptkritikpunkt feministischer Mädchenarbeit an den Jugendarbeitsangeboten: dass sie eben den Anspruch erhoben, für alle Jugendlichen offen zu sein, sich aber de facto an Jungen richteten. Insofern mussten die Jugendarbeitstheorien abgelehnt werden, weil sie demselben Muster folgten wie die Jugendarbeit" (S. 243f.). Anders als die emanzipatorische Jugendarbeit hat die Jugendzentrumsbewegung (mit dem Fokus der antikapitialistischen Jugendarbeit, entstanden aus dem Kontext des sozialistischen bzw. marxistischen Feminismus) die Zielgruppe der "Ar-beitermädchen" im Blickpunkt. So kam es 1969 bereits zur Gründung einer Mädchengruppe innerhalb eines Berliner Freizeitheims. Die theoretische Grundlage bestand in einer Verknüpfung der Klassen- mit der Emanzipationsfrage. Im Mittelpunkt der praktischen Arbeit standen Bemühungen, diese Zielgruppe zu erreichen und entsprechende mädchenspezifische Angebote zu entwickeln. Auch von diesen Ansätzen hat sich die feministische Mädchenarbeit abgegrenzt, weil hier den Geschlechterungleichheiten gegenüber den Klassenunterschieden ein untergeordneter Stellenwert eingeräumt wurde. Diese Ablehnung, so Claudia Wallner, sei politisch intendiert und komme aus der radikalfeministischen Verortung der feministischen Mädchenarbeit. Gleichwohl der Arbeitermädchenansatz und die feministische Mädchenarbeit sich in den Folgejahren in den Prinzipien annäherten, gab es nie einen gegenseitigen Lern- und Entwicklungsprozess. Während die ersten den Bildungs- und Berufsbereich als zentrale inhaltliche Schwerpunkte verfolgten, blieb dieser in der feministische Richtung außen vor.
Nicht nur Jugendarbeit als Teil der Jugendhilfe bildete den Entwicklungsrahmen von Mäd-chenarbeit, sondern auch die außerschulische Mädchenbildung, die es immerhin seit Mitte der 1950er Jahre in der Bundesrepublik gab. Während zu Beginn der Implementierung von Mädchenbildung noch Konservatismus in den weiblichen Rollen intendiert war (und die Abgrenzung der feministischen Mädchenarbeit somit verständlich und nachvollziehbar war), änderte sich dies in den 1960er bzw. 1970er Jahren. Allerdings blieb der Fokus der Defizitorientierung bestehen, so dass es für die feministische Mädchenarbeit wenig Anschlusspunkte gab.
Zum Schluss der Analysen zur Jugendhilfe stellt Claudia Wallner die Entwicklungen in der Heimerziehung vor. Bekanntermaßen gab es hier eklatante Missstände, die dann 1968 zur sog. Heimkampagne führte, von APO-Stadtteil-, Studenten-, Schüler- und Lehrlingsgruppen getragen wurde. Der Film von Ulrike Meinhof "Bambule" war Auslöser einer umfassenden Analyse und Veränderung der Fürsorgeerziehung von Mädchen. Insbesondere standen die rigiden Erziehungsmaßnahmen von "verwahrlosten Mädchen" im Mittelpunkt der Kritik: Jegliche Versuche von Mädchen, eine Eigenständigkeit zu erreichen wurden mit entsprechender Härte sanktioniert. In den Analysen zur weiblichen Fürsorgeerziehung wurde deutlich, dass die Mädchen sehr häufig Gewalt erleben mussten und dass sich dieses in der öffentlichen Erziehung fortsetzte. Hier hätte es durchaus genügend Anknüpfungspunkte zwischen der Jugendhilfe und der feministischen Mädchenarbeit gegeben. Wallner stellt fest, dass es trotz öffentlicher Skandalisierung der Zustände in der Heimerziehung keine Einmischung seitens der feministischen Mädchenarbeit gegeben habe. Dieses liege daran, dass es zwischen beiden Bereichen keine personelle Anbindung, keine Vernetzungen gab. Die Erzieherinnen kamen überdies nicht aus der radikalfeministischen Bewegung. Eine zweite Erklärung findet Wallner in der politischen Verortung: Die Heimkampagne wurde von der APO bzw. der eher sozialistischen Richtung getragen, von der sich die feministische bekanntermaßen abgrenzte.
Diskussion
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich feministische Mädchenarbeit von nahezu allen Wurzeln und sie umgebenden Entwicklungen abgrenzte – und somit "zum Resultat und (der) Summe ihrer Macherinnen, radikalfeministisch bewegter und politisierter Frauen" (S. 292) wurde. "Es ist die Geschichte bedeutender Frauen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Erkenntnissen und den richtigen Bewusstsein aktiv wurden. … Deshalb verschwanden sukzessive Entstehungsorte, Bezüge, Personengruppen, Ziele und Inhalte. Mit der Geschichtsschreibung über die Entstehung feministischer Mädchenarbeit selbst wurde der Mythos der Selbstschöpfung und der Mythos der Revolution erst geschaffen" (S. 292). Claudia Wallner unterstellt, dass die Geschichte der feministischen Mädchenarbeit auf einfache Formeln und Entstehungskontexte abzielt, um ihre "Heldinnengeschichte" nicht zu gefährden. Dies ist sicher im Kontext der radikalfeministischen Verortung eine plausible Erklärung, greift aber m.E. zu kurz. Mädchenarbeit wurde immerhin erst seit Mitte der 1980er Jahre an Fachhochschulen gelehrt. Systematische Analysen zur Mädchenarbeit, wie auch wissenschaft-liche Evaluationen und intensiver fachlicher Austausch (etwa durch Fachtagungen oder bundesweite Publikationen) sind seit dieser Zeit zu verorten. All dies sind m.E. wichtige Faktoren der Vernetzung und sukzessiven Aufhebung der fachlichpolitischen Separation und Isolierung – und damit auch zentrale Voraussetzungen für die fachliche Weiterentwicklung.
Claudia Wallnerbehauptet, dass die Mythengeschichte bis heute wirksam sei. Dies zeige sich u.a. darin, dass die feministische Mädchenarbeit immer noch mit der "Aura der Deklaration männlicher Feindbilder" (S. 299) antrete. Dies führe dazu, dass sich Mädchenarbeit im Zeitalter des Gender Mainstreaming weiter isoliere und an den Rand der Jugendhilfe dränge. Auch diese Behauptung greift m.E. zu kurz und wird auch nicht empirisch untersetzt: Zum erstenkann diese Behauptung sich nicht durchgängig auf Mädchenarbeit beziehen, denn diese hat bekanntermaßen nach wie vor viele verschiedene Richtungen und Ansätze. Offen müssen auch der Stellenwert und die Bedeutung von feministischen Ansätzen innerhalb der Mädchenarbeit bleiben. Zum zweiten übersieht diese Behauptung, dass Mädchenarbeit der neuen Bundesländer durchaus andere Entstehungs- und Entwicklungskontexte hat, die nicht unmittelbar mit der westdeutschen Geschichte vergleichbar sind. Zwar wurden viele Ansätze zunächst übernommen, relativ schnell mussten jedoch eigene Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. So waren es v.a. Mädchenarbeiterinnen im Osten, die im Rahmen von koedukativen Angeboten Mädchenarbeit entwickelten und Jungen durchaus mit im Blick hatten (vgl. dazu Bütow 1994). Und drittens befindet sich Mädchenarbeit aufgrund von gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen immer noch in einer eher randständigen Position, ob nun mit oder ohne "Heldinnengeschichte". Und schließlich viertens muss die Frage offen bleiben, ob und inwiefern mädchenspezifische, feministische Ansätze in der Gegenwart, im Zeitalter des Gender Mainstreaming nach wie vor noch eine bestimmte Legitimität haben (sollten).
Fazit
Welches Fazit ist aus den Analysen von Claudia Wallnerzu ziehen? Sie liefert mit dem Buch einen sehr komplexen, vielschichtigen Einblick in die Entstehungs- und Entwicklungskontexte der feministischen Mädchenarbeit in der alten Bundesrepublik. Die Ebenen von Theorie, Praxis, Politik und sozialen Bewegungen werden dabei in einer beeindruckenden Vielfalt und Akribie dargestellt und zu einem Gesamtkontext zusammengeführt. Damit gebührt Claudia Wallner der Verdienst, als Erste den Versuch einer umfassenden, kritischen Geschichtsschreibung der feministischen Mädchenarbeit in der alten Bundesrepublik unternommen zu haben. Des weiteren ist hervorzuheben, dass die Autorin versucht, Hindernisse der Entwicklung und Umsetzung von Gender Mainstreaming in der Jugendhilfe historisch zu rekonstruieren, indem sie den "Mythos der Selbstschöpfung" der feministischen Mädchenarbeit identifiziert und diesen anhand von mehr oder weniger expliziten Distanzierungen oder Ausblendungen gegenüber anderen Entwicklungen belegt. Diese Belege bleiben oft Behauptungen, da lediglich vorliegende Texte miteinander verglichen und in Beziehung gebracht wurden. Unklar bleibt die theoretische Rahmung, auf die sich die Autorin bei ihrem Vergleich stützt.
Dieses Buch ist ein reicher Fundus für alle Praktikerinnen und Wissenschaftlerinnen der Mädchenarbeit und der Jugendhilfe. Es erhellt den Blick für Entwicklungen, die nicht einmal 30, 40 Jahre zurück liegen. Ob damit ein Beitrag zur Weiterentwicklung und kritischen Debatte von Mädchen- und Jungenarbeit im Zeitalter des Gender Mainstreaming geleistet werden kann, muss offen bleiben. Auf jeden Fall zeigt das Buch einen sehr selbstkritischen, historischen Blick. Es ist implizit ein Appell an die Vielfalt der Gewordenheit.
Literatur
Bütow, Birgit (1994): Überlegungen zur sozialpädagogischen Mädchen- und Frauenarbeit in Ostdeutschland. In: Frauenforschung Ost. Sonderheft der Berliner Debatte Initial 4, S. 15-28
Maurer, Susanne (1996): Zwischen Zuschreibung und Selbstgestaltung. Feministische Identitätspolitiken im Kräftefeld von Kritik, Norm und Utopie. Edition Diskord
Rezensentin
Prof. Dr. habil. Birgit Bütow
Tätigkeitsfelder: Soziale Arbeit mit Frauen und Mädchen; Kinder- und Jugendhilfe; Theorien und Geschichte der Sozialen Arbeit
E-Mail Mailformular
http://www.socialnet.de/rezensionen/4098.php
http://www.claudia-wallner.de/veroeffentlichungen/Drama%20oder%20Dramatisierung%20-%20Lebenslagen%20von%20Maedchen.pdf
http://www.doj.ch/fileadmin/downloads/fachgruppen/maedchen/Wallner_HOMEPA_1.PDF
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