Wenn der Mensch zur MenschIn wird - oder:

Wieviel »Gleichberechtigung« verträgt das Land?

How much »equality« the country can stand?

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Liste Femanzen Hannah Beitzer (Liste Femanzen)

Oberkellner @, Friday, 27.02.2015, 19:35 (vor 3563 Tagen)

F376 Hannah Beitzer – geboren am 11.10.1982 in München – Studium der Sprachen u.a. Russisch, der Wirtschaft und des Kulturraumes in Passau und Kazan (Russland) – Volontariat bei der Süddeutschen Zeitung - freie Journalistin – Fachgebiete: Russland, Piraten und Digitales – Buchveröffentlichungen: Individualismus statt Kollektivismus? VDM Verlag Dr. Müller, 2009; Wir wollen nicht unsere Eltern wählen. Polaris Verlag, 2013 - http://hannah-beitzer.de – Anschrift: Lanzstr. 20/Eingang 18b, 80689 München – info@hannah-beitzer.de - http://www.information.dk/sites/information.dk/files/styles/407x/public/media/2014/04/30/2014/04/30/20140430-120336-399505.jpg?itok=UiyTC-Sc

Anne Wizorek alias @marthadear hat dem Netzfeminismus ein Gesicht gegeben. Ihre Kritiker finden sie und ihre Twitter-Kampagne #Aufschrei humorlos und hysterisch. Dabei hat sie eine längst fällige Debatte angestoßen - und vor allem dem Feminismus in Deutschland einen entscheidenden Schubs verpasst.
Anne Wizorek alias @marthadear hat dem Netzfeminismus ein Gesicht gegeben. Ihre Kritiker finden sie und ihre Twitter-Kampagne #Aufschrei humorlos und hysterisch. Dabei hat sie eine längst fällige Debatte angestoßen - und vor allem dem Feminismus in Deutschland einen entscheidenden Schubs verpasst.

Von Hannah Beitzer, Berlin
Da sind diese Männer, die Anne Wizorek jetzt schreiben: Danke, endlich habe ich verstanden, was das soll, mit diesem Feminismus. Außerdem sind da Frauen, die erzählen, dass sie jetzt über Dinge sprächen, die sie sich zuvor nicht getraut hätten zu erzählen. Anne Wizorek, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter bekannt als @marthadear, lächelt ihr zurückgenommenes Lächeln, wenn sie von den Reaktionen auf die Aktion erzählt, die sie zum Gesicht eines neuen, jungen Feminismus gemacht hat: Unter dem Kennwort #Aufschrei sammelte sie mit einigen Freundinnen Berichte von Frauen über den alltäglichen Sexismus in Deutschland.
Auslöser war ein Artikel einer Stern-Journalistin, in dem diese über eine Begegnung mit dem FDP-Spitzenkandidaten Rainer Brüderle, 67, schrieb, bei der sich der Politiker der 29 Jahre alten Reporterin mit zweideutigen Anspielungen und Berührungen näherte. Wizorek erkannte, dass in dem Artikel mehr steckt als nur ein politisches Skandälchen. Dass er Anstoß sein könnte für eine Debatte über die Frage, die in Deutschland im Jahr 2013 immer noch nicht gelöst ist: Wie sollen und wollen Frauen und Männer miteinander umgehen?
Der Feminismus regt sich schon seit einigen Monaten wieder ganz gewaltig. Quotendebatten, der Streit ums Betreuungsgeld und jetzt eben #Aufschrei. Es sind viele alte Fragen, die auftauchten: Warum bleibt in so vielen Familien immer noch die Mama daheim und der Papa schuftet sich buckelig? Warum gibt es immer noch so viele Chefs und so wenige Chefinnen? Und warum, verdammt nochmal, müssen sich Frauen immer noch anhören, sie sollen halt keine kurzen Röcke anziehen, wenn sie nicht angegrabscht werden wollen?
Im Netz gibt es eine aktive feministische Szene
Und nun hat das Land jemanden gefunden, von dem es sich Antworten erhofft: Anne Wizorek, 31 Jahre, Kommunikationsberaterin aus Berlin. Sie meistert diese Rolle, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, lässt sich nicht provozieren, nicht als Krawallfutter missbrauchen, sondern macht nüchtern ihren Standpunkt klar, wieder und immer wieder. Erklärt, warum es einen Unterschied zwischen Flirten und sexueller Belästigung gibt. Kritiker beschimpfen sie als humorlos, sie gehöre "mal wieder ordentlich durchgevögelt".
Einige Tage später sitzt sie in einem dieser typischen Berliner Kaffeeläden mit blasser Fotokunst an der Wand und macht eine kleine Handbewegung, als würde sie die Pöbler und ihre Anfeindungen vom Tisch wischen wollen: "Ach, da kommt es mir zugute, dass ich schon lange zum Feminismus blogge." Wizorek spricht in Sätzen, in denen kein Wort zu viel fällt. Ihre Argumente beherrscht sie mit Leichtigkeit - und fügt sich damit so gar nicht in das Bild einer überemotionalen, hysterischen Emanze, das Feminismuskritiker gerne zeichnen. Eine fiese Herabwürdigung, die Wizorek grundsätzlich nicht stehen lassen will - denn Frauen, so macht sie mit ernstem Gesicht klar, hätten das Recht dazu, auf sexuelle Belästigung wütend zu reagieren, sie nicht wegzulachen. Mit Hysterie habe das nichts zu tun.
Wizorek ist Teil einer jungen feministischen Szene, die auf Twitter Kontakt zueinander hält und die in Blogbeiträgen schon lange vor dem Stern-Artikel Geschlechterbilder in Frage stellte. Unternehmen, die für ihre Werbekampagnen Frauen mit Hilfe von Fotoshop auf Barbie-Maße verändern, schicken diese Netzfeministinnen zu Hunderten Twitter-Nachrichten, in denen sie "sexistische Kackscheiße" anprangern. Sie sprengen Termine von Familienministerin Kristina Schröder. Vor allem aber schreiben sie, analysieren Filme, Bücher und Fernsehserien mit coolen weiblichen Figuren und kämpfen für die Frauenquote. Auch Wizorek betreibt gemeinsam mit anderen ein Blog, es heißt Kleinerdrei.org.
Dort erschien einer der Texte, die den Anstoß zu #Aufschrei gaben. "Ich merke, wie unangenehm es ist, wenn mir ein Mann aus dem Bus auffordernd die wackelnde Zunge entgegenstreckt, als wolle er mich küssen. Ich merke, wie unangenehm es ist, beim Fahrradfahren mit anzüglichen Bemerkungen überholt zu werden", schreibt Autorin Maike Hank unter der Überschrift "Normal ist das nicht".
Auch andere Bloggerinnen meldeten sich zu Wort, und was sie schrieben, war erschütternd und glaubhaft, gerade weil es aus der Ich-Perspektive erzählt war. "Es ist ein Tabubruch, denn bisher gehörte es sich nicht, solche Erlebnisse an die große Glocke zu hängen", bilanziert Antje Schrupp, eine der bekanntesten feministischen Bloggerinnen. "Zum Thema Aufschrei sind so viele kluge Blogeinträge entstanden", sagt auch Anne Wizorek, "es sind so viele Perspektiven eingeflossen, jede konnte ihre eigene Geschichte erzählen."
Das ist vielleicht die größte Besonderheit der Netzfeministinnen. Sie analysieren gesellschaftliche Missstände nicht nur anhand von Statistiken, sondern berichten von eigenen Erlebnissen, zum Beispiel wie ihnen eine Frauenquote geholfen hat oder wie der Chef sie im Vorstellungsgespräch nach den Familienplänen fragte. Dank #Aufschrei haben sie nun mit ihren Gedanken und Ideen den Weg in die großen Medien gefunden. Die Bloggerinnen sind zumeist Vertreterinnen jener selbstbewussten Generation, die es gewohnt ist, Missstände nicht stillschweigend hinzunehmen.

Nie zuvor hatten so viele junge Frauen eine akademische Ausbildung wie heute, ihnen wurde das Gefühl vermittelt, sie könnten alles schaffen. Und auch die Männer, mit denen sie zur Universität gingen, befreundet sind, entsprechen in der Regel nicht mehr dem typischen Bild des schlechte Witze röhrenden Machos. Keine Frage, unangenehme Situationen auf der Straße hat wohl jede Frau schon einmal erlebt. Doch ansonsten schien es für die meisten ganz gut zu laufen. Auch Anne Wizorek ist in einem solchen Umfeld aufgewachsen, ihre Mutter ist Maschinenbauingenieurin, die Familie lebte in der DDR - "da hatten wir schon immer ein anderes Frauenbild".
Doch mit dem Eintritt ins Arbeitsleben werden viele dieser selbstbewussten jungen Frauen mit einer Welt konfrontiert, in der männlich dominierte Netzwerke und Macho-Spielchen sie ausbremsen - und wo ihnen häufig einfach schon deswegen weniger zugetraut wird, weil sie Frauen sind. Wenn sie etwa ein Projekt leiten und Anrufer dennoch stur am Telefon nach "dem Chef" verlangen.

Männer, ihr könnt das doch besser
Die Lösung dafür sehen die jungen Feministinnen jedoch nicht darin, ihr eigenes Verhalten zu ändern. Nie würden sie - wie es auch Alice Schwarzer in einem Artikel für die FAZ getan hat - eine Verbindung herstellen zwischen Geringschätzung im Job und "weiblicher" Kleidung. Sie setzen stattdessen bei den Männern an. Wenn der Kommilitone, der Freund oder der Partner einen selbstverständlich als vollwertigen Menschen anerkennt, warum soll das dann anderen Männer nicht gelingen?
"Eigentlich haben wir Feministinnen doch das bessere Männerbild", sagt Wizorek, "wir reduzieren Männer nicht auf ihren Penis, sondern gestehen ihnen auch ein Gehirn zu." Sie lächelt, als wollte sie sagen: Ist doch logisch. Und das ist es ja eigentlich auch. Männer haben doch einen Verstand! Von ihrem Gegenüber erwartet Wizorek in cooler Selbstverständlichkeit, dass er zumindest in dieser grundlegenden Frage mit ihr auf einer Linie ist.
Auf eine Anfrage für ein Streitgespräch mit dem FDP-Politiker Wolfgang Kubicki zum Thema "Flirten" reagierte sie auf Twitter mit einem Link auf ein animiertes Bildchen, auf dem die Hauptperson ihrer Lieblingsserie "Buffy, the Vampire Slayer" entrüstet das Gesicht verzieht. "What?" steht darunter. Das Bild drückt aus, wofür Wizorek so eine Anfrage hält: eine verdammt blöde Idee. Immerhin habe Kubicki auf die Sexismus-Debatte mit der Aussage reagiert, er werde in Zukunft keine Journalistinnen mehr im Auto mitnehmen. "Er bestraft also lieber Frauen, als einfach sein Verhalten zu reflektieren - was ist denn von so jemandem zu erwarten?" Wizorek schüttelt den Kopf, ihr Mund wird ein strenger Strich.
Kubicki ist beileibe nicht der Einzige, der die Debatte für seine Agenda nutzt und so die Feministinnen gegen sich aufbringt. Stern-Chef Thomas Osterkorn zum Beispiel leistete sich in der Jauch-Debatte einen Seitenhieb auf "unsere Freunde mit Migrationshintergrund", denen er pauschal sexistisches Verhalten unterstellte. "Da sind die USA schon weiter", sagt Wizorek, "dort würde ein Moderator rassistische Äußerungen nie durchgehen lassen."
Sexismus mit Rassismus begegnen, das geht für viele Netzaktivisten gar nicht. "Als ob irgendwer mit Migrationshintergrund mit einem Kerl befreundet sein möchte, der 15 Millionen Menschen (davon die Hälfte Frauen) pauschal Sexismus unterstellt, weil sie ausländische Vorfahren haben", ätzt etwa Bloggerin Fabienne Vespergegen Osterkorn. Sexismus, so sind sich die meisten von ihnen einig, kann man nicht isoliert von anderen Problemen betrachten, sei es nun die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Religion, sexueller Orientierung oder Behinderung.
Deswegen haben sich die meisten Netzfeministinnen auch Alice Schwarzers Kampf gegen Kopftücher in Schulen nicht angeschlossen - zu sehr erschien er wie ein pauschaler Angriff auf eine fremde Kultur. In den Streit um rassistische Begriffe in Kinderbüchern schalteten sich zahlreiche Leute aus der Community ein. Sie konnten nicht nachvollziehen, dass manche Feuilletonisten "das N-Wort" verteidigten.
Da lässt der Vorwurf der übermäßigen "politischen Korrektheit" natürlich nicht lange auf sich warten - den die Netzaktivisten lässig kontern. "Wir werden zunehmend sensibler für sprachliche Diskriminierungen - allen voran die Betroffenen. Die halten nämlich nicht mehr den Mund, wenn sie diskriminiert werden", schreibt der Autor Daniel Warwel auf Kleiner Drei, "dann wirft sich der WHM (der weiße heterosexuelle Mann - Red.) an der Kasse des Sprachsupermarktes auf den Boden und brüllt, weil er sich das N-Wort nicht mitnehmen oder ,schwul' nicht als Schimpfwort benutzen darf."
In klarer Sprache macht der Autor deutlich, um was es geht: Die alten Machtstrukturen, in denen heterosexuelle weiße Männer bestimmen, was normal ist, was "lustig" und was "hysterisch", "humorlos" oder "prüde" - sie wackeln gewaltig. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, wo sich ähnliche Initiativen bilden, wie die Forbes-Autorin Deanna Zandt in einem Artikel über #Aufschrei schreibt: "Everyday Sexism" in Großbritannien, #assez im französischsprachigen Twitter, #gridala in Italien. "Hier geht es nicht nur um ein paar zeternde Damen, die sich über ihr Schicksal beklagen", schreibt Zandt, "es gibt hier eine weltweite Bewegung von Frauen, die all die Strukturen satt haben, die dafür sorgen, dass Frauen sich nicht frei bewegen können."
Eines haben die jungen Feministinnen schon bewiesen. Ein #Aufschrei kann heute Fernsehsender dazu bringen, ihr Programm zu ändern und große Magazine und Zeitungen dazu, ihm Titelgeschichten zu widmen. Endlich ist in Deutschland eine Feminismus-Debatte entstanden, die nicht nur einigen wenigen Leuten vorangetrieben wird, sondern von vielen. Die sich nicht an Zahlen und Statistiken aufhängt, sondern am tief empfundenen Gefühl vieler Menschen, dass etwas nicht stimmt. Die #Aufschrei-Initiatorinnen haben Frauen vermittelt, dass sie nicht selbst schuld sind, wenn ihnen Schlimmes widerfährt. Sondern dass sich in der Gesellschaft etwas ändern muss. Denn natürlich kann und muss es auch anders gehen zwischen Männern und Frauen. Wie? Auf diese Frage haben Anne Wizorek und ihre Freundinnen sicher noch einige Antworten.

http://www.sueddeutsche.de/kultur/netzfeministin-anne-wizorek-maenner-ihr-habt-doch-ein-gehirn-1.1596262

Wenn Frauen töten


Jung, isoliert, erfolglos und vor allem männlich - so ist der typische Amokläufer. Doch auf die Amokläuferin von Lörrach trifft all das nicht zu. Und in der Geschichte gab es schon eine Reihe von Täterinnen. Ein Überblick.


Von Hannah Beitzer
Im Januar 1979 schoss die damals 16-jährige Brenda Ann Spencer im kalifornischen San Diego von ihrem Schlafzimmerfenster aus auf eine gegenüberliegende Grundschule. Die Tatwaffe, ein halbautomatisches Gewehr, hatte die Schülerin kurz zuvor von ihrem Vater zu Weihnachten bekommen. Sie tötete den Direktor und den Hausmeister der Schule und verletzte acht Schüler und einen Polizisten.

Am Albert-Einstein-Gymnasium in Sankt Augustin konnte der Amoklauf einer Schülerin im Mai 2009 gerade noch verhindert werden.
(Nach sechs Stunden verhaftete eine Spezialeinheit das Mädchen. Nach dem Grund für ihre Tat gefragt, entgegnete die Schülerin lapidar: "I don't like Mondays." Der Ausspruch, der die Sinnlosigkeit des Amoklaufs verdeutlichte, inspirierte die Popband The Boomtown Rats zu ihrem gleichnamigen Lied. Spencer zeigte während der Vernehmung und im anschließenden Gerichtsprozess keine Reue - ihr sei einfach langweilig gewesen, deswegen habe sie auf die Menschen vor der Schule geschossen. Sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzt immer noch im Gefängnis.

Ebenfalls eine Grundschule traf der Amoklauf der 30-jährigen Babysitterin Laurie Dann im Mai 1988 in Winnetka, Illinois. Sie erschoss einen achtjährigen Jungen und verletzte fünf andere Kinder schwer. Anschließend nahm sie eine Familie als Geisel. Schließlich gelang es der Mutter der Familie, die Polizei zu alarmieren. Laurie Dann schoss auf deren 20-jährigen Sohn, der sich jedoch schwer verletzt aus dem Haus retten konnte. Schließlich erschoss sich die Täterin selbst. Zuvor hatte sie vergiftete Lebensmittel an Freunde und Bekannte verschickt und auch versucht, die Kinder einer Familie mit vergifteter Milch zu töten, bei der sie Babysitterin war. Die beiden Jungen spuckten die Milch jedoch unbemerkt wegen ihres seltsamen Geschmacks aus.
An Heiligabend 1996 sprengte sich die 49-jährige Heidrun-Erika J. in einer evangelischen Kirche in Frankfurt-Sindlingen in die Luft. Zwei Frauen und die Selbstmordattentäterin sterben, 13 Menschen werden schwer verletzt. Die Täterin litt unter psychischen Störungen und Depressionen, sie lebte von ihrer Familie getrennt. Die Tat beging sie kurz nach dem Suizid ihres ebenfalls depressiven Sohns. Kurz davor hatte das ZDF einen Krimi gezeigt, in dem sich der Kopf einer Verbrecherbande in einer Kirche in die Luft sprengte. Heidrun-Erika J. galt bereits vor der Tat bei den Nachbarn als gewalttägig.
Im April 2003 erstach eine spanische Ärztin in einem Madrider Krankenhaus eine Kollegin und verletzte sieben weitere Angestellte der Klinik schwer.
Bei einem Amoklauf in einer Postsortierstelle in Kalifornien tötete die 40-jährige Jennifer San Marco im Februar 2006 sechs Menschen und sich selbst. Ein weiteres Opfer wurde schwer verletzt. Zuvor hatte San Marco bereits ihren Nachbarn erschossen. Die Täterin war eine ehemalige Angestellte der Post, die allem Anschein nach unter einer paranoiden Störung litt.

http://www.sueddeutsche.de/panorama/weibliche-amoklaeufer-wenn-frauen-toeten-1.1002403

Die Piraten, ein Männerhaufen? Gerade einmal zwei Frauen hat die Partei auf aussichtsreiche Listenplätze für den Bundestag gewählt. In der einstigen Postgender-Partei wächst die Furcht, dass das beim Wähler nicht gut ankommt. Nun preschen Mitglieder mit ungewöhnlichen Ideen vor.
Von Hannah Beitzer
Die Piratenpartei - ein Männerhaufen?
Jung, technikaffin - und männlich. Diese Einschätzung ihrer Partei hören viele Piraten gar nicht gern. Doch sie kommt nicht von ungefähr, wie die ersten Aufstellungsversammlungen für die Bundestagswahl 2013 zeigen. Sechs Landeslisten stehen schon, ungefähr 17 der Kandidaten können bei einem Ergebnis von etwa fünf Prozent mit einem Sitz im Parlament rechnen. Darunter sind gerade einmal zwei Frauen: die gehörlose Bloggerin Julia Probst aus Baden-Württemberg und die Meteorologin Claudia Frick aus Rheinland-Pfalz.
Immer größer wird in der Partei die Furcht, dass das beim Wähler nicht gut ankommen könnte. Vor allem nach den Aufstellungsversammlungen in Bayern, bei denen keine Frau auf einem aussichtsreichen Platz gelandet ist, und der Wahl in Brandenburg, bei der die Piraten der bekannten Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg einen Mann vorzogen, diskutierte die Partei tagelang auf Twitter.
Doch was tun? Einige Berliner Parteimitglieder preschen nun mit einem ungewöhnlichen Vorschlag vor. Sie wollen die ersten vier Plätze ihrer eigenen Landesliste ausschließlich mit Frauen besetzen und so das Ungleichgewicht der vorhergegangenen Aufstellungsversammlungen ausgleichen. "Wir wollen die tollen Frauen in unserem Landesverband ermutigen, sich aufzustellen", schreibt der Frauenbeauftragte der Piratenfraktion, Simon Kowalewski. Deswegen hätte er gemeinsam mit 27 anderen Piraten und Piratinnen eine freiwillige Selbstverpflichtung unterzeichnet, auf die ersten Plätze ausschließlich Frauen zu wählen.
Aus dem Blogeintrag des Berliner Abgeordneten spricht einiges an leidvoller Erfahrung. Denn die Genderdebatte belastet die Piraten, seit sie im Herbst 2011 mit 14 Männern und nur einer Frau ins Berliner Abgeordnetenhaus einzogen. Wie ein böser Geist verfolgte sie die Aussage, die Partei hielt sich und ihre Mitglieder für "postgender", also quasi für über den Geschlechtern schwebend - auch wenn das hinterher keiner ihrer Vertreter mehr gesagt haben wollte.
Die Reaktionen auf den Vorstoß der Berliner sind gespalten. "Lasst uns veraltete Werkzeuge einer kaputten Welt nutzen, statt neue Lösungen zu suchen, lasst uns eine Quote fordern", ätzt der Abgeordnete Alexander Morlang auf Twitter. Andere betonen, dass eine freiwillige Selbstverpflichtung gerade keine Quote sei: "Hätten wir jetzt ne Quote beschlossen, würde ich die Aufregung vielleicht verstehen, aber es ist 'ne freiwillige Selbstverpflichtung", schreibt Piratin Miriam Seyffarth.
Im wesentlichen kristallisieren sich in der Diskussion drei Positionen heraus - und die könnten unterschiedlicher nicht sein. Allein die "Kompetenz" solle über die Listenplätze entscheiden, nicht das Geschlecht - so argumentieren die einen. Ihnen hält Kowalewski entgegen: "Kompetenz ist aber keine objektive Messgröße. Kompetenz ist auch nicht vorhersagbar. Wie gut oder viel jemand mal im Wahlkampf Plakate geklebt hat, sagt absolut nichts darüber aus, wie diese Person in der völlig anderen Welt der parlamentarischen Bundespolitik performen wird."
Doch der Widerspruch fällt für die ansonsten äußerst feminismuskritische Piratenpartei fast schon zahm aus. Der Grund: Immer mehr Piraten bedauern inzwischen offen, dass ihnen die Frauen in der vordersten Reihen fehlen. So zum Beispiel Bruno Kramm, der die bayerischen Piraten in den Bundestagswahlkampf führt. "Ich bin persönlich sehr betrübt, dass eine so großartige kompetente Frau wie Anke Domscheit-Berg nicht auf Platz eins kommt, auch wenn ich natürlich die Wahl der Brandenburger respektiere und den Spitzenkandidat mag", sagt er.
Von einer Quote hält er trotzdem nichts. Jedenfalls, was seine eigene Partei angeht. Sie sei aufgrund des geringen Frauenanteils an der Basis nicht möglich. In der Tat engagieren sich wesentlich weniger Frauen als Männer in der Partei. Die Piraten müssten deswegen erst einmal versuchen, für Frauen grundsätzlich attraktiver zu werden. "Wir dürfen uns nicht vor der offenen Geschlechterfrage verstecken, indem wir Geschlecht als unrelevantes Rollenmerkmal abtun und uns damit aus der wichtigen Diskussion verabschieden."
Das denkt auch Sebastian Nerz, Spitzenkandidat in Baden-Württemberg. "Wir haben in Tübingen zum Beispiel festgestellt, dass Stammtische unter der Woche um 20 Uhr Mütter und Väter abschrecken", sagt Nerz. Und da Frauen nach wie vor häufiger für die Kinderbetreuung zuständig seien als Männer, wirke sich das negativ auf den Frauenanteil aus. "Jetzt machen wir öfter Veranstaltungen am Sonntag, zum Beispiel Grillen mit Kinderbetreuung."
Für einige Piratinnen fängt die Benachteiligung allerdings schon früher an: In der Satzung der Partei ist durchgängig nur von "Piraten" die Rede - mit dem Hinweis, dies sei geschlechtsneutral zu verstehen. "Generisches Maskulinum" heißt das in der Sprachwissenschaft. Immer wieder, so schreibt etwa der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch in seinem Blog, würden Frauen, die sich selbst als "Piratinnen" bezeichneten, auf die Satzung hingewiesen, wonach sie auch schlicht "Piraten" seien.

Doch vielen reicht es nicht mehr aus, einfach nur "mitgemeint" zu sein. Sie drehen den Spieß deswegen jetzt um und planen eine "Woche des generischen Femininums", die auf Twitter unter dem Hashtag #InWoche läuft. Will heißen: Anstelle von "Bürgern" spricht man von "Bürgerinnen", anstelle von "Mitarbeitern" von "Mitarbeiterinnen". Und eben anstelle von "Piraten" von "Piratinnen".
Und dann gibt es auch noch eine dritte Gruppe, die die Abwesenheit von Frauen zwar schade findet, aber eine Konzentration auf die Frage "Wie kriegen wir mehr Frauen auf die vorderen Listenplätze?" trotzdem ablehnt. Damit zwinge man Menschen ein "binäres Geschlechterbild" auf. Sie müssten sich in eine der beiden Kategorien einordnen, wodurch zum Beispiel Queer-Menschen benachteiligt würden.
Im Grundsatzprogramm der Piraten steht in der Tat, dass die Partei eine von außen verordnete Zuschreibung von Geschlechtern ablehnt. Selbst ihre Toiletten beschildert die Partei mancherorts nicht mit "Damen" und "Herren" sondern mit "Ohne Pissoir" und "mit Pissoir". Das klingt erst einmal tatsächlich fortschrittlicher als die ein wenig nach Siebziger Jahre müffelnde Quotendebatte.
Doch der Realität hält diese programmatisch festgezurrte Offenheit in Genderfragen nicht stand. Denn die Vertreter der Piraten sind, das zeigte sich bei den bisherigen Aufstellungsversammlungen überdeutlich, gar nicht so unähnlich zu den vielkritisierten deutschen Vorstandsetagen: weiß und männlich.
http://www.sueddeutsche.de/politik/genderdebatte-in-der-piratenpartei-wenn-piraten-zu-piratinnen-werden-1.1525047
Eigentlich sollte das Geschlecht in der Piratenpartei keine Rolle spielen - tut es aber doch, wie eine interne Umfrage zeigt: Sexistische Angriffe auf Frauen sind keine Seltenheit. Zudem haben die meisten Piraten nur unklare Vorstellungen davon, worum es in der Genderdebatte geht. Dies wollen die Initiatorinnen der Umfrage ändern - und der Diskussion eine sachliche Grundlage geben.

Von Hannah Beitzer
Als Feministin hat man es in der Piratenpartei nicht gerade leicht, das weiß Lena Rohrbach aus eigener Erfahrung. Sie ist Feministin und Piratin - für viele in der Partei passt das nicht zusammen. Die Piraten gelten als Gegenentwurf zu den genderbewussten, etablierten linken Parteien, man hört von ihnen immer wieder, dass man sich als "post gender" verstehe, das Geschlecht also eigentlich unwichtig sei. Rohrbach sieht das anders: "Ich denke, dass Geschlecht in unserer Gesellschaft noch sehr wirkmächtig ist und als Analysekategorie wichtig, obwohl ich mir durchaus wünschen würde, dass das anders wäre." Sie wird immer wieder entsetzt gefragt: "Bist du etwa Feministin?" Anfangs fand sie das verstörend, erzählt sie: "Ich komme aus einem Umfeld, wo der Begriff sehr positiv besetzt ist."

Mann, Frau, transsexuelles Eichhörnchen? Die Piraten tun sich hart mit Geschlechterpolitik - auch wenn die meisten von ihnen durchaus Defizite in der Gleichberechtigung sehen.
Mit ihrem Unbehagen war sie nicht allein. Die zuweilen seltsam verquasten Einstellung zur Geschlechterpolitik stört mehrere Mitglieder der Partei, nicht nur Frauen. Einige von ihnen haben sich zum sogenannten "Kegelklub" zusammengeschlossen, einer Gruppierung, die sich mit der Genderdebatte in der Piratenpartei beschäftigt. Der Kegelklub hat vor einigen Monaten eine Umfrage gestartet, die die Debatte auf eine sachliche Grundlage bringen soll. 1200 Piraten haben daran teilgenommen, insgesamt haben 1400 Menschen auf die Umfrage geantwortet.
Heraus kam, was Lena Rohrbach instinktiv schon geahnt hat: "Man muss hier noch viel Aufklärungsarbeit leisten." So denken 22 Prozent der Befragten, beim Feminismus gehe es um die Bevorzugung von Frauen, 13 Prozent gar, der Hauptzweck sei der Kampf gegen Männer. Nur 22 Prozent antworteten, beim Feminismus gehe es um die Gleichstellung der Geschlechter. Die antifeministische Haltung der Piraten - ein Missverständnis? "Wenn mich jemand fragt, ob ich Feministin bin, dann frage ich jetzt immer zurück: Was verstehst du denn darunter?", sagt Rohrbach. Meistens stelle sich dann im Gespräch heraus, dass sie sich in ihren Ansichten nicht von ihrem Gegenüber unterscheide - nur hätten viele Piraten eben ein völlig verqueres Bild vom Feminismus.

Die Mehrheit der Piraten kennt auch nicht die richtige Definition für "Gender" - nämlich das soziale Geschlecht. Kein Wunder also, dass sogar die Bedeutung des vielgenutzten "post gender" alles andere als klar ist.
Auch Rohrbachs Kegelclub-Kollegin Laura Dornheim kennt die Situation: "Es gibt tatsächlich noch viele Klischees, wie Feministinnen sind - alles von der lila Latzhose bis hin zum Männerhass." Sie zitiert dann gern einen Spruch, den sie im Internet gelesen hat: "Do you think all human beings should be equal? Yes? Do you think women are human beings? Yes? Then you are a feminist."
Beide Initiatorinnen können sich auch vorstellen, dass Frauen sich nicht gern als Feministinnen bezeichnen, weil sie damit eine Opferrolle verbinden: sich über die Ungerechtigkeit der Gesellschaft zu beklagen, passe für viele nicht zu dem Anspruch, stark zu sein.
Grundsätzlich aber, das betonen beide Initiatorinnen, sei den meisten Piraten durchaus bewusst, dass Frauen und Männer in der Gesellschaft keineswegs gleichberechtigt wären: Vor allem im Berufsleben und in der Wirtschaft im Allgemeinen, aber auch in der Familie sehen die meisten Piraten Ungerechtigkeiten.
Auch fühlen sich die weiblichen Befragten in der Gesellschaft weitgehend als Frau wahrgenommen. Anders jedoch in der Piratenpartei - dort fühlen sich die Mitglieder mehrheitlich "als Mensch" wahrgenommen. Lena Rohrbach und Laura Dornheim hat dieses Ergebnis besonders gefreut - wenn auch Männer sich in allen Sphären gleichberechtigter fühlen als Frauen.

Sexismus ist ein Problem

Ein weiteres beruhigendes Ergebnis sei gewesen, dass die befragten Frauen sämtliche Tools, also (Kommunikations-) Werkzeuge, die für die Partei wichtig sind, genauso intensiv nutzen wie Männer - zum Beispiel Twitter, Mailinglisten oder auch die parteiinterne Beteiligungs- und Abstimmungsplattform Liquid Feedback. "Da haben wir vielleicht sogar einen Vorteil gegenüber den etablierten Parteien, bei denen es eine sehr starke Präsenzkultur gibt", sagt Lena Rohrbach, "da ist es enorm wichtig, beim Stammtisch dabei zu sein. Viele Frauen haben dafür aber keine Zeit, wenn sie zum Beispiel ihre Kinder ins Bett bringen müssen." Schließlich seien es auch heute noch überwiegend Frauen, die sich um die Kinder kümmern oder alleinerziehend seien. Online ließe sich Politik und Familie schlicht besser vereinbaren.

Google Doodle in Lila mit Blümchen: Der aktuelle Beitrag der Suchmaschine zum Frauentag im Netz - fortschrittlich oder gestrig?
Doch es gab auch Ergebnisse, die die beiden schockiert haben: Über ein Viertel der weiblichen Parteimitglieder wurden schon einmal sexistisch beschimpft. Jedes dritte Mal, so steht es in der Studie, "wird ein solcher Vorfall belächelt, weggeschwiegen oder ignoriert".

Ein unguter Vorfall, an den sich beide Initiatorinnen erinnern, war, dass die Piratenpartei in ihrer ersten Wachstumsphase von selbsternannten Maskulinisten unterwandert wurde - also von Männerrechtlern, die sich als Gegenbewegung zum Feminismus verstehen. "Ihre Ansichten wurden in der Partei aber niedergeschmettert", sagt Lena Rohrbach. Sie findet deswegen den alltäglichen Sexismus schlimmer - dass Frauen als Schlampen bezeichnet werden. "Auch Sprüche wie 'Frauen und Technik' kommen manchmal", sagt sie.
Frauen stören die Shitstorms besonders
Dazu passt auch, dass Frauen aus ganz anderen Gründen kein Parteiamt antreten als Männer: Bei den Männern sind der hohe Arbeitsaufwand und drohende Überforderung die Hauptgründe. Die spielen zwar auch bei den Frauen eine große Rolle - doch die weiblichen Mitglieder geben dazu wesentlich häufiger zwischenmenschliche Aspekte als Hinderungsgründe an: Die Angst vor den berüchtigten Shitstorms, den unangenehmen Aufstellungs- und Befragungsprozessen, parteiintern "Kandidatengrillen" genannt, oder die Befürchtung, Teamkollegen könnten sich als unsympathisch erweisen.
Auf den ersten Blick passt das natürlich wunderbar ins Klischee der konfliktscheuen Frau. Lena Rohrbach will trotzdem nicht von Angst sprechen: "Frauen und Männer werden schon als Kinder völlig unterschiedlich sozialisiert. Jungen dürfen raufen und hören: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Bei Mädchen sieht das ganz anders aus."

Was nun der Schluss aus alledem ist? Lena Rohrbach und Laura Dornheim ging es zunächst darum, die Debatte auf eine sachliche Ebene zu bringen. "Wir wollen, das Geschlechterpolitik genauso als Politikfeld anerkannt wird wie alles andere", sagt Dornheim. Konkrete Maßnahmen wollen sie daraus zunächst nicht ableiten. Das ist auch ein schwieriges Thema: Eine Frauenquote zum Beispiel lehnen 86 Prozent der Befragten für die eigene Partei ab.
Rohrbach versteht das: "Unser Problem liegt nicht unbedingt in der Führung, sondern in der Basis." Es gebe schlicht viel weniger Frauen als Männer - und da lasse sich mit einer Quote nicht viel machen. Ein Teilnehmer der Umfrage beschreibt das Dilemma ironisch: "Die Idee eine Frauenquote in der Mitgliederbasis einzurichten finde ich dagegen total super. Da stellt dann jemand einen Mitgliedsantrag, wird gefragt ob er/sie Männlein oder Weiblein sein möchte, sagt er männlich, sagt die Piratenpartei: Gut, musst du erst noch 42 Frauen mitbringen, vorher kommst hier nicht rein."
Auch passe eine Frauenquote nicht in das Verständnis von piratiger Politik, erklären Rohrbach und Dornheim - denn eigentlich, so steht es im Grundsatzprogramm, will man die Mitglieder nicht zwingen, sich auf eines von zwei Geschlechtern festzulegen.
Interessant ist allerdings, dass diese rigorose Einstellung offenbar hauptsächlich für die eigene Partei gilt: Vor einigen Monaten gab es eine Online-Abstimmung zur Berliner Erklärung, die eine verbindliche Frauenquote für Unternehmen fordert. Die Initiative unterstützte zwar nicht die Forderung der Berliner Erklärung nach möglichst umfassenden Quoten - aber durchaus dort, "wo dies als geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel erscheint". Der Antrag wurde mit einer knappen Mehrheit angenommen.

http://www.sueddeutsche.de/politik/internationaler-frauentag-was-den-piraten-von-der-piratin-trennt-1.1303398

Feminismus ist der "Kampf gegen Männer"? Geschichtsvergessen verharren wesentliche Teile der Piratenpartei in uralten Vorurteilen. Dabei ist die Geschlechterpolitik gerade für eine Partei, die sich als neue Freiheitspartei etablieren will, ein essentielles Thema.

Ein Kommentar von Hannah Beitzer
In der Piratenpartei gab es eine Umfrage zum Thema Geschlechterpolitik - Gott sei Dank, möchte man rufen! Denn bisher eierten die Piraten, die sich doch eigentlich als moderne Freiheitspartei verstehen, in dieser Frage dermaßen herum, dass man sich am liebsten die Ohren zuhalten wollte.

Mal hieß es sportlich, man sei über Geschlechterfragen hinaus, total "post gender". Der Berliner Fraktionsvorsitzende Andreas Baum verstieg sich zu der Aussage, Frauen arbeiteten lieber im Hintergrund, weil es ihnen schwerfalle, vor vielen Menschen ihre Meinung zu vertreten. Eine Frauenquote lehnen die Piraten in der eigenen Partei vehementer ab als die FDP.

In diesen ganzen Wirrwarr wollten die Initiatoren der Umfrage ein wenig Klarheit bringen. Einige Ergebnisse verschafften dann auch prompt Erleichterung: In der Partei fühlen sich die meisten Frauen wohl, sie würden eher als Mensch wahrgenommen, denn als Frau. Den meisten Piraten ist auch durchaus klar, dass wir keinesfalls in einer Post-Gender-Gesellschaft leben, dass es also mit der Gleichberechtigung der Frau in Familie, Wirtschaft und Beruf nicht weit her ist. Auch ein Pluspunkt: Frauen nutzen bei den Piraten eifrig die parteiinternen Beteiligungstools.
Wenn man jedoch ein wenig weiter liest, dann stößt man auf Meinungen, die man heute wohl höchstens noch auf CSU-Stammtischen in der tiefsten Provinz so ungefiltert hört: Dass in einer Partei, die sich selbst mit dem Begriff "post gender" schmückt, die Mehrheit der Befragten nicht einmal die gebräuchliche Definition von "gender" kennt - geschenkt. Dass jedoch 22 Prozent denken, beim Feminismus ginge es um die Bevorzugung der Frau, ja 13 Prozent sogar finden, das Hauptziel sei der "Kampf gegen Männer" und insgesamt 46 Prozent aller Befragten mit dem Begriff etwas Negatives assoziieren, ist einfach nur erschreckend.

Zum einen offenbart sich hier eine Geschichtsvergessenheit, die einem schlicht die Worte raubt. Denn gerade, wer die Freiheit als Wert schätzt, sollte den Feministinnen auf Knien danken: dafür, dass Frauen heute in Deutschland Universitäten besuchen dürfen, dafür, dass sie wählen dürfen, dafür, dass sie auch ohne die Zustimmung ihres Ehemannes arbeiten dürfen, dafür, dass sie nicht mehr automatisch als Mündel des Gatten gelten, dafür, dass Vergewaltigung in der Ehe heute eine Straftat ist. Dass Feministinnen die männerdominierte Gesellschaftsform angreifen, ist deswegen kein "Kampf gegen Männer" - es ist ein Kampf für Freiheit, für Gleichheit und für Gerechtigkeit.
Und leider muss man zweitens feststellen, dass die Piraten zwar Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern wahrnehmen - aber selbst anscheinend keine große Lust verspüren, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen: Nur 14 Prozent der Befragten in der Umfrage gaben an, sich besonders für Geschlechter- und Familienpolitik zu interessieren.
Die Initiatorinnen der Umfrage erhielten Reaktionen wie: "Das nervt nur noch! Wir haben wichtigere Themen" oder gar: "Die Genderdebatte und Quotengewichse ist überflüssig." Nur knapp die Hälfte der Umfrageteilnehmer findet die Debatte überhaupt wichtig - das ist in Zeiten, wo sogar die CDU und die FDP über Frauenquoten diskutieren, nicht gerade berauschend.
Denn eine Partei ist nur dann eine Freiheitspartei, wenn sie aktiv etwas dagegen tut, dass die eine Hälfte der Menschen in Deutschland immer noch nicht gleichberechtigt neben der anderen Hälfte existieren kann - das gilt intern wie extern. Besonders aufhorchen lässt deswegen ein anderes Ergebnis der Umfrage: 36 Prozent der Befragten stört an der Genderdebatte in der Partei, dass sie nur auf Frauen abziele - und "andere Minderheiten" vernachlässige. Frauen - eine Minderheit? Dies zeigt, wie schwer sich die Piraten mit der Debatte tun.
Dass das unbequeme Thema Genderpolitik durch die Umfrage überhaupt einmal umfassend auf den Tisch kommt, ist für die Piraten ein erster Schritt in die richtige Richtung. Doch insgesamt gilt, was auch für die Unternehmen gilt, die es seit Jahren nicht schaffen, die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern zu beseitigen: Erkenntnis ist gut, Diskussion ist besser - am allerbesten aber sind Taten.

http://www.sueddeutsche.de/politik/genderdebatte-in-der-piratenpartei-die-piraten-leiden-unter-feminismus-paranoia-1.1303473

"Jung, technikaffin, männlich" war gestern. Bei den Piraten bewerben sich immer mehr Frauen für Posten in der ersten Reihe. Zwei bekannte Netzaktivistinnen wollen nun in den Bundestag - zum Verdruss vieler altgedienter Männer.


Von Hannah Beitzer
Sie sind seit langem im Netz aktiv, haben eine Botschaft - und keine Scheu, das auch zu sagen: In den vergangenen Tagen haben zwei Frauen erklärt, für die Piratenpartei als Spitzenkandidatinnen einer Landesliste in den Bundestagswahlkampf ziehen zu wollen. Zum einen ist da Anke Domscheit-Berg, Unternehmensgründerin und Beraterin, die sich für Transparenz in der Politik, Open-Data-Projekte und Netzneutralität einsetzt.

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Anke Domscheit-Berg möchte für den Bundestag kandidieren.
Zum anderen Julia Probst, eine gehörlose Bloggerin, die über die Situation behinderter Menschen in Deutschland schreibt und der auf Twitter unter @EinAugenschmaus mehr als 20.000 Menschen folgen. Spätestens seit sie bei der Fußball-EM von Jogi Löws Lippen ablas, gilt sie als Botschafterin in Sachen Inklusion - ein Thema, das auch die Piraten beschäftigt.

Eigentlich können die Piraten ein paar Frontfrauen dringend gebrauchen. Sie werden oft als thematisch eindimensionaler Männerverein wahrgenommen und gelten in Genderfragen bestenfalls als gnadenlos naiv. Und tatsächlich freuten sich die meisten Parteifreunde öffentlich über die Kandidaturen. Doch beileibe nicht alle sind begeistert. Denn beide Frauen sind erst vor kurzem der Partei beigetreten: Domscheit-Berg, die unter @anked twittert, im Mai, die Bloggerin Probst im Juli 2012.
"Drei Monate bei den Piraten und schon will @anked in den Bundestag. Mir schmerzt die Stirn vor lauter Facepalm", schreibt ein empörter Pirat, von "Postengeilheit" ist die Rede. Moderater fallen die Reaktionen bei Julia Probst aus, doch auch hier gibt es Stimmen wie diese: "Ich hoffe, wir scheitern bei der Bundestagswahl an der 5-%-Hürde. Gibt momentan echt zu viele Karrieristen bei den Neuen."

Die Etablierten sind größtenteils Männer
Die Piraten stehen damit vor einem Konflikt, wie man ihn auch in vielen Wirtschaftsunternehmen beobachten kann. Einerseits haben viele Männer erkannt, dass sie mehr Frauen in der ersten Reihe benötigen. Schließlich gehören Chancengleichheit und Offenheit zu den großen Themen der Piraten - da kommt es schlecht an, wenn die eine Hälfte der Menschheit sich von der Partei nicht repräsentiert sieht.
Auf der anderen Seite aber gibt es in jeder Organisation etablierte Strukturen und Netzwerke, die Neulinge misstrauisch beäugen. Häufig sind diese Netzwerke männlich geprägt. Der Konflikt liegt auf der Hand: Für jede Frau, die auf einen Spitzenposten kommt, muss ein Mann, der nach den Regeln des Netzwerks eigentlich der nächste Anwärter wäre, darauf verzichten.
So ist das auch bei der Piratenpartei: Seitdem die Partei den Einzug in mehrere Länderparlamente geschafft hat, steigen die Mitgliederzahlen. Nicht wenige langjährige Mitglieder begegnen den zahlreichen "Neupiraten" der vergangenen Monate mit Argwohn: Sind das echte Piraten? Verfolgen sie unsere Ziele? Oder sind sie nur dabei, um sich die besten Posten zu sichern?
"Ich habe mit den kritischen Stimmen gerechnet"
Die Neupiraten hingegen sind empört über das Misstrauen, das ihnen entgegenschlägt. Schließlich nehmen die Piraten für sich in Anspruch, keine typische "Ochsentourpartei" zu sein. Sondern eine, in der jeder mitmachen kann - unabhängig von Alter, Herkunft, Erfahrung.
Der Konflikt zwischen Alt- und Neupiraten betrifft Frauen besonders, glaubt Anke Domscheit-Berg: "Wenn Frauen das Signal bekommen, nur altgediente Piraten, - und das sind dann zu 95 Prozent Männer - haben Chancen, dann ist das ein Problem." Julia Probst stimmt ihrer Parteifreundin zu: "Ich habe mit den kritischen Stimmen gerechnet", sagt sie im Gespräch mit Süddeutsche.de. Generell hätten aber die positiven Reaktionen überwogen.

Doch auch abseits der Frage nach der Dauer der Parteizugehörigkeit ist es für Frauen nicht leicht, für einen Spitzenposten zu kandidieren, glaubt Domscheit-Berg - nicht nur bei den Piraten."Wenn ich als Frau im Hintergrund bleibe, dann heißt es: Die ist so unauffällig, die ist selbst schuld, wenn sie keiner sieht und wahrscheinlich will sie das ja auch lieber so", sagt sie im Gespräch, "und wenn eine Frau selbstbewusst sagt, dass sie sich was zutraut, dann heißt es schnell: Das ist eine Karrieristin oder die ist mediengeil."

Auch Julia Probst kennt ähnliche Reaktionen - wenn auch weniger von den Piraten, sondern aus ihrer Tätigkeit als Bloggerin. Probst setzt sich in ihren Texten für Inklusion ein und macht Diskriminierung öffentlich - und wird als selbstbewusste Frau, die zudem gehörlos ist, gleich doppelt bestaunt. "Da kriegt man schon manchmal zu hören, dass man nicht brav genug sei. Das Bild von Menschen mit Behinderung ist etwas verzerrt: Behinderte sollen froh sein mit dem, was sie haben", erzählt die Piratin.
Für beide Politikerinnen ist das aber kein Grund zur Zurückhaltung - im Gegenteil. Zum klassisch weiblichen Stereotyp der ausgleichenden, harmoniebedürftigen, zurückhaltenden Frau passe schlicht kein Spitzenposten, meint Anke Domscheit-Berg: "Wenn eine Frau einen Spitzenposten will, verletzt sie zwangsläufig gesellschaftliche Stereotype." Sie schreibt zu ihrer Aufstellung auf der parteiinternen Plattform Piratenwiki: "Wir kommen (wenn alles gut geht) zum ersten Mal in den Bundestag und da sollten wir alles richtig machen und die Besten ins Rennen schicken." Zu denen zählt sie sich: "Ich kann gut reden und argumentieren und traue mir auch zu, Abgeordnete aus anderen Parteien von meinen Ideen zu überzeugen."
Die Ziele der Piratinnen
Was die Positionen angeht, liegen beide Frauen ganz auf Parteilinie. Domscheit-Berg möchte Parlament und Regierung transparenter machen: Jeder Abgeordnete soll jeden Cent, den er neben seiner Diät erhält, öffentlich machen müssen, alle Aufträge der öffentlichen Hand, die 10.000 Euro übersteigen, ebenfalls.
Julia Probst hat sich zum Ziel gesetzt, "als erstes zu feiern, dass mit meinem Einzug, falls wir es tatsächlich geschafft hätten, die Debatten aus dem Bundestag mit Gebärdensprachdolmetscher im Fernsehen gezeigt werden müssen." Aber auch für Umweltschutz, Familienpolitik und soziale Gerechtigkeit will sie sich einsetzen. Wie viele Piraten befürwortet sie das bedingungslose Grundeinkommen.

Für diese Programmpunkte erhalten die beiden Frauen viel Unterstützung aus der Partei. "Interessant ist ja, dass kein einziger meiner Kritiker sagt, dass er inhaltliche Zweifel an mir hat", sagt Domscheit-Berg, "es geht immer nur um die Dauer der Parteizugehörigkeit und um den Vorwurf, ich sei eine Karrieristin". Allein der Umstand, dass Medien über ihre Kandidatur berichtet hätten, habe sie schon mit einem Makel behaftet.

"Das ist heute eine ganz andere Partei"
Dennoch sei der Wirbel um ihre Kandidatur auch zu etwas gut gewesen. "Viele Frauen haben mir geschrieben, dass ich sie ermutigt habe", sagt sie. Und sie findet es auch wichtig, dass andere Frauen sehen, mit welchen Reaktionen sie eventuell zu rechnen haben. "Widerstände sind so oder so da. Aber es macht schon einen Unterschied, ob ich mich darauf vorbereiten kann, auf sie zu stoßen oder ob ich völlig überraschend damit konfrontiert werde."
Bei den Piraten habe ohnehin in den vergangenen Monaten in Genderfragen ein beeindruckender Bewusstseinswandel stattgefunden - "das ist heute eine ganz andere Partei als vor acht Monaten". Und so glaubt Domscheit-Berg inzwischen daran, dass die Piraten tatsächlich die erste Partei werden könnte, die auch ohne Quote einen angemessenen Frauenanteil erreichen kann - und auch muss, wenn sie als selbsterklärte Fortschrittspartei ernst genommen werden will.
Auch bei den Männern scheint sich diese Denkweise allmählich durchzusetzen. "Wir haben zu wenig Frauen. Aber tritt eine Frau neu ein, so soll sie erst drei Jahre putzen, kochen und arbeiten, bevor sie kandidiert", empört sich ein Pirat. Um daraufhin Kurt Tucholsky zu zitieren: "Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen."

http://www.sueddeutsche.de/politik/geschlechterdebatte-in-der-netzpartei-piratinnen-draengen-an-die-macht-1.1454430

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