Wenn der Mensch zur MenschIn wird - oder:

Wieviel »Gleichberechtigung« verträgt das Land?

How much »equality« the country can stand?

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Liste Femanzen Dr. Marianne Krüll (Liste Femanzen)

Oberkellner @, Friday, 27.02.2015, 19:29 (vor 3610 Tagen)

F375 Dr. Marianne Krüll – geboren am 11.06.1936 in Berlin als Marianne Höppner – Studium der Soziologie an der Freien Universität Berlin - Ehemals Akademische Rätin am Seminar für Soziologie der Universität Bonn - Schwerpunkte der wissenschaftlichen Arbeiten in den Grenzgebieten zwischen Psychologie und Soziologie – Schriftstellerin und Soziologin – verheiratet mit dem Argrar-Ingenieur Helmut Krüll – zwei Töchter: Sibylle Krüll (Psychologin) und Juliane Krüll (Umwelt-Ingenieurin) - Seit 1980: Frauenforschung, insbesondere im Bereich der Familiensoziologie und -therapie, sowie in feministischer Erkenntnistheorie. Viele Publikationen (Artikel), u.a. Herausgabe eines Sammelbandes "Wege aus der männlichen Wissenschaft". Mitautorin von "Feministische Soziologie - Eine Einführung" - Veröffentlichungen: "Die Mutter in mir - Wie Töchter sich mit ihrer Mutter versöhnen" (2007), "Käthe, meine Mutter" (2001), "Im Netz der Zauberer - Eine andere Geschichte der Familie Mann (1991, 1993, 2005, Übersetzungen in fünf Sprachen); "Die Geburt ist nicht der Anfang (1989, 1991, vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe 2009) ; "Freud und sein Vater" (1979, 1992, 2004, Übersetzungen in fünf Sprachen); "Schizophrenie und Gesellschaft" (1977, 1986); Mitautorin: Brigitte Brück u.a.: "Feministische Soziologie - Eine Einführung" (1992, 1997); Herausgeberin: "Wege aus der männlichen Wissenschaft" (1990). Viele Artikel in Sammelbänden und Zeitschriften - In den 1980er Jahren widmete sie sich zunehmend der feministischen Frauenforschung, gründete die Arbeitsgemeinschaft Frauenforschung der Universität Bonn, war hochschulpolitisch aktiv, publizierte, referierte und organisierte Tagungen zu Themen der interdisziplinären Frauenforschung. Besondere Verbindungen ergaben sich zur systemischen Familientherapie und den dort vertretenen feministischen Ansätzen. In dieser Zeit war sie auch gemeinsam mit Hans-Werner Gessmann eine der Mitbegründerinnen des systemischen Familientherapie-Studiums im Psychotherapeutischen Institut Bergerhausen - ab 1995 Mitarbeit im FrauenMuseumBonn – Anschrift: Dr. Marianne Krüll, Graurheindorfer Straße 16, 53111 Bonn – info@mariannekruell.de - – www.mariannekruell.de - http://www.mariannekruell.de/images/Marianne_Kruell2006-2-200b.jpg

An meiner Pinnwand direkt vor mir hängt das Plakat von Elga Sorge, der bekannten feministischen Theologin, auf dem sie - in Analogie zu den zehn Geboten in der Bibel - für uns Frauen zehn "Erlaubnisse" aufgeschrieben hat, die ich einfach wunderbar finde. Die vierte Erlaubnis heißt zum Beispiel: "Du darfst Mutter und Vater ehren, lieben und verlassen, denn Ihr seid zur Freiheit berufen, nicht zur Knechtschaft" oder die neunte: "Du darfst den Mann Deiner Nächsten und alle Dinge, die sie hat, lieben, doch begehre sie nicht als Besitz." Es ist die "Göttin", die uns erlaubt, auch andere Götter zu verehren, uns viele Bilder von ihr zu machen, wir dürfen lieben, aber auch neidisch, wütend oder böse sein - kurz, es ist eine Moral der Menschlichkeit, die endlich einmal keine reine Männersicht widerspiegelt, sondern uns Frauen unseren Platz in dieser Welt zurückgibt; eine Moral, die nicht Gebote und Verbote aufstellt, sondern uns allen zur Würde unseres Mensch-Seins zurückführt.
Ich habe Elga Sorges Idee aufgegriffen, und hier 13 "Erlaubnisse" formuliert, die im Bereich der Kommunikation zwischen Frauen vielleicht so etwas wie Regeln einer konstruktiven Streitkultur darstellen können:
1. Erlaubnis
Jeder Frau ist es erlaubt, sich als Opfer patriarchalischer Verhältnisse zu fühlen oder nicht. Wenn sie meint, es nicht zu sein, sondern die Männer bemitleiden zu müssen; wenn sie meint, es viel besser zu haben als die Männer; wenn sie meint, Feministinnen seien männerhassende Verrückte usw., darf sie diese Meinung behalten. Sie darf sich Zeit nehmen, Erfahrungen zu machen, die diese Meinung ändern. Feministinnen dürfen Wut haben, wenn ihnen solche Patriarchalinnen in den Rücken fallen, sie dürfen aber auch alle Anstrengungen machen, diese Frauen zu einer anderen Meinung zu bringen, sie zu einer Patriarchatskritik zu verführen, sie dürfen sogar Geduld mit ihnen haben in der sicheren Erwartung, daß die meisten von ihnen irgendwann von selbst darauf kommen werden, daß auch sie Opfer des Patriarchats sind.
2. Erlaubnis
Jeder Feministin ist es erlaubt, ihren Weg zu gehen, ihre politische Strategie zu verfolgen, auch wenn sie vom Weg anderer Feministinnen abweicht. Sie hat ihre eigene Biographie, hat eigene Erfahrungen mit Männern und Frauen gemacht, darf also auch die ihr gemäße Form der Auseinandersetzung mit dem Patriarchat wählen. Es ist uns erlaubt, unseren besonderen Weg als Bereicherung für die gesamte Frauenbewegung anzusehen. Lesben ist es erlaubt, Heterofrauen auf ihre heimliche Bisexualität aufmerksam zu machen; radikalen Feministinnen ist es erlaubt, "bravere" Frauen aufzurütteln; vergewaltigte Frauen haben die Erlaubnis, einen unverzeihlichen Haß auf Männer zu haben und die Solidarität aller anderen Frauen zu fordern; Heterofrauen ist es erlaubt, Männer zu lieben; Mütter dürfen auf ihr Mutter-Sein stolz sein; Solistinnen ist es erlaubt, sich selbst genug zu sein.
3. Erlaubnis
Jede Feministin darf davon überzeugt sein, daß ihr jeweiliger Weg der beste ist. Sie hat auch die Erlaubnis zu sehen, daß jede andere Schwester - ob Feministin oder nicht - die gleiche Überzeugung haben darf. Wir alle haben die Erlaubnis, uns gegenseitig zu unserem jeweilig besten feministischen Weg zu verführen!!
4. Erlaubnis
Jeder Frau ist es erlaubt, ihre Sicht für wahr zu halten und die Sicht einer anderen Frau für falsch oder unwahr anzusehen. Jede Frau hat gleichzeitig die Erlaubnis, sich in die Sichtweise dieser anderen Frau hineinzuversetzen und zu erspüren, wie diese Frau ihre eigene Sicht für wahr hält, und möglicherweise meine Sicht total falsch oder unwahr findet.
5. Erlaubnis
Es ist erlaubt, zu irren. Es ist auch erlaubt zu erkennen, daß andere irren. Wenn wir den Irrtum bei anderen entdeckt haben, dürfen wir uns fragen, ob es sich vielleicht um einen Fehler handelt, den wir als Balken im eigenen Auge nicht mehr zu erkennen vermögen. Irren ist nicht nur menschlich-fraulich, sondern auch eine Chance, neue Wege zu suchen. Auf, laßt uns Fehler machen!
6. Erlaubnis
Es ist erlaubt, unter Frauen - Feministinnen oder nicht - zu streiten, auch wenn wir uns verletzen. Wenn Verletzungen vorgekommen sind, dürfen wir ein gemeinsames Heilungsritual durchführen, um uns wieder zu versöhnen. Die sich verletzt fühlt, darf ihren Schmerz zum Ausdruck bringen, darf um Hilfe bei der Heilung bitten; diejenige, die eine andere verletzt hat, darf sich vergeben. (Diese Erlaubnis ist besonders wichtig für Mütter, die meinen, ihren Kindern gegenüber versagt zu haben!)
7. Erlaubnis
Wir haben die Erlaubnis, unsere Mutter zu hassen für das, was sie schlecht gemacht hat und zu lieben für das, was sie uns gegeben hat. Irgendwann haben wir die Erlaubnis, die Liebe überwiegen zu lassen, weil der Haß auf unsere Mutter auf uns selbst zurückwirkt, vor allem, wenn wir selbst Mutter sind.
8. Erlaubnis
Es ist erlaubt, als Feministin Humor zu haben.
9. Erlaubnis
Es ist erlaubt, uns sinnlich-körperlich zu lieben. Selbstverständlich ist es erlaubt, sich selbst sinnliche Genüsse jeglicher Art zu verschaffen.
10. Erlaubnis
Es ist erlaubt, Männern jegliche Entwicklungshilfe zu verweigern. Wir dürfen steinhart bleiben und sie auf sich selbst oder auf die Solidarität mit anderen Männern zurückverweisen, wenn sie wieder angekrochen kommen. Es ist erlaubt, andere Frauen zu ermuntern, selbiges zu tun.
11. Erlaubnis
Es ist erlaubt, das Patriarchat zu Fall bringen zu wollen, ohne dabei gleich wieder an die Männer zu denken, die ja "davon auch profitieren würden". Wir dürfen ausschließlich an uns Frauen und unser Wohl denken, wenn wir unsere Utopie einer frauenfreundlichen Gesellschaft entwickeln. Es ist aber auch erlaubt, die Vorteile, die das Patriarchat mit sich gebracht hat, in unsere Utopien einzubeziehen.
12. Erlaubnis
Es ist erlaubt, unsere Geschichte(n) wiederzuentdecken und neu zu schreiben, neu zu er-finden; und zwar die schwarze(n) Schatten-Geschichte(n) der Verfolgung und Vernichtung unserer Ahninnen als Hexen ebenso wie die glorreiche(n) Geschichte(n) aus Zeiten des Matriarchats, das mindestens 30 000 Jahre bestand, während das Patriarchat erst lächerliche 5000 Jahre aufweisen kann.
13. Erlaubnis
Es ist erlaubt, Fäden zu spinnen zwischen Frauen in aller Welt, um ein Netz zu knüpfen, das uns trägt, und in dem wir das Patriarchat wie in einem Sprungtuch auf- und abhüpfen lassen können. Es ist erlaubt zu erkennen, daß wir Frauen auch im Patriarchat immer eine sehr viel größere Macht innegehabt haben, als man(n) uns zugestanden hat, weil wir diese Macht nur im Geheimen, als "Geheim-Dienst" ausüben konnten. Wir haben die Erlaubnis, unsere Macht wiederzufinden und offen zum Ausdruck zu bringen. Wir geben uns die Erlaubnis, uns über alle Grenzen hinweg als Frauen zu bemachten.

http://www.mariannekruell.de/schriftstellerin/vt-erlaubnisse.htm

Zusammenfassung: Man sollte "Macht" als Metapher oder als Realität betrachten. Denn wenn man den Konstruktivismus konsequent anwendet, ist jede/r frei, diejenige Realität im Konsens mit anderen zu konstruieren, die sie/er für die eigenen persönlichen oder gesellschaftlichen Ziele für nützlich oder angemessen hält. In der feministischen Auseinandersetzung gegen die Unterdrückung der Frau im Patriarchat ist es z.B sehr angebracht,die Macht der Männer über die Frauen als handfeste Realität zu betrachten, um sie als solche anzuprangern. In anderen Situationen, z.B. in der Partnerbeziehung oder in einer utopischen Gesellschaft ohne Unterdrückung von Menschen ist es dagegen sinnvoll, auf die Machtmetapher zu verzichten. Streben Konstruktivisten eine feministisch/maskulinistische Utopie an?
Es gibt wahrscheinlich auch heute noch keinen Frauenkongreß, kein Treffen von Feministinnen, auf dem - wenn es um das Problem der politischen Durchsetzung feministischer Forderungen geht - nicht die Frage gestellt wird, ob denn Frauen überhaupt Macht beanspruchen dürften, ob sie Macht anstreben sollten, ob Frauen in diesem Punkt den Männern nacheifen sollten, die sich doch durch Macht korrumpiert hätten und deren Machtmißbrauch gerade Frauen gegenüber nicht mit weiblicher Gegenmacht begegnet werden dürfte. Wenn diese Frage aufkommt, wird die Diskussion heiß. Der Absage an die Macht wird die Gegenmeinung entgegengehalten, daß Macht nicht per se schlecht sei, sondern daß nur diejenige Form der Macht abzulehnen sei, mit der Menschen unterdrückt werden. Macht sei etwas, das Frauen anstreben müßten, wenn sie mit ihren Forderungen an die Männer, an die patriarchalische Gesellschaft, ernstgenommen werden wollten und wenn sie sich selbst in diesen Forderungen ernst nähmen. Meist mündet die Diskussion dann in eine ausweglose Kontroverse, was Frau-Sein eigentlich heißt, ob es darum geht, in die Gesellschaft alternative Modelle für Mensch-Sein einzubringen, die den Lebenszusammenhang von Frauen widerspiegeln, wo Macht in der Tat nicht die zentrale Rolle spielt wie in den männlichen Lebensbereichen, oder ob es darum gehen soll, daß Frauen in den bestehenden Strukturen an Positionen kommen sollen, von denen aus überhaupt erst Änderungsmöglichkeiten gegeben sind, wozu sie unbedingt Macht brauchen.
Wenn Frauen über die Machtfrage diskutieren, reden sie darüber, ob Macht erstrebenswert ist oder darüber, wie weibliches Streben nach Macht zu rechtfertigen ist. Unsere soziale Rolle schreibt uns keine Macht zu, wir sind rollenmäßig in der one-down-Position. Wenn wir Macht anstreben, richten wir uns gegen unsere sozial vorgeschriebene Rolle und sehen uns deshalb in einem Rechtfertigungszwang. Das "Thatcher-Syndrom" wird gegen die "Neue-Weiblichkeits-Ideologie" ausgespielt, und bestenfalls endet die Diskussion damit, daß sich alle darauf einigen, verschiedene Wege mit oder ohne Macht gegen zu dürfen, jede nach ihren persönlichen Vorlieben oder Fähigkeiten.
Männer haben auch Probleme mit der Macht. Aber ihre soziale Rolle schreibt ihnen vor, daß sie Macht haben müssen, um ein "richtiger" Mann zu sein; wenn keine andere, dann wenigstens die Macht über die eigene Frau. Männer müssen sich rechtfertigen, wenn sie keine Macht haben, wenn ihnen die Frau "auf der Nase herumtanzt", wenn sie sich nicht durchsetzen können. Macht gehört zur sozialen Rolle des Mannes, für ihn geht es darum, sich Wege zu erschließen, um sie zu bekommen. Er muß sich vor sich selbst und vor der Gesellschaft verantworten, wenn er keine Macht anstrebt.
Für beide Geschlechter kann Macht also ein Problem werden: Für die Frauen, wenn sie sie haben wollen, aber nicht haben dürfen, für die Männer, wenn sie sie nicht haben wollen, aber müssen. Sie ist auch zwischen den Geschlechtern ein Problem, weil Macht unter anderem als Beziehung zwischen Mann und Frau definiert wird. Für beide Geschlechter hat Macht große soziale Relevanz und wird meist als fraglos gegebene Realität betrachtet.
Wenn man mit BATESON die Machtmetapher als solche in Frage stellt, also ihren Realitätsgehalt anzweifelt, trifft man meist auf völliges Unverständnis. Unter Feministinnen gibt es wohl kaum eine, die auf die Frage, ob sie ohne den Begriff der Macht auskommen könne, nicht mit einem spontanen und überzeugten NEIN antworten würde. Die ökonomischen, politischen, sozialen, psychischen und körperlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern in Patriarchat sind, so scheint es, nicht anders beschreibbar denn als solche der Macht von Männern über Frauen.
• Männer haben nun einmal immer noch die ökonomischen Mittel, eine Frau als ihren "Besitz zu betrachten. Und wenn Frauen sich ökonomisch unabhängig machen, werden sie spätestens bei der Geburt eines Kindes wieder in eine Abhängigkeit vom Mann getrieben, weil sie von der Gesellschaft, der öffentlichen Meinung und durch ganz handfeste strukturelle Gegebenheiten nicht nur keine Unterstützung für ihre Selbständigkeit erfahren, sondern noch dafür bestraft werden durch offene und verdeckte Diskriminierung.
• Politische Aktivität ist für Frauen noch immer nicht ganz "normal". Dadurch aber können Frauen keinen Einfluß auf Entscheidungsprozesse ausüben. Die wenigen politisch hervortretenden Frauen sind außerdem noch oft frauenfeindlich eingestellt, sie fallen sich selbst und anderen Frauen in den Rücken.
• Die soziale Ohnmacht der Frauen ist durch ihr Eingebunden-Sein in Familie und Haushalt gegeben. Die ungeheure soziale Bedeutung dieser Aufgaben wird ihnen jedoch in keiner Weise angemessen honoriert. Sie erhalten keine Bezahlung und werden in unserer monetären Gesellschaft auch noch deshalb dafür gering geachtet. Die Rosen zum Muttertag haben deshalb für Feministinnen besonders viele Dornen.
• Psychisch ergibt sich aus allem eine grundlegende Unsicherheit, ein Gefühl der Machtlosigkeit bei Frauen, das so weit gehen kann, und meist auch geht, daß sie nicht einmal mehr ihre Unterdrückung wahrnehmen. Das ist eine Erfahrung, die fast alle Frauen, gleich welcher sozialen Schicht, machen. Ich selbst habe Jahre hindurch meine eigene Person ausgenommen, wenn ich von der Unterdrückung der Frau im Patriarchat sprach. Ich verstand z.B. meine Entscheidung, acht Jahre lang aus dem Beruf auszusteigen, um Kinder großzuziehen, als ganz private Angelegenheit. Daß für meinen Mann eine solche Entscheidung nie anstand, daß ich selbstverständlich - obwohl ich mehr verdiente als er - meine Stelle aufgab und mit ihm in eine andere Stadt zog, wo er eine Stelle bekam - all das schien mir jahrelang nichts mit meiner Rolle als Frau in der Gesellschaft zu tun zu haben. "Das Private ist politisch" war ein Slogan, den ich mir erst sehr langsam zu eigen gemacht habe.
• Und auch in ihrem eigenen Körperbewußtsein sind Frauen auf den Mann bezogen. Sie soll für ihn reizvoll sein, muß für ihn attraktiv bleiben, sonst ist sie keine Frau. Das wird vor allem deutlich im Alter. Während ein 40- bis 50-jähriger Mann als besonders attraktiv für junge Frauen gilt, ist die umgekehrte Beziehung einer älteren Frau mit einem jungen Mann sozial verpönt. Der Körper der Frau ist Gegenstand besitzergreifender und gewalttätiger Fantasien und Handlungen von Männern. Man sollte dabei nicht nur an die Prostitution, an sexuelle Gewalt oder an die Vermarktung des weiblichen Körpers in der Werbung denken. Dieses Thema ist durchgängig in allen Bereichen des Gesellschaft zu finden. Der Sexismus macht im übrigen auch nicht vor dem therapeutischen Bereich Halt, er zeigt auch hier seine offene oder versteckte Destruktivität.
Um die hier nur angedeutete Benachteiligung, Unterdrückung, Vergewaltigung von Frauen beschreiben und anprangern zu können, muß man die Machtmetapher verwenden, sagen Feministinnen, und ich stimme ihnen vollen Herzens zu. Denn auch alle anderen Formen von Unterdrückung rassischer, ethnischer und anderer Gruppen können nicht ohne Verwendung der Machtmetapher beschrieben und angeprangert werden. Wenn ich mit meiner Beschreibung von sozialen Gegebenheiten das Ziel habe, Mißstände zu kritisieren, um als weiteres Ziel die Beseitigung dieser von mir erkannten Mißstände zu erreichen, dann muß ich auf die Verantwortlichen, die Entscheidungsträger zeigen und sie als Machthaber entlarven, da meist gesellschaftliche Mystifizierungsprozesse die Machtstrukturen vernebelt haben. Im Zusammenhang mit den Geschlechtsrollen ist das zum Beispiel der Mythos von der unterschiedlichen "Natur" von Mann und Frau.
In der Frauenfrage, meine ich, ist es unbedingt nötig, immer weiter aufzudecken, bewußt zu machen und anzuprangern, was Frauen im Patriarchat angetan und zugemutet wird. Es gibt noch viel zu viele Frauen, die gar nichts von ihrer Unterdrückung wissen und es gibt gerade in jüngster Zeit wieder immer mehr Männer (und leider auch Frauen!), die die Zeit zurückschrauben wollen, am liebsten bis ins 19. Jahrhundert zurück. Wir müssen von Macht und Unterdrückung reden und schreiben, solange wir meinen, daß Frauen im Patriarchat Unrecht geschieht.
Aber wenn wir nicht nur anprangern, kritisieren, aufschreien wollen, sondern als Frauen, und sogar als Feministinnen, noch andere Ziele haben, z.B. in unseren eigenen Beziehungen mit Männern, also dem eigenen Partner, Kollegen, Freund; am Arbeitsplatz, im privaten Kreis oder in sonstigen sozialen Gruppen besser auskommen wollen, dann ist die Machtmetapher lästig, wenn sie nicht gar das Erreichen dieser Ziele unmöglich macht.
Ich kann die Beziehung meines Ehepartners zu mir als ein Machtverhältnis definieren und gegen ihn kämpfen und ihm die Unterdrückung meiner Person anlasten. Wenn ich aber ehrlich bin, ist meine Unterdrückung oder meine mangelnde Selbstverwirklichung etwas, das ich selbst mache oder bei dem ich zum mindesten seine repressiven Aktivitäten zulasse. Es gibt immer Alternativen zum Ertragen und Aushalten der Unterdrückung: Scheidung, Trennung, oft würde viel weniger notwendig sein: eine Aussprache, auch z.B. die Solidarisierung mit anderen Frauen und vieles mehr. Die Definition der Beziehung zu meinem Partner als Macht-Ohnmacht-Beziehung hindert mich daran, meine Ressourcen zu entwickeln. Ich selbst baue mir mit dieser Definition einen Käfig, aus dem es keinen Ausweg gibt. Ich gebe zu, daß das auch irgendwie ganz bequem und angenehm sein kann. Ich trage dann nämlich für das, was ich erlebe, scheinbar keine Verantwortung mehr. Er ist der Schuldige, der Tyrann, der typische Patriarch, ich die arme, leidende, unterdrückte Frau! Wenn ich aber mehr oder anderes als das Anklagen erreichen will, sollte ich auf die Machtmetapher verzichten.
Sie aufzugeben, kann auch dazu führen, daß ich mich in meinen Partner oder in andere Männer, mit denen ich zu tun habe, besser hineinversetze, um zu verstehen, wie der Betreffende zu dem Mann geworden ist, der er ist. Wenn ich mir vorstellen kann, wie er seine eigene Mutter erlebte, die in der frühen Zeit alle Macht über ihn als kleinen Jungen hatte und ihn möglcherweise für ihre eigenen Bedürfnisse mißbrauchte, kann ich im Gespräch mit ihm einen großen Schritt weiter kommen, der auch mir mehr Freiraum gibt. Feministinnen warnen allerdings vor diesem Weg, der uns Frauen allzu leicht wieder zur Falle wird. Das "Alles-Verstehen-Alles-Verzeihen"-Motiv führt sehr schnell dazu, daß wir mit dem "armen" Mann Mitleid kriegen und damit erpreßbar werden, in der herkömmlichen Rolle zu verbleiben. Dennoch bleibt diese Haltung eine Möglichkeit des konstruktiven Umgangs zwischen Frau und Mann unter patriarchalischen Verhältnissen.
Es ließen sich noch viele andere Beispiele aufzeigen, wie Frauen trotz aller Kritik am Sexismus im Patriarchat ein Interesse daran haben können, mit Männern auszukommen und tiefe, befriedigende Beziehungen zu ihnen aufrechtzuerhalten. Immer ist dann die Machtmetapher ein Hindernis. Zwar wird sich die gesellschaftliche, auf Macht-Ohnmacht begründete Geschlechterbeziehung auch in jeder noch so progressiven Partnerbeziehung zwischen Mann und Frau widerspiegeln, die Kritik am Patriarchat hört also auch hier nicht auf. Dennoch kann es nicht das Interesse einer Frau sein, die von ihr gewollten Männer-Beziehugen nur unter dem einen Aspekt zu sehen und zu leben.
Das schließt jedoch nicht aus, daß dieselbe Frau die Machtmetapher verwendet, um in einem politischen, öffentlichen oder auch privaten Diskussionszusammenhang auf die Unterdrückung der Frau, auf die Macht der Männer im Patriarchat hinzuweisen. Denn solange es sexuellen Mißbrauch, Vergewaltigung, solange es Unterdrückung der Frau in unserer Gesellschaft gibt, muß es Frauen - und Männer! - geben, die unter Verwendung der Machtmetapher diesen Mißbrauch aufzeigen und bekämpfen.
Wenn ich Humberto MATURANA folge, der davon spricht, daß alles, was gesagt wird, in Sprache gesagt wird und daß deshalb "Objektivität" nicht unabhängig von der jeweiligen Perspektive, dem jeweiligen sprachlichen Rahmen eines Beobachters existiert, und daß es deshalb kein "Universum" gibt, sondern "Multiversa", die sich in mancher Weise überschneiden, aber auch von Person zu Person und selbst innerhalb einer Person sehr verschieden sind, dann beanspruche ich, die Machtmetapher so zu verwenden, wie es meinem Universum, bzw. meinen Multiversa entspricht. In der Welt, die sich mir als eine sexistische darstellt, in der Frauen von Männern unterdrückt und vergewaltigt werden, will ich die Machtmetapher verwenden. Es gibt für mich aber auch noch andere Welten, in denen mir diese Metapher im Weg ist, und da verwende ich sie nicht.
Ich wehre mich gegen Männer - auch wenn mir ihre Ideen und Arbeiten ansonsten noch so gut gefallen -, die mir vorschreiben wollen, daß ich die Machtmetapher nicht verwenden darf, weil "es Macht nicht gibt" (Bradford KEENEY in dem Interview mit Jürgen HARGENS Z.system.Ther. 1985/1 S. 110ff). KEENEY verläßt mit dieser Behauptung seine eigene Grundprämisse des konstruktivistischen Denkens. Denn er macht damit eine Aussage über eine "objektive" Realität, die es doch aber in seinem eigenen Denken nicht geben kann, da sie nur in Sprache existiert.
Ich wehre mich aber auch gegen Frauen - deren feministische Anliegen ich ansonsten voll und ganz teile -, die mir einreden wollen, daß es Macht doch aber "wirklich" gäbe, ich selbst als Frau unter der Macht, die Männer über mich haben, leide (so Laurie MACKINNON, Dusty MILLER: "The Socio-Political Implications of the New Epistemology", Vortrag auf der A.A.M.F.T. Annual Conference, San Francisco 1984). Die Wirklichkeit der Macht, die Männer über mich haben, also auch die Wirklichkeit meines Leidens unter dem Patriarchat, bestimme ich durch meine Konstruktionen von Wirklichkeit. Ich habe viele Möglichkeiten, mich dem Leiden unter der Männer-Macht zu entziehen, diese patriarchalische "Wirklichkeit" also für mich umzudeuten, anders zu definieren und in meinen eigenen Beziehungen zu Männern nicht zum Tragen kommen zu lassen.
Wenn ich den Konstruktivismus VON FOERSTERs, die biologische Epistemologie MATURANAs oder die systemische Theorie BATESONs ohne Einschränkungen konsequent anwende, dann verweist jeder Begriff, jede Aussage, jede Kontextbeschreibung, die ich verwende, rekursiv auf mich zurück. Meine Konstruktionen von Realität schaffen mir die Welt, in der ich mich verwirkliche, meine Ziele finde, mein Handeln strukturiere. Und ebenso gilt, daß es meine politischen, gesellschaftlichen, persönlich-biographischen usw. Ziele sind, die bestimmen, wie ich meine Realität konstruiere. Wenn ich das Ziel habe, gesellschaftliche Veränderungen politisch durchzustzen, dann ist es notwendig, mit Gleichgesinnten eine gemeinsame Sprache zu finden, mit der wir die Welt so konstruieren, daß wir mit unseren Interessen vorwärts kommen. Und wenn die Machtmetapher dazu taugt, dann werden wir sie verwenden!
Da ich aber in meinem Leben nicht nur ein einziges Ziel habe (manche Menschen konstruieren sich ihre Welt und ihr Selbstbild allerdings so, daß sie glauben, sie hätten nur eines!), werde ich mir für andere Ziele ein anderes Bild von Welt konstruieren und dafür andere sprachliche Metaphern verwenden. Unter Umständen kann es dann auch sein, daß ich die Machtmetapher beiseite lasse.
Die konstruktivistische, systemische Epistemologie will ich für mich verwenden, um meine eigenen Konstruktionen von Realität zu erkennen, um mich aus der Reifizierung von Begriffen, die ich verwende, zu lösen. Aber ich will mir auch mit ihrer Hilfe neue Kontexte, neue Welten schaffen. Ich will frei sein zu entscheiden, ob ich mich in ein Sprachsystem einfüge, es verändere, es durch ein anderes ersetze, es zu meinen bisherigen hinzufüge usw. Der Konstruktivismus soll für mich nicht wieder ein Korsett werden, das mich zwingt, den Machtbegriff nicht mehr zu verwenden. Wenn ich will, werde ich ihn benutzen!
Selbstverständlich wäre die Situation völlig anders, wenn wir in einer Gesellschaft lebten, in der der Konstruktivismus das allgemeine Menschen- und Weltbild wäre, wenn jeder die Toleranz hätte, die "Multiversa" der anderen Menschen anzuerkennen und gelten zu lassen (dann wäre im übrigen auch "Macht" kein Thema mehr!).
So lange wir aber als Frauen im Patriarchat, als Andersdenkende in einer ideologisch festgefügten Gesellschaft, solange Menschen als Minderheit in einer ethnozentrischen Majorität usw. eine solche Toleranz nicht erwarten können, wäre der Verzicht auf die Machtmetapher zur Beschreibung der sozialen Gegebenheiten mit Selbstaufgabe gleichzusetzen.
Der Konstruktivismus, das systemische Denken, hilft mir, das, was wir als "Macht" bezeichnen, nicht zu verdinglichen und immer die Definitionen von "Macht", die hinter der "realen Macht" stehen, wahrzunehmen. Das gibt mir die Freiheit, nach Alternativen für eine spezifische Definition von Macht zu suchen, wodurch oft erstaunlich schnell Veränderungen der "realen" Machtverhältnisse bewirkt werden. Der Slogan "die Macht der Ohnmacht" ist beispielsweise eine solche alternative Definition, die nicht nur im therapeutischen Bereich, sondern auch in einer politischen Auseinandersetzung neue Wege erschließt.
Andererseits kann jedoch auch der alte Machtbegriff Tore öffnen, eben wenn es zum Beispiel darum geht, Frauen ihre Unterdrückung im Patriarchat überhaupt erst einmal bewußt zu machen. Und auch das Bewußtsein beispielsweise von der "Macht der Machthaber über die Sprache" oder von der "Macht des Konstruktivismus über die Macht der Machtmetapher und die Macht der Machthaber über die Sprache" usw. kann sich nur dann entwickeln, wenn wir nicht auf den Machtbegriff von vornherein verzichten. Wir sollten uns die Freiheit bewahren, den Machtbegriff manchmal als Werkzeug, manchmal als Spielzeug, manchmal als Stütze und manchmal als Waffe flexibel einzusetzen und auch, wenn es in irgendeinem Kontext angebracht erscheint, ihn gänzlich fallenzulassen.
Manchmal kommt mir eine ganz heiße Idee, daß nämlich die Männer, die den Konstruktivismus und das systemische Denken entwickelt haben, verkappte "Maskulinisten" sind, also Männer, die unter ihrer Geschlechtsrolle leiden, weil sie die Macht, die sie rollenmäßig ausüben müssen, als Last empfinden und deshalb darauf gekommen sind, sie als Metapher zu bezeichnen. Da allerdings keiner von ihnen bisher auch nur andeutungsweise auf die Rekursivität zwischen seiner eigenen Geschlechtsrolle und seinem Denken eingegangen ist, wie das bei Feministinnen allgemein üblich ist, ist meine Vermutung wohl doch nur Wunschdenken. Ich kann nur davon träumen, daß endlich einmal in der jahrhunderte- oder jahrtausendealten Geschichte der Erkenntnisphilosophie die Dimension der Geschlechtszugehörigkeit ihres/r Autors/Autorin innerhalb einer Theorie nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern mit reflektiert würde. Die Rekursivität und Reflexivität des systemischen Ansatzes bieten dazu optimale Möglichkeiten. Ach wär' das schön!

http://www.mariannekruell.de/schriftstellerin/vt-maennermacht.htm


Der Titel meines Vortrags ist ein wenig irreführend, denn selbstverständlich ist das Alt-Werden nicht nur ein Problem von Frauen. Es scheint sogar für Männer ein größeres Problem zu sein als für Frauen, denn Männer werden im statistischen Durchschnitt nicht so alt wie wir. In meinem Vortrag möchte ich die besonderen Probleme, die das Alt-Werden für Frauen darstellt, ansprechen. Sie unterscheiden sich, so meine ich, in wesentlichen Punkten von denen, die Männer im Alter haben.
Viele dieser Unterschiede lassen sich mit Zahlen belegen. So ist insbesondere die ökonomische Situation von alten Frauen schlechter als die von Männern. Weitaus häufiger müssen alte Frauen unterhalb der Armutsgrenze leben. Ihr Gesundheitszustand ist im Durchschnitt schlechter, wenn man als Maß die Häufigkeit der Arztbesuche zugrundelegt. Die Isolation von alten Frauen ist größer, da sie viel häufiger nicht wieder heiraten oder eine neue Lebensgemeinschaft gründen als Männer. Frauen sind sehr viel häufiger als Männer in Alters- und Pflegeheimen zu finden, was sich aus ihrer statistisch längeren Lebensdauer erklärt, aber eben die Probleme des Alt-Werdens bei Frauen verstärkt (vgl. dazu Ursula Lehr, 1982).
Im Folgenden möchte ich Sie jedoch nicht mit Statistiken langweilen, sondern versuchen, das Erleben des Alt-Werdens bei Frauen im Unterschied zu dem andersartigen Erleben bei Männern an einigen Beispielen aufzuzeigen.
Anregung dazu hat mir die Brecht-Geschichte gegeben, die im Programm dieser Tagung abgedruckt ist, in der er von den letzten Jahren seiner Großmutter erzählt. Diese alte Frau, gerade Witwe geworden, fällt aus der ihr zugedachten Rolle, weil sie ihre erwachsenen Kinder nicht zu sich ins Haus nimmt oder zu ihnen zieht, weil sie ins Kino geht, im Gasthaus ißt, weil sie zu einem Freund geht, und sich mit ihm bei einem Glas Wein unterhält und vielleicht noch andere Dinge mit ihm treibt ..., wie die Söhne zu vermuten scheinen.
Ich habe mir überlegt, daß dieses Verhalten bei einem alten Mann als vollkommen angepaßt gelten würde. Man würde augenzwinkernd und anerkennend sagen, daß er trotz seines Alters noch ein rechter Schwerenöter sei. Wenn sich also Brechts Großvater so verhalten hätte wie die Großmutter, wären die Söhne wahrscheinlich sogar stolz auf ihren lebenslustigen Vater gewesen, hätten zumindest nie die Idee gehabt, er könne verrückt sein, wie sie bei der sich amüsierenden alten Mutter annahmen.
Brechts Geschichte macht deutlich, daß das Alt-Werden für Frau und Mann verschieden ist. Eine alte Frau hat zurückgezogen und bedürfnislos zu sein. Sie soll - wie eh und je - ihren Kindern und Enkeln gegenüber hilfsbereit und fürsorglich sein. Sie soll Hilfe, die ihr angeboten oder gegeben wird, dankbar annehmen. Sie soll vor allen Dingen vollkommen unerotisch und körperlich unattraktiv sein.
Besonders in dem letzten Punkt unterscheidet sich die Rolle der alten Frau sehr stark von der des alten Mannes. Denn seltsamerweise gelten die weißen Haare, die Falten, die schlaffe Haut bei einem Mann nicht als unerotisch, sie sollen ihn sogar für junge Frauen besonders interessant machen. Der "reife" Mann mit "markanten", d.h. faltigen Zügen im Gesicht und mit grauen Schläfen gilt als erotisch anziehend. Niemand verachtet den alten Goethe oder die junge Ulrike von Levetzow, wenn sie sich ineinander verlieben. Wenn aber eine alte Edith Piaf einen 20jährigen Mann heiratet, dann rümpft man die Nase und kann vor allem nicht begreifen, weshalb sich der junge Mann nicht vor der alten Frau ekelt. Goethe war aber mit über siebzig äußerlich bestimmt nicht attraktiver als Edith Piaf im selben Alter.
Ich behaupte, daß niemand von uns trotz aller Emanzipation und Toleranz völlig frei von diesem Vorurteil ist. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich auch "komische" Gefühle", wenn ich eine Frau von 65 als Partnerin eines 30jährigen erlebe. Ich kann mir zwar vorstellen, selbst mit einem Mann zusammenzuleben, der mein Sohn sein könnte, doch glaube ich, daß eine solche Beziehung wegen des Drucks von außen sehr prekär wäre. Dagegen - dessen bin ich sicher - fällt es keinem Mann hier im Raum schwer, sich als älterer Herr ein Leben mit einer sehr viel jüngeren Partnerin vorzustellen. Im Gegenteil, ich behaupte, daß es der Wunschtraum der meisten Männer ist, es den prominenten Männern in Gegenwart und Vergangenheit nachzutun, seine "Alte zu Vierzig" in zwei "Junge zu Zwanzig" umzutauschen!
Ich gestehe offen ein, daß ich diese Rollendefinition ungerecht und gemein finde! Meine Freundin - noch ein paar Jahre älter als ich - meint, daß es genau umgekehrt sein müßte: Im Gegensatz zu Männern nimmt bei uns Frauen die sexuelle Potenz im Alter nicht ab. Im Gegenteil, nach der Menopause sind wir endlich erlöst von der Angst vor unerwünschten Schwangerschaften und könnten nun unsere Sexualität in vollen Zügen genießen. Außerdem, meint meine Freundin, könnten wir älteren Frauen den jungen Männern gerade auf dem sexuellen Gebiet so viel mehr zeigen als die älteren Männer den jungen Mädchen ...!
Und dann erinnern wir uns an den Film "Harold und Maude", und wir geraten ins Schwärmen, wie so viele Frauen unserer Generation, die glänzende Augen bekommen, wenn sie an diesen Film denken. Er ist zwar von einem Mann gedreht worden und die Hauptfigur ist der achtzehnjährige Harold, aber wir lieben Maude, die achtzigjährige, in die sich Harold verliebt: Maude genießt diese letzte Liebe ihres Lebens auch sexuell. Sie verführt den Jungen, aber mit so leichter Hand, daß er sich eher geführt und geleitet fühlt. Er entdeckt durch sie die Schönheit, die Verrücktheit, die Erhabenheit des Lebens, und läßt sich von ihr verzaubern. Maude lebt in einem Eisenbahnwaggon, umgeben von Gegenständen, die sie an ihre schöne und bittere Vergangenheit erinnern. Aber sie ist dennoch wach und der Gegenwart zugewandt, voller Leben, voller Liebe - so gar nicht "alte Frau", wie sie nach der herkömmlichen Rolle in ihrem Alter sein müßte. Und sie weicht auch nicht der Unvermeidlichkeit ihres Todes aus, sondern wählt entschlossen den Zeitpunkt selbst, um an einem Höhepunkt aus dem Leben zu scheiden.
Maude ist für mich ein Modell dafür geworden, wie ich selbst alt werden möchte. Männer haben mehr solcher positiven Modelle. Für uns Frauen gibt es nur sehr wenige. Ich glaube, daß das Fehlen solcher Modelle eines der größten Probleme des Alt-Werdens von Frauen ist.
Doch nicht nur in Bezug auf die Sexualität unterscheiden sich die Altersrollen von Mann und Frau. Eine alte Frau kann sehr leicht zu einer "Hexe" werden, was einem Mann nicht passieren kann. Es gibt keine derartig negative Rolle im Alter für ihn. Er mag verschroben, eigenbrötlerisch, starrköpfig usw. werden, doch die Bedrohlichkeit einer "Hexe" ist nicht Teil der männlichen Altersrolle.
Ich erinnere mich, daß ich als Kind Angst hatte vor einer allein lebenden alten Frau in der Nachbarschaft, weil man von ihr als "Hexe" sprach. Aus dem Märchen "Hänsel und Gretel" kannte ich eine Hexe und stellte mir vor, daß diese alte Frau ebenso böse sein müßte. Ich glaube, daß dieses Bild der Hexe ein außerordentlich destruktiver Teil der weiblichen Altersrolle darstellt. Da er an die mittelalterlichen Hexenvorstellungen anknüpft, möchte ich ein paar Vermutungen darüber anstellen, welche Art von Frau die Knusperhexe im Märchen von Hänsel und Gretel wohl gewesen sein könnte:
Sie war möglicherweise eine der vielen heilkundigen Frauen, die Mittel zur Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung kannten, zu der Frauen gingen, um sich helfen zu lassen. Diese Kräuterfrauen wurden verfolgt wegen ihres Wissens über Geburtenregelung, denn man brauchte Menschen, um Kriege zu führen oder um die durch die Schlachten verminderte Bevölkerung wieder aufzufüllen. Daher sollten Kinder geboren werden, auch gegen den Wunsch der Frauen. Hebammen und Heilerinnen, die Frauen zur Empfängnisverhütung oder Abtreibung verhalfen, wurden verfolgt.
Diese Frauen waren aber nicht nur Hebammen, sondern auch noch hervorragende Psychotherapeutinnen. Denn mit ihren magischen Sprüchen, Geisterbeschwörungen, Mondritualen usw. waren sie möglicherweise erfolgreicher als manche Psychiater mit ihren Medikamenten heute! Diese Macht stand aber in krassen Gegensatz zum Machtanspruch der Kirche über die Seelen der Menschen. Da die Heilerinnen ihr Wissen meist aus vorchristlichen Kulturen bezogen, waren sie der Kirche doppelt verdächtig. Dazu kam, daß die Heilkunde immer mehr zu einer Sache der Männer wurde. In der neuen medizinischen Wissenschaft hatten die Frauen nichts mehr zu sagen. Das Wissen der Heilerinnen und Hebammen galt entweder als bedrohlich oder als minderwertig, in jedem Fall mußte es bekämpft werden - am einfachsten, indem man die Frauen umbrachte. Diese Frauen waren die ersten "Hexen", die verfolgt und verbrannt wurden.
Als "Hexen" wurden dann aber auch diejenigen Frauen verfolgt, die sich der patriarchalischen Frauenrolle nicht fügen wollten, und sich beispielsweise weigerten, einen Mann zu heiraten, der ihnen nicht paßte. Frauen, die eine erotische Ausstrahlung - z.B. rote Haare - hatten und deshalb Männern begehrlich oder bedrohlich erschienen, wurden der Hexerei angeklagt. Im "Hexenhammer", einer vor genau 500 Jahren erschienenen Inquisitionsschrift, werden genaue Angaben gemacht, wie und woran man eine vom Teufel besessene Frau erkennt. Es geht daraus klar hervor, daß allein der Verdacht genügte, um eine Frau auf den Scheiterhaufen zu bringen, da alles, was sie tat, bei bestehendem Verdacht auf Hexerei gegen sie ausgelegt werden konnte. Durch Folterungen wurden verdächtigte Frauen zu Geständnissen gepreßt, durch die sie sich nicht etwa vor dem Tode retten, sondern höchstens eine "mildere" Art der Tötung erreichen konnten.
Versetzen wir uns einmal in eine Frau, die zur Zeit der Hexenverfolgung lebte (die letzte "Hexe" wurde vor etwa 200 Jahren verbrannt): Sobald sie mit der ihr vorgeschriebenen Rolle nicht in Einklang war, stand sie in Lebensgefahr. Aber auch, wenn sie auf irgendeine Weise mißliebig auffiel, konnte man ihr den Umgang mit dem Teufel unterstellen. Dazu kommt, daß Menschen in dieser Zeit schon als Kinder Hexenverbrennungen miterlebten, daß also die meisten Frauen schon als kleine Mädchen erfuhren, daß eine Nachbarin, Tante, Großmutter - oder gar die eigene Mutter auf einmal vom Teufel besessen sein kann und umgebracht werden muß! Kleine Mädchen lernten also, daß auch in sie der Teufel fahren könnte. Sie lernten in Angst vor sich selbst zu leben, lernten die eigene Sexualität zu fürchten. Sie lernten aber vor allem, daß ihr subjektives Gefühl von Unschuld nichts galt. Und das machte sie wiederum zu leichten Opfern von Mißbrauch durch Männer.
Einige Menschen haben auch damals schon erkannt, daß nicht die verfolgten Frauen, sondern ihre männlichen Verfolger "besessen" waren, nämlich von ihren eigenen sexuellen Fantasien, die sie auf die Frauen projizierten und an ihnen ausagierten, indem sie ihre Körper mißbrauchten. Die "Teufel" waren die Männer selbst, die mit Sicherheit nicht selten ihre eigenen Ehefrauen, Töchter, Schwestern sexuell mißbraucht hatten und ihre Schuldgefühle durch Verfolgung anderer Frauen als "Hexen" zu vertuschen suchten. Mit dem Bild der Hexe und der religiös begründeten Rechtfertigung, sie zu töten, war ein extremer Sexismus entstanden, der die Beziehungen zwischen den Geschlechtern vergiftete.
Wir können uns heute trösten und sagen, daß ja zum Glück die Zeit der Hexenverfolgung vorbei ist, daß keine Frau mehr auf dem Scheiterhaufen sterben muß. Doch ich glaube, daß das Bild der Hexe nicht nur im Märchen, sondern in uns allen - Männern und Frauen - noch weiter vorhanden ist und seine destruktive Wirkung auf unser Verhalten besonders gegenüber alten Frauen ausübt. Ich glaube, daß eine jede Frau nichts mehr fürchtet, als im Alter eine "alte Hexe" zu werden, oder als solche angesehen zu werden. Und ich glaube, daß es diese Angst ist, die uns daran hindert zu erkennen, daß eine "Hexe" damals und heute eine bewundernswerte, nonkonformistische Frau war/ist!
Maude wäre beispielsweise mit Sicherheit vor 300 Jahren als Hexe bezeichnet worden. Sie wäre aber auch heute irgendwann "in Gewahrsam" genommen worden und vermutlich in der Psychiatrie gelandet, wenn sie nicht Selbstmord gemacht hätte. Denn die Teufelsbesessenheit, die man den unliebsamen Frauen damals unterstellte, hat heute nur ein anderes Etikett - nämlich "Geisteskrankheit", "Altersschwachsinn", "Verkalkung", "Senilität", "Infantilismus" usw. - bekommen. Die Rückwirkungen dieser Etikettierungen auf die Frauen jedoch sind die gleichen: sie machen Angst vor den eigenen inneren Prozessen, vor möglicher Abweichung von vorgeschriebenen Rollennormen.
Hierzu das Beispiel einer achtzigjährigen Frau, die die letzten 5 Jahre ihres Lebens in einem als "Altersdemenz" diagnostizierten Dämmerzustand dahinlebte. Sie war allerdings immer dann voll bei Sinnen, wenn ihr vergötterter Sohn zu Besuch kam. Mit ihm unterhielt sie sich völlig normal, so daß er seinen Geschwistern nicht glauben wollte, daß die Mutter sofort wieder in ihren Dämmerzustand zurückfiel, wenn er aus dem Zimmer gegangen war. Als Außenstehender konnte man den Zustand dieser Frau als ihren Weg verstehen, der Angst vor dem Verrücktwerden zu entgehen. Sie wollte um jeden Preis nicht das Schicksal ihrer Schwester erleiden, die in ihren letzten Jahren verwirrt gewesen war. Ihr Dämmerzustand "ent-rückte" sie ihrer Angst, verrückt zu sein, indem sie die Realität ihres Zustands nicht mehr wahrnahm. Daß sie dadurch "verrückter" war als ihre Schwester, erkannten alle, nur sie nicht.
Was war die Angst vor dem Verrückt-Werden dieser Frau? Warum war sie wie weggeblasen, wenn der Sohn bei ihr war? Sie konnte oder wollte nicht wahrhaben, daß ihr ganzes Leben im Grunde genommen leer war. Sie hatte zwar sieben Kinder geboren, aber nie ein Eigenleben geführt. Als die Kinder aus dem Haus gingen und ihr Mann starb, setzte sie alle Hoffnung in ihren Lieblingssohn, der sie wie ein Märchenprinz ins Leben führen sollte. Er mußte ihr als kleiner Junge einmal versprechen, sie, wenn er groß sein würde, in einer weißen Kutsche spazierenzufahren. Sie scheint ihr ganzes Leben darauf gewartet zu haben. Doch als sie alt war, kümmerte er sich nicht um sie, nicht einmal eine versprochene Reise machte er mit ihr. Die alte Frau reagierte darauf, indem sie ihren Verstand abschaltete und in eine Wahnwelt driftete, aus der sie nur herauskam, wenn er auftauchte.
Aber ist diese Frau wegen ihrer Affenliebe und ihres daraus resultierenden unwürdigen Alt-Werdens zu kritisieren? Keineswegs, denn sie hat ihre Mutter- und Frau-Rolle ganz nach Vorschrift gelebt. Im Dritten Reich bekam sie das Mutterkreuz, weil sie sieben Kinder hatte, die sie im Krieg allein durchbrachte. Alle Kinder waren "etwas" geworden. Sie ließ sich gern bewundern, eine so starke Frau gewesen zu sein. Doch war sie das im Grunde ihres Herzens gar nicht. Sie konnte es sich nur nicht eingestehen, daß die Rolle der Nur-Mutter für sie immer schon "ver-rückt" gewesen war. Sie hat die vielen Kinder gar nicht gewollt. Ihre Ehe war unglücklich, sie blieb nur, weil eben die Kinder da waren und sie keine eigene Existenzmöglichkeit hatte. Insgeheim war sie wahrscheinlich froh, als ihr Mann starb und hoffte auf ein neues, "eigentliches" Leben. Aber das schien ihr wiederum nur durch einen Mann, ihren vergötterten Sohn, möglich zu sein. Als ihr bewußt wurde, daß ihr Lebenswunsch unerfüllt bleiben würde, versank sie in ihren Dämmerzustand, um den Irrsinn ihres Lebens nicht wahrnehmen zu müssen und daran irre zu werden.
Sie hätte es mit Hilfe von anderen Menschen vielleicht noch schaffen können, ihrem Leben im Alter einen anderen Sinn zu geben. Aber es wäre schwer gewesen, weil ihre Vorstellung, daß jegliche Form von Abweichung "Verrücktheit" bedeutet, so tief in ihr verankert war. Sie konnte nicht wie Brechts Mutter aus der vorgeschriebenen Altersrolle ausbrechen. Um nonkonformes Verhalten entwickeln zu können, darf man nicht fürchten, als Verrückte angesehen zu werden. Das heißt, man muß als Frau davon überzeugt sein, daß unser Leiden an der vorgeschriebenen Rolle "normal" ist, weil die herkömmliche Frauenrolle selbst "verrückt" ist, weil sie uns Frauen in Verhaltensweisen zwingt, die im Vergleich zur Männerrolle "ver-rückt" sind.
Selbstverständlich sind nicht alle Frauen mit der herkömmlichen Rolle unzufrieden. Viele haben sich mit der Frau- und Mutterrolle identifiziert und sind damit glücklich. Doch ist es nicht gerechtfertigt, diese Zufriedenheit als "natürlich" zu bezeichnen und die Unzufriedenheit der anderen Frauen als "unnatürlich". Wenn Frauen wie die geschilderte alte Frau sich in eine Wahnwelt zurückziehen, wenn andere Frauen Krankheiten entwickeln oder psychisch und physisch erstarren, oder auch zu alles kontrollierenden Tyranninnen werden, so ist das eine ebenso "natürliche" Konsequenz der Rolle wie die Konformität.
Was für die Verrücktenrolle gilt, gilt auch für die Altersrolle. Auch sie ist in ihren negativen Aspekten nur zu überwinden, wenn man fest davon überzeugt ist, daß Altern nicht notwendigerweise ein angsterregender Prozeß ist, dem wir Menschen unweigerlich ausgeliefert sind. Die Angst vor dem Altern und vor dem Sterben ist nichts Natürliches. Man muß nicht vor dem physischen Verfall, vor der Hillflosigkeit und Abhängigkeit von anderen Angst haben. Maude muß nicht nur eine Filmfigur sein, eine fiktive Rolle - sie kann auch in die eigene Wirklichkeit umgesetzt werden. Ich meine, es ist möglich, konsequent bei der Überzeugung zu bleiben, daß Leben Er-Leben ist, daß auch die schwerste körperliche Behinderung oder die unmittelbare Nähe des Todes intensives Leben bedeuten kann.
Ich kannte eine Frau, die - schwer krebskrank - zu mir sagte, daß sie ihr Leben noch nie so reich und schön gefunden habe. Sie hatte die Musik entdeckt und war beglückt, zum erstenmal in ihrem Leben bewußt Mozart-Musik zu genießen. Sie meinte, daß seit ihrer Krebserkrankung ein neues Leben für sie begonnen habe. Auch meine Großmutter war bis zu ihrem Ende fröhlich. Sie zog die Bilanz ihrer 76 Jahre und meinte, daß es ein schönes Leben gewesen sei, und es nun auch genug sei. Sie kämpfte nicht gegen das abnehmende Leben, sondern genoß es bis zuletzt. Noch wenige Tage vor ihrem Tod ließ sie sich von mir - gegen den Rat der Ärzte - eine Flasche Malzbier bringen. Sie trank nur wenige Schlucke, weil ihr schlecht wurde, ich bekam große Angst. Doch sie lachte nur und meinte, daß Verbotenes ihr schon immer am besten geschmeckt habe.
Kommen wir zurück zur Rolle der alten Frau. Für viele Frauen verstärken sich die negativen Aspekte der beiden Rollen: Zur sozialen Minderbewertung der Frauenrolle kommt die der Altersrolle hinzu. Dies muß jedoch für die Frau nicht unbedingt so erlebt werden. Altersforscher vermuten sogar, daß die längere Lebenserwartung von Frauen damit zusammenhängt, daß sie sozusagen nahtlos von ihrer negativ getönten Frauenrolle in die ebenfalls negative Altersrolle übergehen. Der häufige "Rentnertod" bei Männern, also das Sterben sofort nach der Pensionierung, wäre in dieser Perspektive die Folge des abrupten Wechsels von der weitaus positiveren Männerrolle, die Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Wichtigkeit usw. verleiht, in die Altersrolle, in der Bedürfnislosigkeit, Abhängigkeit, Hilflosigkeit gefordert sind.
Frauen, die schon in jüngeren Jahren die herkömmliche Frauenrolle nicht übernommen haben, sei es daß sie berufstätig blieben oder nicht heirateten und kinderlos blieben, ist der Wechsel zur Altersrolle noch abrupter als für einen Mann, weil sie sich auch noch damit auseinandersetzen müssen, ihre herkömmliche Rolle nicht gelebt zu haben. Andererseits haben sie aber auch die größere Chance, zu ihrer Altersrolle in einer gewissen Distanz zu stehen, also etwa weiterhin aktiv zu bleiben, zu reisen, Männerfreundschaften zu halten, ohne sich deshalb für "verrückt", "krank" oder "unnatürlich" zu empfinden. So wie Maude können diese Frauen sich auch im Alter Abweichungen von der Altersrolle eher erlauben, weil sie auch von der traditionellen Frauenrolle abgewichen waren.
Meine Hoffnung auf Veränderung der sozialen Altersrolle geht dahin, daß in Zukunft - vor allem dann, wenn ich selbst alt bin -, mich mein Verhalten nicht zu einer Außenseiterin machen wird, sondern daß es dann viele alte Menschen geben wird, die mit mir "aus der Rolle fallen"! Die Grauen Panther (übrigens von einer Frau gegründet) haben für eine solche Einstellung den Boden geebnet. Sie prangern die negativen Aspekte der Altersrolle an und weisen mit ihren Aktionen darauf hin, daß und wie sie verändert werden kann, so daß Alt-Werden und Sterben kein Dahinvegetieren, sondern ein aktives Leben sein kann.
Abschließend ein Fazit, das aber kein Abschluß, sondern Anregung zum Weiterdenken und zum aktiven Handeln sein soll:
Ich bin davon überzeugt, daß die in unserer Gesellschaft dominierenden Vorstellungen vom Alt-Werden und vom Frau- bzw. Mann-Sein für jede/n von uns und für die gesamte Gesellschaft destruktiv, "ver-rückt" sind. Sie haben sich in einem historischen Prozeß entwickelt, sind zu sozialen Rollen geworden, die uns aber nicht als solche präsentiert werden, sondern als unsere "Natur". Es kommt also in meinen Augen entscheidend darauf an, diesen vermeintlichen "Natur"-Charakter der sozialen Rollen zu überwinden. Es gibt nichts am Alt-Werden oder am Frau-, bzw. Mann-Sein, was so sein muß, wie es ist. Wir alle könnten Maudes werden!
Wenn ich selbst der Versuchung zu erliegen drohe, wieder in herkömmliche Rollen-Vorstellungen zurückzufallen und sie auch als mein Los zu befürchten, mache ich die Wut-Mut-Übung. Ich kann sie jeder/m wärmstens empfehlen:
Ich stelle mir zunächst mein eigenes Alt-Werden entsprechend der herkömmlichen Altersrolle als Frau vor. Ich stelle mir also vor, wie meine Haut schrumpelig wird (wird sie jetzt schon) und daß ich mich deshalb häßlich fühlen soll. Ich stelle mir vor, wie ich zwar noch sexuell aktiv sein möchte, es mir aber verboten ist, solche Gefühle zu haben. Ich stelle mir vor, wie ich von anderen Menschen als alte Hexe angesehen werde, wenn ich berechtigte Wünsche äußere oder auf meine Diskriminierung als Frau hinweise (das passiert mir schon jetzt manchmal, wenn ich als Feministin auftrete!). Ich stelle mir vor, wie ich bei wirklicher Hilflosigkeit, z.B. Krankheit, von anderen Menschen als lebensunwert, weil alt, betrachtet werde. - Und dann kommt in mir die riesengroße Wut hoch über die Zumutung dieser Rolle!
Als Mann würde ich mir in der Wut-Übung zusätzlich vorstellen, wie ich meine Altersrolle so unerträglich finde, daß ich sie nicht wie die meisten Frauen geduldig ertragen kann, sondern stattdessen gleich sterben muß, wie es ja vielen Männern passiert. Und dann würde ich auch als Mann die große Wut empfinden, daß dies mein Los sein soll.
Das ist der Wut-Teil der Übung. Im Mut-Teil suche ich mir Modelle von Menschen, die diese unerfreuliche Frauen-Altersrolle nicht gelebt haben, sondern auch in hohem Alter geistig wach und lebensfroh geblieben sind, die würdig gestorben sind aus der Fülle eines reichen Lebens bis zum Schluß. Männer haben dafür viele Vorbilder, wir Frauen müssen sie mühsam suchen. Aber es gibt sie, nicht nur im Film.
Ich mache mir klar, daß mich nichts daran hindert, als Frau auf dieselbe Weise alt zu werden wie diese Vorbilder. Das einzige Hindernis wäre mein Glaube daran, daß die soziale Rolle der alten Frau, wie sie sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat, naturnotwendig sei. Ich sage mir dann mit fester Überzeugung: Sie ist es nicht!
Und um die Wut-Mut-Übung immer wieder mit Erfolg zuende zu bringen, sammele ich Modelle von Menschen. Nicht nur positive, auch negative. Eine Begegnung mit einem alten Menschen, besonders mit einer alten Frau, stellt für mich eine Herausforderung dar zu überprüfen, welche Reste von Vorstellungen über die "alte Hexe" immer noch in mir herumspuken. Ich frage mich, wo diese Vorstellungen herkommen, an welche Personen aus meiner Kindheit ich durch die Begegnung erinnert wurde. Und dann bemühe ich mich herauszufinden, weshalb dieser alte Mensch vor mir so geworden ist, wie er oder sie jetzt ist. Wenn es ein Mensch voller Resignation, Erstarrung, Verzweiflung ist, versuche ich zu erfahren, welche Vorstellungen dieser Mensch schon früher vom Alt-Sein mit sich herumschleppte. Denn dieses Bild ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Wer Angst davor hat, in den Augen der anderen eine "alte Hexe" zu werden, wird auch eine.
Vor allem aber sammle ich Begegnungen mit alten Menschen, die der herkömmlichen Rolle nicht entsprechen, die Maudes geworden sind. Ich versuche herauszufinden, welche anderen Modelle fürs Alt-Werden diese Menschen hatten. In meinem Beruf als Uni-Dozentin begegne ich gelegentlich Studenten, die noch älter sind als ich. Ich freue mich über jeden, der im Alter nochmal ein Studium anfängt und mit Begeisterung sich neuen Erfahrungen, auch zum Beispiel dem Umgang mit jungen Menschen, aussetzt. Menschen in helfenden Berufen, die viel mit Alten zu tun haben, kann ich die Wut-Mut-Übung sehr empfehlen, ebenso das Sammeln von Modellen von Alt-Werden. Obwohl man selbst noch nicht alt sein muß, wird man für die alten Menschen selbst zu einem Modell, bzw. man kann ihnen Alternativen zur herkömmlichen Alters-Rolle vermitteln.
Positive Modelle der alten Frau finde ich auch in der Vergangenheit. Die Hexe ist für mich beispielsweise inzwischen ein sehr attraktives Modell geworden, wenn ich an ihre magischen, heilenden Kräfte denke. Auch in nicht-patriarchalischen Kulturen der Gegenwart oder der Vergangenheit gibt es in Mythen und im realen Leben herrliche Figuren von starken, alten Frauen, die mit der Mutter Erde, oder der Großen Göttin, als Herrscherin über Leben und Tod in Verbindung sind.
Auf jeden Fall ist in meinen Augen die Knusperhexe im Märchen eine Erfindung aus der Zeit der Hexenverfolgungen. Ich meine, wir sollten das Märchen von Hänsel und Gretel und andere Märchen unseren Kindern nie erzählen, ohne ihnen dabei zu erklären, welch wunderbare Frauen die Hexen in der Zeit vor dem Christentum waren. Vielleicht sind ja Hänsel und Gretel zu der Frau im Wald gegangen, um sich von ihr über Empfängnisverhütung beraten zu lassen oder um Hilfe für ihre persönlichen Probleme zu bekommen, schließlich kamen sie aus ziemlich chaotischen Familienverhältnissen!
Und wenn wir die Hexe unbedingt als "böse" ansehen wollen, dann solten wir uns klarmachen, daß eine starke, alte Frau im Patriarchat gar nicht anders kann als böse und wütend zu werden, weil die Rolle, die man ihr zumutet, empörend ist. Gerade als Frauen sollten wir ihr und allen anderen Hexen im Märchen unsere volle Solidarität zuteil werden lassen.

http://www.mariannekruell.de/schriftstellerin/vt-alter.htm

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Die ultimative Dienstleistungsoffensive des Antifeminismus

Ein bisschen Frauenhass steht jedem Mann!

wikimannia statt femipedia

Liste Femanzen Dr. Marianne Krüll

Oberkellner @, Friday, 27.02.2015, 19:30 (vor 3610 Tagen) @ Oberkellner

1. EINSTIEG, FRAGESTELLUNG
Für viele Menschen innerhalb und außerhalb der Hochschulen gilt Wissenschaft auch heute noch als objektiv, neutral, über den Alltag erhaben. Der Wissenschaftler wird herangezogen als angeblich unparteiischer Begutachter von Phänomenen, über die wir alle eine Meinung haben, die Meinung eines Wissenschaftlers aber wird als unbestreitbar richtige Wahrheit anerkannt. Eine Frage wie der Titel meines Vortrags wird als unberechtigt, wenn nicht gar unverschämt abgelehnt. Das Geschlecht habe nun wirklich nichts mit wissenschaftlicher Erkenntnis zu tun, heißt es. Man läßt höchstens noch gelten, daß die Sozial- und Geisteswissenschaften stärker mit dem Thema "Gender" (soziale Geschlechtszugehörigkeit) befaßt sind als andere, vor allem die Naturwissenschaften. Doch generell die Wissenschaft als männlich zu bezeichnen, ist noch immer höchst ungewöhnlich (nicht nur wegen des Verstoßes gegen die Grammatik!)
Wie läßt es sich begründen, daß unsere Wissenschaften durchgängig - also nicht nur die Sozial- und Geisteswissenschaften - männlich ist?
2. MEIN WERDEGANG ZUR FEMINISTISCHEN WISSENSCHAFTLERIN
Lassen Sie mich dazu kurz meinen eigenen Werdegang und mein allmähliches feministisches Bewußtwerden darstellen: Auch ich selbst habe jahrelang als Wissenschaftlerin gearbeitet in der festen Überzeugung, daß meine Forschungen, meine Bücher und Artikel genauso gut von einem Mann stammen könnten. Es fiel mir zwar auf, daß ich mich - als Soziologin - am meisten für Themen interessierte, die mit der Familie, der Sozialisation zusammenhingen, während meine männlichen Kollegen (auch schon während des Studiums) mit Schichtung, mit Macht, mit Elitenforschung, Wirtschaftssoziologie befaßten. Die soziologischen Theorien der Klassiker (Max Weber, Emile Durkheim, Sigmund Freud) und auch der modernen Autoren (Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno) blieben mir immer irgendwie fremd. Ich verstand, was sie meinten, doch sprachen sie mich nicht wirklich an. Im Studium schob ich das auf mein mangelndes Wissen, doch auch später schwand mein Unbehagen nicht.
Ich bemerkte auch, daß z.B. in der Familiensoziologie ein seltsames Frauenbild vermittelt wurde, in dem ich mich nicht wiederfinden konnte.
- Frauen wurden auf "emotionale" Rolle in der Familie festgelegt, Männer auf die "instrumentelle" - ich fühlte mich als Berufsfrau mindestens ebenso für "instrumentelle" Aufgaben zuständig wie mein Ehemann.
- Die Familie, so hieß es, habe eine "Freizeitfunktion" - aber nicht für mich, denn in der Familie mußte ich den Haushalt führen, die Kinder versorgen, von "Freizeit" keine Spur!
- Mich ärgerte auch, daß wir als Frauen in der Schichtsoziologie grundsätzlich über den Mann zugeordnet wurden: Oberschicht, Mittel- oder Unterschicht-Angehörige waren wir, weil der Mann (Ehemann oder Vater) durch seinen Beruf dieser Schicht zugerechnet wurde.
- Partnerschaft zwischen Ehepartnern wurde gemessen am Entscheidungsverhalten: Wenn in einer Befragung angegeben wurde, daß beim Kauf eines Autos oder eines Kühlschrankes beide gemeinsam die Entscheidung trafen, galt die Ehe als "partnerschaftlich" - ich hatte an die Partnerschaft in meiner Ehe noch ganz andere Ansprüche!
- In der Sozialisationsforschung ging es um Leistungsmotivation, um schulischen Erfolg - für mich wenig bedeutsame Erziehungsziele, jedenfalls für unsere beiden Töchter, denen ich Liebes- und Beziehungsfähigkeit, Lebensfreude und Aufgeschlossenheit vermitteln wollte.
Aber ich begriff lange nicht, daß mein Unbehagen an der Soziologie in meinen Forschungsgebieten damit zusammenhing, daß alle diese Forschungen und Theorien von Männern durchgeführt und formuliert worden waren. Männer setzten Maßstäbe, die ihrem Lebenszusammenhang entsprachen. Ich als Frau, deren "Reich" ja angeblich die Familie ist, fand mich nicht wieder.
Erst durch die Frauenbewegung sind mir die Augen geöffnet worden, wie sehr meine Wissenschaft eine einseitige - männliche - Sicht der Welt widerspiegelt, welch enorme Lücken der Erkenntnis dadurch bestehen, daß Frauen als Subjekte der wissenschaftlichen Forschung bis auf wenige Ausnahmen nicht zur Sprache gekommen sind.
Es war für mich wie ein Damm, der plötzlich gebrochen war und mit einer gewaltigen Woge alles fortschwemmte, das bis dahin auch für mich noch unangefochten gültige Erkenntnis über gesellschaftliche Zusammenhänge gewesen war:
- Wie konnte es nur sein, daß wir die unentgeltliche Arbeit von Müttern und Hausfrauen als Nicht-Arbeit betrachtet hatten; daß alle ökonomischen Theorien (die bürgerlichen ebenso wie die marxistische!) Familien- und Hausarbeit als "Natur-Ressource" ansahen, ihren gesamtgesellschaftlichen Wert also vernachlässigten!
- Warum hatten wir die geschlechtsspezifische Sozialisation nur beschrieben, nie aber kritisch hinterfragt, was es denn für unsere erwachsene Gender-Identität bedeutet, schon als Baby von unserer Mutter und den anderen Bezugspersonen in unserer Umgebung völlig anders behandelt zu werden, je nachdem, ob wir ein Mädchen oder ein Junge sind?
- Wie konnte es sein, daß Gewalt in der Familie vollkommen ignoriert worden war! "Inzest" - so habe ich in meinem Studium in den 60er Jahren gelernt - kommt bei uns nicht vor, sondern nur in irgendwelchen Kulturen wie bei den Ägyptern. Daß sexuelle Übergriffe von Vätern oder anderen männlichen Verwandten an Mädchen und Frauen aber - wie wir nun wissen - allgegenwärtig ist, wurde von Soziologen nicht erkannt.
Ich begann nun auch, mein eigenes wissenschaftliches Tun durch die feministische Brille zu betrachten. Auf einmal wurde mir klar, daß meine Arbeit über Sigmund Freud die Perspektive einer Frau widerspiegelte (Krüll 1979). Ich hatte nämlich Freuds Kindheit erforscht, ihn sozusagen selbst auf die Couch gelegt und dabei entdeckt, daß eigentlich auch er, der große Sigmund Freud, immer noch ein kleines Kind geblieben war! Eine solche Sicht auf einen "großen" Mann ist aber offenbar für Männer ganz besonders schwer.
3. BEISPIELE FÜR LÜCKEN IN DEN WISSENSCHAFTEN
Nachdem ich begriffen hatte, daß meine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten von meinem Frau-Sein geprägt sind, war es nur noch ein kleiner Schritt, die Wissenschaft insgesamt auf ihre "Männlichkeit" hin zu beleuchten. Und vielen anderen Frauen ging es ebenso. Überall waren wir dabei, in unseren Wissenschaften die Lücken zu füllen, die durch das Fehlen der Frauenperspektive entstanden waren:
- In der Geschichtsforschung kommen Frauen kaum vor. Welche Rolle beispielsweise die Frauen in der Französischen Revolution gespielt haben, oder was Frauen zu den epochalen historischen Geistesströmungen, wie etwa der Aufklärung, beigetragen haben, ist in der androzentrischen Geschichtsschreibung, die nur von den "großen Männern" handelt, kein Thema. - Auch die gelegentliche Darstellung großer, historisch bedeutsamer weiblicher Persönlichkeiten entspringt einem Denkmodell, das Geschichte übermäßig personalisiert. Der feministische Blick in die Geschichte ist demgegenüber auf den spezifisch weiblichen, eigenständigen, oft auch widerständigen Beitrag gerichtet, den Frauen am gesellschaftlichen Geschehen des Alltags leisten (Annette Kuhn).
- Feministische Theologinnen haben darauf hingewiesen, daß die Vermännlichung des Gottesbildes zu einer "Vergottung" des Männlichen geführt hat (Mary Daly 1981). Sie entdeckten für uns nicht nur die wunderbaren Frauen in der Bibel, sondern gingen zurück in vorchristliche Zeiten und erschlossen uns matriarchale oder frauen-zentrierte Religionen, die dem Patriarchat vorausgingen.
- In den Literatur- und Kunstwissenschaften wurden die Werke von Frauen geflissentlich ignoriert oder bagatellisiert. Oft genug haben Männer sogar die Werke von Frauen als ihre eigenen ausgegeben, was erst von Wissenschaftlerinnen aufgedeckt wurde.
- In der Musikwissenschaft wurden Komponistinnen wie Fanny Mendelssohn wiederentdeckt, ihre Werke, die nicht einmal gedruckt worden waren, zum erstenmal aufgeführt.
- Die Psychologie legt Kriterien zur Persönlichkeits- oder Verhaltensbeurteilung fest, die männlichen Normen entsprechen und zum Maßstab der Bewertung von Frauen benutzt werden, die dadurch als "normabweichend" deklariert werden konnten (Phyllis Chesler 1977).
- In der Medizin - und zwar nicht nur in der Gynäkologie und Geburtshilfe, sondern auch in der Allgemeinmedizin und in vielen anderen medizinischen Bereichen, insbesondere in der Psychiatrie - ist die Frau als Patientin und Objekt der Forschung im wahrsten Sinne des Wortes den Männern ausgeliefert. Wie menschenverachtend das medizinische Feld und Umfeld geworden ist, erleben wir zur Zeit am Skandal um die AIDS-verseuchten Blutkonserven. Verantwortlich sind Männer, denn nur sie sind in der Medizin - wie überall - Verantwortungsträger.
- Die Biologie spiegelt in allen ihren Teilbereichen eine männliche Sicht der Lebewesen wider. Selbst die für allgemeingültig gehaltene Evolutionstheorie Darwins entpuppt sich in feministischer Betrachtung als eine "Evolution des Männlichen" (Ruth Hubbard 1979, Nancy Tanner 1981).
- Und auch die Technik, sowie ihre naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer: Physik, Chemie und Mathematik gründen auf einem männlich-verzerrten Welt- und Menschenbild. Hier sind noch weniger Frauen als in den anderen Wissenschaften forschend tätig. Wie sehr diese Verzerrungen unser aller Leben beeinflussen, wird meist erst im Einsatz naturwissenschaftlicher Forschung für militärische, d.h. extrem patriarchale Zwecke bewußt. Alle Bereiche unseres Lebens sind von Männern geformt, wir Frauen sind nirgendwo maßgeblich bei den Weichenstellungen beteiligt. Stadtplanung, Raumplanung, Verkehrsplanung, Bauwesen - sind mehr oder weniger "Frauen-frei", unsere Bedürfnisse bleiben unbeachtet. Nur nachher, wenn die Katastrophen eingetreten sind, haben wir überproportional an den Folgen zu tragen, Eine feministische Kritik der Naturwissenschaften ist daher ganz besonders notwendig und wichtig.
- Ein besonders wichtiger Bereich, der quer durch alle Wissenschaften läuft, ist die Sprache. Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz waren die ersten, die darauf aufmerksam gemacht haben, wie durchgängig Frauen durch unsere Sprache unsichtbar gemacht werden. Berufsbezeichnungen, Personbezeichnungen in männlicher Form sollen angeblich uns Frauen "mit-meinen". Doch sind wir sicherlich nicht gemeint, wenn es heißt: "Die Deutschen verbringen ihren Urlaub mit Frau und Kind vorzugsweise im Inland." Als Frauen sollten wir sehr sorgfältig darauf achten, uns selbst nicht zu Männern zu machen. "Einer muß mal Protokoll führen..." wenn wir nur unter Frauen sind! - Sexistische, d.h. Frauen herabwürdigende Sprache wird überall - auch in der Wissenschaft - verwendet.
Mit der feministischen Brille auf der Nase war es unübersehbar: Frauen und ihre Lebensreiche werden in der Wissenschaft ignoriert, Frauen kommen als Subjekte der Wissenschaft kaum und als Objekte der Wissenschaft in männlicher Perspektive verzerrt vor.
4. GRÜNDE FÜR DIE MÄNNLICHKEIT DER WISSENSCHAFTEN
Der wichtigste Grund für die Männlichkeit der Wissenschaften ist selbstverständlich, daß es nicht genügend Wissenschaftlerinnen gab und gibt. Erst seit 1910 konnten Frauen überhaupt an deutschen Universitäten studieren. Aber bis heute sind sämtliche Fächer, auch die von Frauen bevorzugten, von Männern geleitet. Der Frauenanteil unter den Professoren liegt unverändert unter 5 %. Und dies, obwohl es inzwischen genügend qualifizierte Wissenschaftlerinnen gibt. Die Tendenz ist nicht zunehmend, sondern eher fallend, da mit knappen Kassen Frauen wieder eher an den Herd zurückgedrängt werden!
Beim Ausschluß der Frauen aus der Wissenschaft wirken allerdings noch sehr entscheidende Faktoren mit, die Männer grundsätzlich ignorieren:
Eine Frau, die in der Wissenschaft eine Karriere machen will, hat keinen "Hausmann" daheim, der ihr alles lästigen Dinge, wie Kinder betreuen, Kochen, Wäsche waschen abnimmt, wie dies jedem Mann in gleicher Situation wie selbstverständlich zusteht. Eine Frau muß eine Enscheidung fällen: Kinder oder Karriere. Für einen Mann sind Kinder (und die dazugehörige Frau) dagegen geradezu Karriere-fördernd, denn er muß ja, um sie zu ernähren, Geld verdienen!
Wenn Frauen beides wollen - und das wollen die meisten -, dann müssen sie unglaubliche psychische und physische Belastungen auf sich nehmen. Selbst wenn der Mann mitzieht und die Hälfte der Kinder- und Hausarbeit übernimmt, hat sie nie die ideale Situation wie der normale Karriere-Mann mit der nicht erwerbstätigen Ehefrau daheim.
Jede Frau, die eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebt, müßte also einen großen Bonus bekommen, um diese Hindernisse auszugleichen. Doch eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Für sie gelten dieselben Altersgrenzen zur Erlangung von Stellen, sie werden von Professoren entmutigt, sich weiter zu qualifizieren, weil "ihre Chancen ja so gering sind, Professorin zu werden" usw.
Vor allem werden Frauen systematisch aus der Wissenschaft herausgedrängt, wenn sie sich mit Frauenthemen befassen. Diese gelten nicht als "wissenschaftlich", weil "parteiisch". Daß alle Themen, die Männer behandeln, ebenso "parteiisch" eine Männerperspektive wiedergeben, wird nicht anerkannt. Wissenschaft sei "geschlechtsneutral", auch wenn inzwischen umfangreiche Forschungen vorliegen, die dies als eine Täuschung belegen.
Und damit kommen wir zu einem - vielleicht dem wichtigsten - Grund für die fehlende Präsenz von Frauen in der Wissenschaft: Es geht auch in der Wissenschaft, wie in allen übrigen Bereichen unserer Gesellschaft um die Erhaltung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern: Die Wissenschaft ist eine Domäne der Macht-Erhaltung für Männer. Hier werden die Theorien entwickelt, hier wird empirisch geforscht und in Praxis umgesetzt, was Männern dient! Und ihnen dient vor allem die Frau! Wenn Frauen in diese von Männern beherrschte Domäne eindringen, wenn Frauen Macht-Positionen in der Wissenschaft einnehmen wollen, sich nicht mehr mit dienenden Hilfsjobs zufriedengeben wollen, ist Männermacht bedroht.
Mehr noch: Fast jeder Karriere-Mann hat daheim eine Partnerin, die seine Karriere stützt (meist auch noch eine Sekretärin, eine Assistentin, um ihn im Berufsleben zu unterstützen). Würde er zulassen, daß Frauen ihm im Beruf Konkurrenz machen, könnte sich auch in seinem privaten Bereich Grundsätzliches ändern.
Und noch weitergehend wäre dadurch gesamtgesellschaftlich die Vorherrschaft der Männer infragegestellt. Denn mit der feministischen Brille können wir erkennen, daß Gender eine grundsätzliche Strukturkategorie unserer Gesellschaft ist, bedeutender als Klasse, Schicht, ethnische Zugehörigkeit.
Wir haben einen nach dem Geschlecht geteilten Arbeitsmarkt, der bestimmte Berufe als "weiblich" und andere - immer die höher angesehenen! - als "männlich" definiert. Wissenschaftliche Berufe gehören wie selbstverständlich zur "männlichen" Domäne.
Aber auch innerhalb der Berufszweige sind die Hierarchien so strukturiert, daß oben an der Spitze Männer fast allein herrschen, also die Macht innehaben. Auch dies ist im Wissenschaftsbetrieb überdeutlich zu erkennen.
Unsere patriarchale oder Männer-dominierte Gesellschaft würde zusammenbrechen, wenn sich die Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern zugunsten der Frauen verändern würden. Feministische Forscherinnen besonders in den Sozialwissenschaften haben dies anhand von detaillierten Analysen belegt.
So ist zu verstehen, daß Männer mit geradezu verrückten, irrationalen Argumenten alles versuchen, um Frauen weiterhin von Positionen der Macht, eben auch aus der Wissenschaft auszuschließen. Diese Argumente werden von ihnen als "wissenschaftlich", d.h. unanfechtbar, weil objektiv präsentiert.
Als feministische Wissenschaftlerinnen müssen wir uns daher auch damit auseinandersetzen, wie "Wissenschaft" von Männern definiert wird. In der ersten Frauenbewegung im 19. Jh. waren Frauen nur darauf bedacht, Bildung für Frauen zu fordern, in der Erwartung, dadurch Gleichberechtigung zu erlangen. Innerhalb der von Männern dominierten Bildungs-Institutionen ist dies jedoch nicht zu erreichen, wie wir alle heute feststellen müssen.
Es ist auch nicht mehr genug, wie in den Anfängen feministischer Wissenschaft der 60er und 70er Jahre unseres Jh., nur auf die Lücken der Forschung und Theoriebildung hinzuweisen und diese Lücken durch eigene Arbeiten aufzufüllen. Die Hoffnung, daß sich dadurch bei den männlichen Kollegen eine Einsicht in die Notwendigkeit und Bedeutung der Frauenforschung ergeben würde, hat sich nicht erfüllt. Viele von uns - ich eingeschlossen - haben anfangs auf die Einsicht gesetzt, haben gehofft, innerhalb der bestehenden Wissenschaften eine Erneuerung zu erreichen. Doch wir haben die Machtfrage nicht ernst genug genommen, haben die Brisanz unserer Forderungen in bezug auf das gesamtgesellschaftliche Geschlechterverhältnis verkannt.
Man könnte sagen, daß sich die feministische Frauenforschung seit Anfang oder Mitte der 80er Jahre in ihrer zweiten Phase befindet. Ich möchte dies am Beispiel der feministischen Kritik an den Grundfesten der Wissenschaft, nämlich den Vorstellungen von "Objektivität", "Rationalität", "Wertneutralität" und dem Anspruch auf "Wahrheit" wissenschaftlicher Erkenntnis, erläutern.
Ich möchte dabei betonen, daß es die feministische Wissenschaft nicht gibt, daß auch auf der erkenntnistheoretischen Ebene viele Ansätze entwickelt wurden, die ich hier nicht in ihren Unterschieden darstellen kann (vgl. Krüll 1990).
(1) Objektivität der Wissenschaft meint im allgemeinen eine Trennung von Forscher und Forschungsgegenstand. Nur so sei eine über das subjektive Verstehen verallgemeinerbare Erkenntnis möglich. Wer das behauptet, verleugnet sich als Person, meist mit dem Ziel, die eigenen Absichten zu verschleiern, bzw. Verantwortung für das eigene Tun abzugeben. Wenn Männer meinen, "objektiv" zu sein, dann stellen sie ihre Sicht als die einzige, eben "objektive" dar, eine andere Sicht - etwa die von Frauen - wird damit von ihnen für nicht legitim, für unwissenschaftlich erklärt.
Feministische Wissenschaft geht von einer Einheit von ForscherIn und Erforschem aus. Evelyn F. Keller plädiert beispielsweise für eine "dynamische Objektivität", die sie definiert als
"das Streben nach einem Höchstmaß an echtem Verständnis der Welt um uns, einem Verständnis, das auf einem Gefühl von Verbundenheit zwischen Geist und Natur beruht. ... Dynamische Objektivität erlaubt uns, daß wir uns bewußt mit dem Gegenstand unserer Forschung als Subjekt identifizieren - was nach einigen Wissenschaftlern sogar mit Chromosomen und Elektronen möglich ist. ... Dynamische Objektivität ist das Streben nach einem Wissen, das sich der subjektiven Erfharung bedient, um größere Objektivität zu erlangen. Auf der Grundlage der Gleichartigkeit und Kontinuität sucht dynamische Objektivität die Verwandtschaft, die aus der Anerkennung der Verschiedenartigkeit erwächst. Es ist eine Form der Beachtung und Achtung der Welt der Natur, die der (idealen) Achtung für die menschliche Welt entspricht, sie ist eine Form der Liebe. Die Fähigkeit, solche Achtung zu empfinden, erfordert - ebenso wie die Fähigkeit zu Liebe und Empathie - die Verschiedenartigkeit als auchdie Gleichartigkeit zu tolerieren: sie erfordert dynamische Autonomie." (Keller 1983, S. 20, Übers. M.K.)
Dynamische Objektivität erfordert Liebe, Ehrfurcht und Verantwortung der/s ForscherIn für das Erforschte. Diese Haltung bringt eine behutsame und respektvolle Behandlung des Forschungsobjekts mit sich, es ist die Form von Fürsorge und Einfühlungsfähigkeit, die - abgespalten - nur der Frauenwelt zugeschrieben wird, die aber in die Wissenschaft hineingehört, wenn nicht weiter Menschenfeindlichkeit, Gewalt und Destruktion unsere Welt, auch die der Wissenschaft, beherrschen sollen.
JedeR von uns kann in ihrem/seinen Fachgebiete Beispiele finden, wie dynamische Objektivität anzuwenden wäre. In meinem Fach, der Soziologie,könnte sich mein Respekt für die Person, die Gruppe, die Institution, die Gesellschaft, die ich betrachten und untersuchen will, in vielfältiger Weise zeigen: In meiner Sprache, in meinen Methoden, in der Interprettion und Anwendung meiner Forschungsergebnisse. Und es kann sogar einmal sein, daß ich gar nichts untersuche, weil meine Untersuchung den Betroffenen Schaden bringen könnte. Ich kann auch auf meine wissenschaftlichen Erkenntnisse verzichten für ein höheres Ziel, das der Menschenfreundlichkeit.
Am Beispiel von Barbara McClintock, einer amerikanischen Gen-Forscherin, zeigt Evelyn Fox Keller auf, daß und wie es möglich ist, eine Trennung von Subjekt und Objekt in der Wissenschaft aufzuheben. In den vierziger Jahren führte Barbara McClintock genetische Forschungen an Maispflanzen durch. An den unterschiedlichen Verfärbungen der Maiskörner ermittelte sie die jeweiligen Erbgänge. Dabei interessierte sie sich für die Ausnahmen, für unerwartete Färbungen der Maiskörner, also für die nicht Regel-gerechten Ergebnisse ihrer Züchtungen, und suchte zu verstehen, welche Regelmäßigkeit diesen Unregelmäßigkeiten zugrundelag. Sie ging davon aus, daß die Natur nicht durch ein einziges Kausalgesetz zu erfassen ist, weil die menschliche Fähigkeit zur Herstellung von Ordnung nicht ausreicht, um die Ordnung der Natur zu begreifen. Sie näherte sich einer Pflanze, einem Maiskorn, einem Chromosom, als einem einzigartigen Organismus, in dem sich die unendliche Vielfalt der Natur manifestiert, von der sie sich, als menschliches Wesen, ebenfalls als ein Teil empfand. Evelyn Fox Keller zitiert Barbara McClintocks Beschreibung ihres Herangehens bei der Zellanalyse:
"Ich hatte das Gefühl, je mehr ich mich mit ihnen beschäftigte, desto größer und größer wurden die Chromosomen, und wenn ich wirklich mit ihnen arbeitete, dann war (...) ich ein Teil des Systems. Ich war dort drinnen bei ihnen und alles wurde groß. (...) Ich war überrascht, weil ich wirklich das Gefühl hatte, mitten drin zu sein, und da waren meine Freunde...Wenn man diese Dinge betrachtet, werden sie ein Teil von dir. Und du vergißt dich selbst." (Evelyn Fox Keller 1986, S. 177 f.)
Mit dieser wissenschaftlichen Grundeinstellung suchte Barbara McClintock nach einer genetischen Erklärung für die Unregelmäßigkeiten bei der Verfärbung ihrer Maiskörner. Sie entwickelte die Theorie der "genetischen Transposition", die besagt, daß die Anordnung der Gene auf dem Chromosom nicht unveränderlich ist, sondern daß Gene durch unvorhersehbare Außeneinflüsse von einer Stelle auf dem Chromosom zu einer anderen springen können. Anders als ihre Kollegen, die Gen-Forscher James Watson und Francis Crick, die zur gleichen Zeit mit ihrer Entdeckung der Doppel-Helix-Struktur der DNS meinten, "das Geheimnis des Lebens" entschleiert zu haben, wurde durch Barbara McClintocks Theorie die Rätselhaftigkeit der Natur sogar noch größer. Denn welche Einflüsse die Transposition der Gene bewirken, ist nicht bekannt (Evelyn Fox Keller 1986, Kap. 9). Doch bezeichnenderweise erlangten Watson und Crick höchste Anerkennung in der Öffentlichkeit, während Barbara McClintock mit ihrer Entdeckung eine Außenseiterin blieb. Zwar wurde auch sie Jahre später für ihre Theorie der genetischen Transposition, die inzwischen allgemein anerkannt wird, mit den Nobelpreis geehrt, doch ist sie mit ihrer Entdeckung auch heute nahezu unbekannt.
Evelyn Fox Keller macht an diesem Beispiel deutlich, daß mit der dynamischen Objektivität auch die Hybris (männlicher) Wissenschaft, alles erfassen, beschreiben und damit manipulieren zu können, überwunden wird. Daß sie dies am Beispiel der Genforschung darstellt, die in besonderem Maße für die Menschheit bedrohlich zu werden scheint, ist kein Zufall.
(2) "Rationalität" der Wissenschaft bedeutet in traditionellem Verständnis, daß wissenschaftliches Tun durch nüchterne, vernunftgeleitete Sachbezogenheit gekennzeichnet sei, während Emotionalität als "Irrationalität" angeblich in der Wissenschaft nichts zu suchen hat. Bemerkenswert ist dabei, daß die beiden Polaritäten wieder einmal mit den stereotypen Vorstellungen von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit übereinstimmen. Die Schlußfolgerung nämlich, daß Frauen - weil "emotionaler" als Männer - nicht als Wissenschaftlerinnen taugen, ist bis in die Gegenwart hinein ein gängiges Vorurteil.
Bei genauem Hinsehen jedoch entpuppt sich die "Rationalität" von WissenschaftlerInnen als eine nach außen präsentierte Fassade, hinter der Gefühle, wie Angst, Unsicherheit, aber auch Selbstherrlichkeit und Größenwahn verborgen sind. So ist es beispielsweise sehr auffällig, wie gefühlsbetont und wie wenig "rational" gerade in der Wissenschaft argumentiert wird, wenn die angebliche "Rationalität" verteidigt werden soll. Der Schein der "Rationalität" verdeckt die subjektive (männliche) Interessengeleitetheit wissenschaftlichen Tuns, verschleiert die "Irrationalität" einer Wissenschaft, die sich der Verantwortung für die Ergebnisse ihrer Theorien und Forschungsergebnisse zu entziehen versucht.
Frauen fühlen sich nicht zuletzt auch deshalb häufig von der Wissenschaft abgestoßen oder zumindest sich nicht zu den "harten", z.B. den technischen Wissenschaften hingezogen, weil sie die Aufspaltung ihrer Person in einen rational-vernünftigen und in einen emotional-sinnlichen Teil nicht mitvollziehen wollen. Daß Frauen "weiche" Studienfächer bevorzugen, in denen diese Trennung nicht so extrem gefordert ist - etwa in den Sozial- und Geisteswissenschaften - läßt sich unter anderem so erklären. Wenn Frauen sich der männlichen Wissenschaft angepaßt haben, und meinen, das Geschlecht spiele in ihrer Wissenschaft oder in der Art, wie sie Wissenschaft betreiben, keine Rolle, dann müssen sie sich doppelt verleugnen: Als Person, die, weil sie sich als "rational" definiert, ihre Gefühle, Sinne, ihre Körperlichkeit verdrängen muß (was auch Männern abgefordert wird), und als Frau, die ihren eigenen Lebenszusammenhang als Frau in dieser Gesellschaft nicht mehr wahrnimmt und sich auch in ihrem wissenschaftlichen Tun dafür die Augen verschließt.
(3) Die "Wertfreiheit" und die "universelle Gültigkeit" der Wissenschaft erscheint in feministischer Perspektive ebenfalls als ein Versuch der Verschleierung handfester männlicher Parteilichkeit. Denn wissenschaftliche Forschung ist immer parteilich, kann sich nie aus den sozialen Kontexten lösen, in denen sie entsteht und auf die sie zurückwirkt. Dies wird zwar von vielen männlichen Wissenschaftstheoretikern in Vergangenheit und Gegenwart nicht bestritten. Es ist allerdings erstaunlich, daß erst Feministinnen darauf hingewiesen haben, in welch entscheidendem Maße Erkenntnis von der Geschlechtszugehörigkeit der/des Wissenschaftlerin/s bestimmt ist. Die Wissenschaft, wie wir sie kennen, ist aus einer Gleichsetzung von Natur und Frau hervorgegangen, die beide vom Mann gezähmt und unterworfen werden sollten. "Mutter Natur" wurde in der Bildersprache von Francis Bacon, zum "unbändig rasenden Weib", das man durch menschliche Kunst binden,"gänzlich umkehren, verwandeln und in ihrem Innersten erschüttern solle" (Bacon nach Schaeffer-Hegel, 1988, S. 5). Der Natur sollte der "Schleier entrissen" werden, um dem männlichen Willen und seiner Kontrolle zu gehorchen. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die im 16. Jahrhundert beginnende Verfolgung und Vernichtung der Hexen mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft einhergingen:
"(...) die Scheiterhaufen der brennenden Frauen wurden nicht zuletzt von dem Geist (angefacht), der sich zu den modernen Naturwissenschaften entfalten sollte. Es blieb den Ahnherren der neuzeitlichen Wissenschaften vorbehalten, Natur zu einer tobenden Megäre zu deklassieren, die es zu bändigen galt, und im gleichen Zuge die Frau zu einer Selbst-losen Naturressource zu degradieren, die als zwar notwendige, aber auch selbstverständliche Gegebenheit dem männlichen Streben zur Verfügung stehen sollte." (Barbara Schaeffer-Hegel 1988, S. 6).
Doch es ist nicht notwendig, zu den Anfängen der Wissenschaft zurückzukehren, um die frauenfeindliche Metaphorik im wissenschaftlichen Diskurs zu entdecken, der alles andere als "wertfrei" oder "wertneutral" ist. Nicht nur fehlt in den großen, von Männern geführten wissenschaftstheoretischen Debatten von Max Weber bis Niklas Luhmann eine Reflexion über ihre eigene Wertbezogenheit als männliches Gesellschaftswesen, es zeigt sich auch eine weitgehende Unfähigkeit, sich in die Position von Frauen zu versetzen, wenn sie zu Themen der Geschlechterdifferenz Stellung nehmen.
Demgegenüber fordern feministische Wissenschaftlerinnen eine "bewußte Parteilichkeit" (Maria Mies 1984a), die Forschungsobjekt und Forschungssubjekt in einen umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang, eben den des Patriarchats, stellt. Ziel feministischer Parteilichkeit ist es unter anderem, die einseitig männliche Sicht in der Wissenschaft aufzudecken und ihren Universalismus-Anspruch infragezustellen. Denn wenn sich hinter der vermeintlichen Wertneutralität massive frauenfeindliche Tendenzen verstecken, ist Wissenschaft nicht "universal", sondern "männlich".
5. GRUNDSÄTZE FEMINISTISCHER WISSENSCHAFT
Aus der hier nur sehr verkürzt dargestellten feministischen Kritik am traditionellen Wissenschaftsverständnis ergeben sich - ebenfalls in äußerster Kürze zusammengefaßt - einige Grundsätze feministischer Wissenschaft:
(1) Überwindung des Androzentrismus, d.h. der Männerzentriertheit der Wissenschaft, deren angeblich geschlechtsneutrale Begriffe, Theorien, Denkmuster und Methoden einseitig auf das Lebensspektrum von Männern hin orientiert und konzentriert sind. Sandra Harding formuliert es so:
"Wenn Frauen systematisch von der Planung und Durchführung wissenschaftlicher Projekte ausgeschlossen werden und ihre Arbeit abgewertet wird, dann ist der personenbezogene Status innerhalb der Wissenschaft ebensowenig wertfrei, objektiv und unvoreingenommen wie die Bewertung der Forschungsresultate, und dergleichen scheint auch gar nicht vorgesehen zu sein. Statt dessen steht dieser Diskurs der Wertfreiheit, Objektivität und sozialer Unvoreingenommenheit offensichtlich eher im Dienst gesellschaftlicher Kontrolle. Eine Institution, die beharrlich darauf verweist, daß sie solche Ziele bereits erreicht habe, bedient sich eines machtvollen rhetorischen Instruments, um ihren eigenen Einseitigkeiten eine Grundlage zu verschaffen, die durch eine gleichermaßen einseitige Gesetzgebung und Öffentlichkeit abgesegnet werden kann." (Sandra Harding 1990, S. 69).
Solange männliche Lebensmuster und Denkweisen zum Leitbild für ein wissenschaftliches Schaffen gemacht werden, kann Wissenschaft nicht den Anspruch erheben, für und über "die Menschen" und die Allgemeinheit zu sprechen und zu urteilen.
(2) Konsequente Anwendung der Gender-Perspektive in allen Aspekten wissenschaftlichen Tuns heißt, das Geschlecht als soziale Strukturkategorie zu betrachten. Nicht nur die realen Lebensbedingungen von Frauen und Männern sind damit gemeint, sondern auch die Denksysteme, in die wir hineingeboren werden, die wir uns aneignen und damit bestätigen, die wir aber auch in kritischer Auseinandersetzung verändern können. Gerade in der Wissenschaft sind wir aufgerufen, die gegebenen Geschlechterverhältnisse zu reflektieren, und zwar sowohl bezogen auf die Forschungs"objekte" - die insbesondere in den Sozialwissenschaften weibliche oder männliche Subjekte sind! -, als auch bezogen auf unsere eigene Gender-Zugehörigkeit als Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler.
(3) Die Forderung der Emanzipation der Frauen und damit der Überwindung der bestehenden patriarchalen Verhältnisse heißt, daß sich Frauen aus einem Zustand der existentiellen und rechtlichen Abhängigkeit vom Ehemann, vom "Patriarchat im Kleinen", aber auch aus den einengenden, biologistisch begründeten Rollenzuschreibungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext befreien müssen. Dies ist ein zentrales Thema feministisch-wissenschaftlicher - insbesondere sozialwissenschaftlicher - Forschung und Theoriebildung. Ob die Frauenemanzipation durch "Gleichheit", d.h. durch Anpassung an die Lebens- und Verhaltensweisen von Männern zu erreichen ist oder eher durch Betonung ihrer "Differenz", ist allerdings ein heißumstrittenes Thema im feministischen Theorie-Diskurs. Theoretikerinnen der "Gleichheit" streben eine Aufhebung der Unterschiede zwischen Frauen und Männern im Denken und Handeln an und fordern egalitäre Verhältnisse hier und jetzt. Bestehende Unterschiede werden auf soziale, und das heißt aufhebbare, politisch abzuschaffende Zusammenhänge zurückgeführt. "Differenz"-Theoretikerinnen dagegen akzeptieren die sozialen Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die sie teilweise oder weitgehend auf biologische Unterschiede zurückführen. Sie verlangen jedoch, daß die negative Bewertung des "Weiblichen" aufgehoben wird. Die Einbeziehung "weiblicher" Werte auch in der Wissenschaft wird hier als Weg feministischer Emanzipation angesehen.
(4) Parteilichkeit und persönliche Betroffenheit bleiben die Grundlagen der Frauenforschung: Wir Frauen erfahren buchstäblich am eigenen Leibe, was es heißt, wenn das "Weibliche" in allen Bereichen wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung vernachlässigt oder wie selbstverständlich für die Interessen der Männer vereinnahmt wird. Wir wissen daher, wie sich Frauendiskriminierung "anfühlt". Das macht uns als Wissenschaftlerinnen potentiell (nicht automatisch!) sensibler und offener für die Erkundung ähnlicher Diskriminierungen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß der weibliche Lebenszusammenhang ein anderer ist als der von Männern, während Männer davon ausgehen, daß ihrer "universell" ist. Frauen bereichern die Forschung um Themen, die bislang nicht behandelt wurden. Sie wählen bevorzugt Forschungsbereiche, die ihre eigene Situation und die anderer Frauen betreffen, mit dem Ziel, sie zu verbessern.
Parteilichkeit und Betroffenheit kann aber - in der Meinung einer wachsenden Zahl von Feministinnen - nicht heißen, daß feministische Wissenschaftlerinnen unreflektiert eigene Lebenserfahrungen auf alle Frauen übertragen, so als gäbe es zwischen Frauen verschiedener Schichten, Völker, Rassen usw. keine Unterschiede. Vor allen geht es um eine differenziertere, nicht nur verunglimpfende Betrachtung derjenigen Frauen, die sich (noch) nicht der Frauenbewegung zugehörig fühlen, und uns sogar als "Mittäterinnen" des Patriarchats (Christina Thürmer-Rohr) in den Rücken fallen.
(5) Die Verbindung zur Autonomen Frauenbewegung und der Bezug zur Praxis ist und bleibt Basis feministischer Wissenschaft. Betroffenheit und Parteilichkeit bedingen eine Rückbindung von Frauenforschungsaktivitäten an die Praxis und damit an die politische Frauenbewegung. Frauenforschung und Theoriebildung ist zu einem Arbeitsfeld geworden, das sich durch die kontinuierliche Diskussion mit Frauen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Praxisfeldern immer wieder unter Beweis stellen muß. Sie empfängt und liefert Impulse aus und für die Frauenbewegung. Eine Wissenschaft "im Elfenbeinturm" ist nicht feministisch.
(6) Daraus ergibt sich zwingend die Interdisziplinarität der Frauenforschung: Wer nach den Ursachen von Gewalt gegenüber Frauen fragt, wer Frauen, die sich aus familiären oder beruflichen Abhängigkeiten lösen wollen, Hilfestellung leisten will, muß Erklärungen liefern, die die Grenzen der engen, hochspezialisierten Einzelwissenschaften überschreiten. Die außerordentliche Befruchtung, die sich gerade in der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen verschiedenster Fachgebiete für die gesamte Wissenschaft ergeben, sind bislang noch keineswegs gebührend gewürdigt worden.
(7) Frauenforschung kann - jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt - keine Männerforschung sein. Frauen forschen zwar über Männer, indem sie etwa die Geschlechterverhältnisse thematisieren, doch haben Männer als Forschende in der feministischen Wissenschaft keinen Platz. Ein Mann kann kein "Feminist" sein. Forderungen von Männern in dieser Richtung laufen bei näherer Betrachtung immer wieder auf eine Vereinnahmung der Frauenforschung für ihre Interessen hinaus. Das soll nicht ausschließen, daß sich Männer auf der Grundlage einer Patriarchatskritik ihrem eigenen Geschlecht forschend zuwenden und dabei Erkenntnisse feministischer Wissenschaft heranziehen.
6. SCHLUSS
Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, um dahin zu gelangen, wo männliche Wissenschaft behauptet, heute schon zu sein: bei einer gender-neutralen Wissenschaft - besser: bei einer Wissenschaft, in der beide - die Frauen- und die Männerwelt gleichwertig und in gleichem Maße erforscht wird. Dazu müssen Frauen in der Wissenschaft ihre Stimme erheben. Wir müssen "Definitionsmacht" erlangen, damit nicht weiterhin Männer über uns und unsere Welt bestimmen, damit nicht weiterhin Männer unsere Welt zerstören!
Ich wünsche Ihnen hier in Augsburg viel Erfolg dabei!

http://www.mariannekruell.de/schriftstellerin/vt-wiss-maennl.htm

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