Liste Femanzen Dr. Birgit Schweikert (Liste Femanzen)
F414 Dr. Birgit Schweikert geboren 1964 - Referatsleiterin „Schutz von Frauen vor Gewalt“ im BMFSFJ – Trainerin und systematischer Business Coach (SG) -
publiziert als Juristin zu Rechtsfragen im Bereich Menschenrechtsschutz und Frauenrechte, insbesondere zum Schutz vor Gewalt - sie war Mitinitiatorin und langjährige Koordinatorin des Berliner Interventionsprojektes gegen häus-liche Gewalt, durch dessen Expertisen und Vorschläge insbesondere das sog. Gewaltschutzgesetz initiiert und umgesetzt werden konnte - führt Fortbildungen und Multiplikatorenschulungen für Polizei, Justiz, Jugendhilfe sowie Unterstützungseinrichtungen durch und berät Organisationen im Menschenrechts- und Gleichstellungsbereich
– Buchveröffentlichung: Gewalt ist kein Schicksal (mit Dr. Gesa Schirrmacher 2000); das neue Gewaltschutzrecht – ein Leitfaden für die Praxis (Schweikert/Baer 2002); -
birgit.schweikert@bmfsfj.bund.de - http://www.frauen-aktiv.de/aktiv/bilder/13/schweikert.jpg
Gewerkschaft
Erziehung
und Wissenschaft
Rund 25 Prozent der Frauen in Deutschland
haben schon mindestens einmal häusliche
Gewalt erlitten. Das wissen wir aus der
Studie des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
„Lebenssituation, Sicherheit und Gesund-
heit von Frauen in Deutschland“ von 2004.
Die meisten haben Kinder. Körperliche und
sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend,
auch die beobachtete, erhöht das Risiko der
späteren Viktimisierung der Frauen und ist
auch häufig im Spiel, wenn männliche Ju-
gendliche und junge Männer gewalttätig
werden. Notwendig ist frühzeitige effektive
Prävention. Die Schule, in der ja die meisten
Kinder und Eltern erreicht werden, ist hier
gefordert, denn als Folge von häuslicher Ge-
walt leiden Kinder häufig unter erheblichen
Konzentrations- und Leistungsstörungen
und sind in ihrer Entwicklung beeinträch-
tigt. Die Bundesregierung hat daher in ih-
rem zweiten Aktionsplan zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen den Schwerpunkt
„Rechtzeitig an die Kinder denken – Prä-
vention so früh wie möglich“ gewählt, um
im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Thema
voran zu bringen.
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Häusliche
Gewalt“, in der auch die kommunalen Spit-
zenverbände und Nichtregierungsorganisa-
tionen (NRO) mitarbeiten, hat Empfehlun-
gen für die Schule entwickelt und veröffent-
licht. Das Institut für soziale Arbeit (ISA) in
Münster hat im Auftrag des BMFSFJ eine
Recherche zu Präventionsmaßnahmen der
Länder im Bereich Schule erstellt.
Zur gezielten Prävention hat ein innovatives
Projekt der Berliner Interventionszentrale
bei häuslicher Gewalt (BIG) die Koopera-
tion zwischen Schule und Jugendhilfe in
den Blick genommen. Das BMFSFJ hat die
wissenschaftliche Begleitung und die Veröf-
fentlichung des BIG-Praxisreaders gefördert.
Am 3. Juni 2008 folgte mit der BMFSFJ-
Konferenz „Präventionsmaßnahmen gegen
häusliche Gewalt: Was kann Schule ma-
chen?“ und deren Dokumentation ein Kick
off für die Akteure von Bund, Ländern,
Kommunen und NROs.
Die Praxisbeispiele sollen nun von den Län-
dern und Schulverantwortlichen vor Ort
aufgegriffen werden. Der Schulausschuss der
Kultusministerkonferenz hat die Länder ge-
beten, auf Grundlage der ISA-Länderrecher-
che zusätzliche Vorschläge zur Behandlung
des Themas „Häusliche Gewalt“ zu unter-
breiten. Wir sind überzeugt davon: Schule
kann auch hier Schule machen, insbesonde-
re in Kooperation mit weiteren Akteuren.
Dr. Birgit Schweikert
Referatsleiterin „Schutz von Frauen vor Gewalt“
im BMFSFJ
http://www.gew.de/Binaries/Binary64399/Frauen-1-09_Newsletter.pdf
Bundesweites Hilfetelefon für
von Gewalt betroffene Frauen
Im Interview: Renate Augstein und Dr. Birgit Schweikert vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend
Renate Augstein und Dr. Birgit Schweikert berichten im Interview mit Angelina Bemb
von der FHK e.V. über die Einrichtung des bundesweiten Hilfetelefons für von Gewalt
betroffene Frauen und ihre Erwartungen an das neue Angebot. Renate Augstein ist
Unterabteilungsleiterin der Abteilung „Gleichstellung, Chancengleichheit“ im
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dr. Birgit Schweikert
leitet das Referat „Schutz von Frauen vor Gewalt“ im Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend.
Vor kurzem habe ich im Jahresreport 2010 von Women Against Violence Europe (WAVE)
die Übersicht und Informationen zu Nationalen Notruftelefon-Nummern gelesen. Danach gibt
es in einem Drittel der europäischen Länder nationale Notrufnummern bei Gewalt gegen
Frauen, die ein kostenloses und täglich 24 Stunden erreichbares Angebot vorhalten. Welche
Gründe hatte die Bundesregierung für die Einrichtung des
bundesweiten Hilfetelefons?
Dr. Birgit Schweikert: Ein wichtiger Grund waren die Ergebnisse unserer repräsentativen
Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen, durch die wir zum einen festgestellt haben, wie hoch
die Verbreitung von Gewalt gegen Frauen in Deutschland ist und wie wichtig es ist, dass
diese Frauen Hilfe bekommen. Wir haben zum anderen festgestellt, dass ein hoher Anteil
der Frauen, nämlich fast 80%, nicht im Hilfesystem ankommt, was durchaus sehr
unterschiedliche Gründe haben kann: Individuelle, subjektive, aber auch Gründe, die im
Hilfesystem selbst liegen. Und damit ist deutlich geworden, dass wir ein sehr
niedrigschwelliges Angebot brauchen: ein Hilfetelefon, das 24 Stunden am Tag jederzeit
erreichbar ist.
Im qualitativen Teil dieser Studie ist deutlich geworden, dass viele gewaltbetroffene Frauen
ein niedrigschwelliges Angebot gerade zu dem Zeitpunkt brauchen, zu dem sie in der Lage
sind, sich nach außen zu wenden. Sie haben gesagt: ‚Für den ersten Schritt hätten wir ein
anonymes, jederzeit erreichbares Angebot gebraucht.’ Das sind Erkenntnisse, die nicht nur
für Deutschland zutreffen, sondern für eine Vielzahl anderer Länder. Die Frauen benötigen
Beratung, aber bevor sie vor Ort ankommen, brauchen sie aus Gründen der
Selbstvergewisserung, der ersten Orientierung häufig eine Stelle, an die sie sich jederzeit,
auch anonym, wenden können.
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Wie ordnet sich das Vorhaben „Hilfetelefon“ in die internationalen Verpflichtungen und
Aufgaben der Bundesregierung ein?
Renate Augstein: Wir haben die neue Europaratskonvention zur Verhütung und
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auf dem Tisch liegen. In ihr ist
unter anderem vorgesehen, dass die Länder, die dieser Konvention beitreten, auch nationale
Hilfetelefone einrichten sollen.
Dr. Birgit Schweikert: Deutschland hat als einer der ersten Staaten diese Konvention
gezeichnet, das heißt, die Absicht bekundet, die Verpflichtungen umzusetzen und zu
ratifizieren. Die Europaratskonvention enthält einen mehrgleisigen Weg der Verpflichtungen
zum Vorhalten von Unterstützungseinrichtungen. Es geht einmal darum, dass der Europarat
es für unabdingbar hält, spezialisierte Unterstützungseinrichtungen vor Ort für alle Formen
von Gewalt gegen Frauen vorzuhalten. Hier sind die Bundesländer und auch die Kommunen
gefordert. Und der Bund ist im Rahmen des Artikels 24 der Konvention angesprochen. Um
diese Regelung umzusetzen, sind anonyme, jederzeit erreichbare nationale Hilfetelefone zu
allen Formen von Gewalt notwendig.
Renate Augstein: Außerdem gibt es von der Europäischen Union das Angebot, demnächst
eine EU-weite Rufnummer zu Gewalt gegen Frauen zu übernehmen, die in allen
europäischen Staaten gleich ist. Das heißt, in allen Ländern gibt es dann ein Angebot unter
derselben Telefonnummer. Dafür muss das Hilfetelefon barrierefrei, 24-stündig erreichbar
und vor allen Dingen gebührenfrei sein.
Welche kurzfristigen und langfristigen Erwartungen verbindet die Bundesregierung mit der
Einrichtung des bundesweiten Hilfetelefons?
Renate Augstein: Wir erhoffen uns davon eine wichtige Brückenfunktion. Wir wollen Frauen
erreichen, die sich jetzt noch an niemanden wenden wollen oder können, und wir wollen
ihnen in dem Moment, in dem sie diese Hilfe brauchen, auch Hilfe anbieten und sie dann an
die richtige Stelle vermitteln können. Wichtig dazu ist, dass die Frauen ohne Warteschleifen
sofort zum Hilfetelefon durchkommen und eine Erstberatung bekommen. So können sie
zeitnah an weitere Beratung und Unterstützung gelangen. Diese Brückenfunktion ins
Hilfesystem ist eine der Erwartungen, die wir haben.
Und wir hoffen auch, dass es eine gewisse Entlastung geben wird für das Hilfesystem.
Wegen des hohen Spezialisierungsgrades der Beratungs- und Unterstützungsangebote vor
Ort ist es für von Gewalt betroffene Frauen gar nicht so einfach, die passende Stelle zu
finden. Wenn wir diesen Weg für die Frauen mit dem Hilfetelefon vereinfachen, entlasten wir
auch die Beratungsstellen, weil die Frauen direkt bei der richtigen Stelle ankommen. Sicher
wird auch nicht jede Frau, die anruft, einen Frauenhausplatz brauchen.
Dr. Birgit Schweikert: Ich erwarte, dass über das bundesweite Hilfetelefon Frauen erreicht
werden können, die sich bislang aus subjektiven oder objektiven Gründen nicht an eine
Unterstützungseinrichtung vor Ort gewendet haben. Ich erwarte mir auch, dass Frauen, die
Hilfe suchen, dies dann früher tun. Das bundesweite Hilfetelefon setzt ein öffentliches Signal
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zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, und ich erhoffe mir dadurch, dass das Thema
Gewalt gegen Frauen in allen seinen Facetten eine wesentlich größere Rolle in der
gesellschaftspolitischen Debatte spielen wird. Dazu muss das Hilfetelefon mit kompetenten
Beraterinnen rund um die Uhr besetzt und mit einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit
bekannt gemacht werden. Ich erwarte mir, dass dieses Hilfetelefon die Situation und auch
die Finanzierung von Unterstützungseinrichtungen vor Ort stärkt, denn es wird sehr deutlich
werden, welche wichtige Rolle die Unterstützungseinrichtungen vor Ort spielen. Es wird noch
sichtbarer werden, was sie leisten, und es werden sich möglicherweise Lücken zeigen. Ich
erwarte mir, dass sich das öffentliche Bewusstsein zu Gewalt an Frauen ändert. Und ich
hoffe sehr, dass der soziale Nahraum, der für gewaltbetroffene Frauen eine ganz große
Rolle spielt, darin bestärkt wird, betroffene Frauen zu unterstützen. Und ich erwarte mir, dass
Menschen, die mit gewaltbetroffenen Frauen zu tun haben – sei es ehrenamtlich, sei es im
beruflichen Kontext –, früher als bisher um Informationen nachsuchen und wissen, dass es
eine Stelle gibt, an die sie sich jederzeit wenden können.
Renate Augstein: Für mich ist wichtig, dass das Hilfetelefon eine Stelle sein wird, die alle
Formen von Gewalt gegen Frauen abgedeckt. Das heißt, die Frauen werden erstmals eine
Erstanlaufstelle haben, wo alle diese Gewalterfahrungen zusammenlaufen. Erstmals wird
eine bundesweit tätige Organisation ansprechbar sein, die eine Brücke zu den
verschiedenen Anlaufstellen für Opfer von häuslicher Gewalt oder Menschenhandel oder von
Zwangsverheiratung oder von Genitalverstümmelungen bildet.
Dr. Birgit Schweikert: Wir wissen durch die repräsentative Studie, dass das Risiko, im
Erwachsenenleben Opfer von Gewalt zu werden, signifikant höher ist, wenn in der Kindheit
Gewalt erlebt wurde oder sexueller Missbrauch stattgefunden hat. Durch die Erfahrungen
des Telefons der Unabhängigen Beauftragten für die Aufarbeitung des sexuellen
Kindesmissbrauchs ist bekannt, dass hier viele Betroffene anrufen, die sich bislang noch nie
in ihrem gesamten Leben an eine Unterstützungseinrichtung gewandt haben. Wir wissen,
dass Frauen, die Gewalt und sexualisierte Gewalt in der Kindheit erfahren haben, sich oft
erst als Erwachsene an Einrichtungen wenden.
Wir haben zwar aus durchaus guten Gründen eine Differenzierung von Beratungs- und
Unterstützungsangeboten für die verschiedenen Gewaltbereiche. In der Realität sind viele
Frauen und Mädchen jedoch von multiplen und sich überschneidenden Gewaltformen
betroffen und so ist es wichtig, dass das Hilfetelefon für alle Gewaltarten und Lebenskrisen
im Zusammenhang mit Gewalterfahrungen eine zentrale erste Anlaufstelle bietet. Wichtig ist,
dass eine Erstberatung stattfinden kann und die Frauen dann bei Bedarf und Möglichkeit an
die geeignete Unterstützungseinrichtungen vor Ort vermittelt werden können.
Wie müssen wir uns die Strukturen und die Arbeitsweise des bundesweiten Hilfetelefons
vorstellen?
Dr. Birgit Schweikert: Man muss sich vor Augen halten, welche Größenordnung dieses
Hilfetelefon hat. Für die Größe ist entscheidend, von welchen Anrufzahlen wir ausgehen
müssen. Nach vorsichtigen Schätzungen, die auf den Zahlen der repräsentativen Studie, auf
den Erfahrungen vergleichbarer Hilfetelefone aus dem In- und Ausland und auf Daten des
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statistischen Bundesamtes und auf weiterem Datenmaterial aus Deutschland beruhen,
gehen wir davon aus, dass wir mit circa 255.000 Beratungsgesprächen im Jahr rechnen
müssen, daher mit circa 700 Beratungsgesprächen pro Tag. Hieraus folgt ein geschätzter
Personalumfang von circa 90 Stellen für Beraterinnen, die Leitung und Verwaltung des
Hilfetelefons. Diese Berechnung berücksichtigt, dass kompetente Beraterinnen 24 Stunden
rund um die Uhr bereitstehen müssen und die Betroffenen nicht in Warteschleifen landen.
Wo wird das Hilfetelefon seinen Sitz haben?
Dr. Birgit Schweikert: Das Hilfetelefon wird unter dem Dach des Bundesamtes für Familie
und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln angesiedelt werden, das mit Blick auf diese
Größenordnung auch die infrastrukturellen, strategischen und Managementvoraussetzungen
bietet. Wichtig ist uns, hier noch einmal zu betonen, unter dem Dach des Bundesamtes
entsteht etwas Neues: das Hilfetelefon. Für dieses Hilfetelefon werden neue Beraterinnen
eingestellt, die über die entsprechende sozialpädagogische oder sozialarbeiterische
Berufsausbildung verfügen und über eine entsprechende Berufserfahrung. Denn das ist ganz
wichtig im Umgang mit häufig auch traumatisierten Frauen. Wir sprechen über häusliche
Gewalt, wir sprechen über sexualisierte Gewalt, wir sprechen über Menschenhandel,
Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung, sexuelle Belästigung – über alle Gewaltformen.
Und hier muss bei den Beraterinnen eine breite Kompetenz vorliegen, um den Frauen
weiterhelfen zu können.
Zusätzlich werden zwei Leiterinnen für das Hilfetelefon eingestellt. Aus dem
Personalbestand des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben kommen
Fachkräfte für organisatorische Arbeiten, wie IT-Betreuung und die Personalverwaltung,
dazu.
Renate Augstein: Zur Struktur ist noch wichtig zu erwähnen: Das bundesweite Hilfetelefon
soll die Frauen an die Hilfeeinrichtungen vor Ort weitervermitteln. Dafür muss eine sehr gute
Datenbank vorgehalten werden, in der alle die Einrichtungen, Hilfsdienste, Ämter enthalten
sind, an welche die Frauen weitervermittelt werden oder deren Adressen an sie
weitergegeben werden. Das ist eine Herkules-Aufgabe, und so sind wir dankbar, dass das
Bundesamt durch andere bundesweite telefonische Serviceangebote schon über
entsprechende Erfahrungen mit dem Aufbau und die Nutzung von Datenbanken verfügt. Um
diese Datenbank zu erstellen, setzen wir auf die Mithilfe des Unterstützungssystems, auch
der Frauenhauskoordinierung. Wir hoffen auch auf die Unterstützung der Länder. Hierbei
geht es um öffentlich zugängliche Daten. Wir brauchen für das Hilfetelefon ja kein
Geheimwissen, sondern es geht darum, dass wir die Institutionen erfassen, die für die
betroffenen Frauen wichtig sein könnten, sowie deren Aufgabenbereiche und Angebote,
deren Öffnungszeiten oder Erreichbarkeiten.
Dr. Birgit Schweikert: Zur Struktur stellen wir uns zwei Frauen als Leiterinnen des
Hilfetelefons vor, eine Leiterin, eine stellvertretende Leiterin. Daneben wird es
Fachbereichsleiterinnen geben, Frauen, die also bestimmte thematische Fachbereiche
bearbeiten, aber auch in die Beratung tätig sind. Die Beraterinnen werden in Schichten
arbeiten. Nach den Erfahrungen anderer Hilfetelefone wird ein signifikanter Anteil von
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betroffenen Frauen in den Nachtzeiten anrufen. Das erklärt sich auch damit, dass das häufig
die Zeit ist, in der die Frauen unbeobachtet anrufen können.
Renate Augstein: Frauen mit Behinderungen sollen barrierefrei einen Zugang zum
Hilfetelefon erhalten. Und wir wollen für Frauen, die der deutschen Sprache nicht so mächtig
sind, Angebote bereithalten, das heißt, nach Möglichkeit sollen mehrsprachige Beraterinnen
eingestellt werden bzw. Dolmetscherdienste vorhalten werden, wenn Frauen aus dem
entsprechenden Sprachbereich anrufen. Auch Sicherheitsfragen für die Beraterinnen
müssen bedacht werden. Hier ist es hilfreich, auf die Infrastruktur des Bundesamtes, wie
dem Sicherheitsdienst, zurückgreifen zu können.
Welche weiteren Angebote beinhaltet das bundesweite Hilfetelefon über die konkrete
telefonische Beratung hinaus?
Dr. Birgit Schweikert: Es geht im Kern um Erstberatung und Information und –
entsprechend dem Wunsch der Anrufenden – um Weitervermittlung an Einrichtungen vor
Ort. Das Hilfetelefon vermittelt die betroffenen Frauen je nach Tageszeit direkt an die
Unterstützungseinrichtung vor Ort oder übermittelt den Wunsch der Frau nach
Kontaktaufnahme an die Beratungseinrichtung. Die Unterstützungseinrichtung entscheidet
dann im Rahmen ihrer Kompetenz, ob und wie sie den Kontakt zu der Frau aufnimmt. Das
Hilfetelefon ist sozusagen „Bote“ der betroffenen Frau.
Renate Augstein: Das Hilfetelefon kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen, ob die
Stelle, an die dann weitergegeben wurde, der Frau dann tatsächlich hilft oder helfen kann.
Das bleibt in der Verantwortung der jeweiligen Einrichtung vor Ort. Wenn Ihre Frage auf
weitere Möglichkeiten als der telefonischen Kontaktaufnahme abzielt: Wir wollen, dass das
Hilfetelefon auch einen Internet-Service anbietet, per Mail antwortet und einen Chat
einrichtet. Daneben wird es im Internet auch Informationen für Fachkräfte geben. Aber
Priorität hat die Beratung für die Frauen.
Das Hilfetelefon als bundesweites, rund um die Uhr erreichbares Beratungsangebot ist neu
in der Hilfelandschaft. Mich würde interessieren, wie sich das bundesweite Hilfetelefon dann
in das Frauenunterstützungssystem einordnet. Es gibt bereits Hilfetelefone zum Thema in
einigen Bundesländern. Werden deren Erfahrungen auch aufgenommen?
Renate Augstein: Als wir das Konzept des Hilfetelefons entwickelt haben, wurden vorher
viele Gespräche, auch mit den bestehenden Hilfetelefonen der Länder, geführt. Diese
Erfahrungen sind natürlich berücksichtigt worden. Dabei muss allerdings gesehen werden,
dass die Hilfetelefone in den Bundesländern jeweils eingegrenzte Themenbereiche oder
eingegrenzte Erreichbarkeitszeiten haben. Ansonsten sind wir angewiesen auf die
Unterstützungslandschaft vor Ort. Die können und wollen wir nicht ersetzen. Das Hilfetelefon
ist eine Brücke dorthin.
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Dr. Birgit Schweikert: Das bundesweite Hilfetelefon ergänzt als eigenes
Unterstützungsangebot des Bundes die Einrichtungen, die auf Länder- und kommunaler
Ebene vorgehalten werden. Das heißt, es geht hier darum, dass jede staatliche Ebene ihre
Verantwortung trägt und das umsetzt, was ihr möglich ist. Der Bund zeigt durch das
Hilfetelefon, dass er im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten Verantwortung
übernimmt und dafür Geld in die Hand nimmt. Das sind für den Vollbetrieb circa sechs
Millionen Euro im Jahr. Der größte Posten sind dabei die Ausgaben für das Personal. Es ist
ein wichtiges Signal, dass alle staatlichen Ebenen in der Pflicht sind, die Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen als eine Pflichtaufgabe zu begreifen und eine entsprechende
Verantwortung und – damit auch eine finanzielle Verantwortung – zu übernehmen.
Renate Augstein: Für diese Verantwortung des Bundes gibt es konkrete Verpflichtungen,
insbesondere die menschenrechtlichen Konventionen, die die Bundesregierung bei den
Vereinten Nationen und beim Europarat unterzeichnet hat. Das sind u.a. der Wirtschafts- und
Sozialpakt, die Frauenkonvention und auch der Zivilpakt. Danach ist der Bund verpflichtet,
Menschenrechtsverletzungen nicht nur zu bekämpfen, sondern auch die Opfer von
Menschenrechtsverletzungen nachhaltig zu unterstützen. Und von daher ist das Hilfetelefon
eine Einlösung dieser menschenrechtlichen Pflicht, den Opfern zu helfen, die der Bund hier
umsetzt.
Ich komme noch mal auf die Infrastruktur zurück. Es gibt ja eine bewährte Hilfeinfrastruktur in
den Ländern und Kommunen für gewaltbetroffene Frauen, bestehend aus den
Frauenhäusern, Beratungs-, Interventionsstellen, Koordinierungsstellen. An wen richtet sich
das bundesweite Hilfetelefon insbesondere, welche Frauen werden möglicherweise erst
durch das bundesweite Hilfetelefon erreicht?
Renate Augstein: Das sind beispielsweise Frauen, die sich noch nicht im Klaren sind, ob sie
Opfer von Gewalt sind, ob sie Hilfe brauchen und wenn ja, welche Hilfe. Wir müssen ja
bedenken, dass diese Frauen häufig in keiner guten psychischen Verfassung sind, gerade,
wenn sie schon jahrelang Opfer von häuslicher Gewalt sind. Sich in dieser Situation per
Telefonbuch oder im Internet zurechtzufinden, ist nicht so einfach. Auch Profis haben da oft
Schwierigkeiten, genau zu erkennen: Welches ist die richtige Anlaufstelle. Und es wird auch
Frauen geben, die wirklich nur Informationen wollen. Sie können sich weitestgehend selbst
helfen, wenn sie die richtigen Informationen erhalten.
Dr. Birgit Schweikert: Die Primärfunktion ist, die Frauen zu erreichen, die bislang aus
bestimmten Gründen nicht im Unterstützungssystem angekommen sind. Mich bewegt, dass
gerade Frauen, die von schwerer bis schwerster Gewalt betroffen sind, häufig nicht sagen
können, dass sie Gewaltopfer sind. Sie brauchen aufgrund dieser langjährigen Misshandlung
eine Selbstvergewisserung: Ist das wirklich Gewalt? Bin ich es wert, Hilfe zu erhalten?
Mache ich mich lächerlich? Ist die Schwelle überschritten, um mich jetzt an jemand
Außenstehendes wenden zu können?
Wir haben hierzu auch Informationen aus den Bundesländern. So hat Mecklenburg-
Vorpommern im Frühjahr 2011 eine Untersuchung zu seinem Unterstützungssystem
vorgelegt. Da gibt es interessante Hinweise, die das bestätigen, was wir aus unserer
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repräsentativen Untersuchung und den sekundär-analytischen Auswertungen wissen. Es gibt
bestimmte Gruppen, die besonders schwer zu erreichen sind. Das sind z.B. ältere Frauen,
das sind Frauen aus dem bürgerlichen Milieu, also aus gehobenen Einkommens- und
Bildungsschichten, die sehr schwer diesen Weg finden. Es sind Frauen mit Behinderungen,
und es sind auch häufig Migrantinnen, obwohl sie überproportional häufig in einigen
Unterstützungseinrichtungen vertreten sind.
Hier spielt eine zielgruppendifferenzierte Öffentlichkeitsarbeit des Hilfetelefons eine ganz
wichtige Rolle. So sollen möglichst viele unterschiedliche Gruppen gewaltbetroffener Frauen
erreichen werden. Wichtig ist mir: Gewalt ist nicht gleich, und Gewalt macht auch nicht
gleich. Die individuelle Situation der betroffenen Frauen ist häufig nicht vergleichbar, und ein
Angebot passt eben nicht für alle. Mir geht es darum, dass wir nichts unversucht lassen, um
jede einzelne Frau zu erreichen und ihr etwas Passendes anbieten zu können. Genau darum
geht es: Durch die Öffentlichkeitsarbeit das gesamte Unterstützungssystem und das Thema
als solches in den Blick zu nehmen und durch eine zielgruppendifferenzierte
Öffentlichkeitsarbeit möglichst viele Frauen zu erreichen.
Renate Augstein: Ich könnte mir auch vorstellen, dass bestimmte Opfergruppen mit dem
Hilfetelefon besser erreichbar sind, wie zum Beispiel Opfer von Menschenhandel. Sie
kommen oft aus Ländern, wo sie sehr schlechte Erfahrungen mit korrupter Polizei und
korrupten Ämtern gemacht haben, oder sie haben keine Gelegenheit, Hilfe zu suchen, weil
sie eingesperrt sind. Denkbar ist auch ein einfacherer Zugang für die Opfer von – drohender
– Genitalverstümmelung oder Zwangsverheiratung.
Dr. Birgit Schweikert: Unterstreichen möchte ich in dem Zusammenhang noch einmal die
Anonymität. Von dem, was wir aus Befragungen betroffener Frauen wissen, ist es ganz
wichtig für Frauen, erst einmal anonym zu bleiben, um dann den Mut zu finden und den
Schritt über die Schwelle in eine Beratungseinrichtung vor Ort gehen zu können.
Frau Dr. Schweikert, Sie haben die Wahrnehmung des Hilfetelefons in der Öffentlichkeit
angesprochen. Wir wissen aus internationalen Erfahrungen mit anderen Notrufnummern,
insbesondere aus Österreich, dass die Inanspruchnahme entscheidend vom
Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung abhängt. Und mich würde interessieren, wie das
Hilfetelefon als neues Hilfeangebot für gewaltbetroffene Frauen in der Öffentlichkeit bekannt
werden soll und welche Schritte Sie geplant haben.
Dr. Birgit Schweikert: Sie sprechen einen ganz entscheidenden Punkt an. Wir wissen, mit
der Öffentlichkeitsarbeit steht und fällt der Erfolg des Hilfetelefons. Es geht im ersten Schritt
um die Bekanntmachung: Die Bekanntmachung einer einfachen, einprägsamen Nummer,
um dort Erstberatung und Unterstützung zu bekommen. Das Hilfetelefon muss von einer
sehr breiten multimedialen Öffentlichkeitsarbeit begleitet sein, auch in verschiedenen
Sprachen. Und dann brauchen wir eine konstante Begleitung durch Öffentlichkeitsarbeit, um
die Nummer bekannt zu halten.
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Aktuelle Informationen
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Renate Augstein: Wie wir das im Einzelnen machen? Dafür wird ein professionelles
Konzept entwickelt werden, das haben wir jetzt noch nicht vorliegen. Dafür ist noch etwas
Zeit.
Dr. Birgit Schweikert: Wir möchten zur Begleitung des Hilfetelefons einen Beirat einrichten,
und in diesem Beirat werden natürlich Vertreterinnen des Unterstützungssystems beteiligt
sein. Wir wünschen uns eine sehr praktische Begleitung, um alle „lebensnotwendigen“
Fragen des Hilfetelefons in guter und praktisch-fachlicher Art und Weise klären zu können.
Dazu wird auch gehören, dass wir die Erfahrungen des Unterstützungssystems zur
Öffentlichkeitsarbeit einbeziehen werden.
Die Bundesregierung hat sich mit dem Hilfetelefon sehr hohe Ziele gesteckt, und so gibt es
große Erwartungen an das bundesweite Hilfetelefon. Was planen Sie, um den Erfolg und
den Weiterentwicklungsbedarf sichtbar zu machen?
Renate Augstein: Wir werden das Hilfetelefon laufend auswerten lassen. Da geht es um
Fragen wie: Wer ruft an? Welche Themen werden benannt? Welche Hilfe wird benötigt?
Welche Sprachen sind erforderlich? Wie werden Frauen mit Behinderungen erreicht? Reicht
das Personal aus? Wie viele rufen an? Reichen die anderen Angebote im Internet aus? Wird
vielleicht der Chat viel mehr in Anspruch genommen, als wir uns das vorgestellt haben?
Diese Fakten sollen regelmäßig erhoben und in einem jährlichen Sachstandsbericht deutlich
werden. Und darüber hinaus planen wir eine Evaluation, um zu sehen, ob das Hilfetelefon
die Erwartungen auch erfüllen kann und ob die Ausstattung angemessen ist. Das war eine
wichtige Forderung des Bundesfinanzministeriums, weil wir derzeit nur auf der Grundlage
von Schätzungen agieren können. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung für das
Hilfetelefon ist festgehalten, dass die erforderliche Personalanzahl sichergestellt werden
muss. Und es geht darum, dass die anrufenden Frauen nicht in Warteschleifen, sondern bei
einer Beraterin ankommen. Mit jährlichen Berichten und einer vertieften Evaluation haben wir
die Möglichkeit, die personelle Ausstattung an das tatsächlich Erforderliche anzupassen.
Wenn es wesentlich mehr Anrufe geben sollte oder die Anrufe länger dauern, braucht das
Hilfetelefon mehr Personal. Natürlich kann es auch sein, dass es weniger Personal bedarf,
das wissen wir bisher nicht.
Das bundesweite Hilfetelefon ist eines der größten Projekte der Bundesregierung in den
vergangenen 10 Jahren zum Thema Gewalt gegen Frauen. Wie sehen Sie die Entwicklung
des bundesweiten Hilfetelefons in den nächsten 10 Jahren? Was sind für Sie im Ausblick
wichtige Aufgaben?
Dr. Birgit Schweikert: Meine Erfahrung aus vielen Jahren Antigewalt-Arbeit an
verschiedenen Stellen ist, dass sich aus jeder Veränderung weitere Veränderungen ergeben:
Aus den Frauenhäusern haben sich nachgehende Beratungsstellen entwickelt. Aus den
Kooperations- und Interventionsprojekten bei häuslicher Gewalt haben sich
Interventionsstellen entwickelt. Es hat sich der pro-aktive Beratungsansatz entwickelt, die
aufsuchende Arbeit für gewaltbetroffene Frauen. Eine Zusammenarbeit zwischen
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Frauenunterstützungseinrichtungen und Einrichtungen der Täterarbeit ist am Anfang der
Entwicklung.
Ich bin sehr gespannt, was sich nach fünf oder zehn Jahren Hilfetelefon entwickelt haben
wird, wie die Erfahrungen dann sind. Aus meiner Sicht werden wir drei Jahre brauchen,
damit das Angebot bekannt ist und sich auf einem guten Level eingependelt hat.
Ich bin überzeugt davon, dass auch das Hilfetelefon nicht das Ende der Entwicklung ist. Ich
habe die Vision, dass das Thema Gewalt gegen Frauen einen festen Platz in der
gesellschaftspolitischen Debatte einnehmen wird, dass damit auch eine Ressourcenstärkung
auf allen staatlichen Ebenen erreicht wird. Das heißt, dass nicht nur der Bund, der mit einem
soliden Beitrag für ein dauerhaft eingerichtetes Projekt hier in der Pflicht ist, sondern dass
auch die Länder weiterhin ihrer Verantwortung nachkommen und dort, wo in der Abdeckung
von Unterstützungsbedarf vor Ort Lücken sind oder Änderungsbedarf besteht, nachbessern
oder umsteuern und ergänzen. Ich habe die optimistische Erwartung, dass es hier zu
positiven Anpassungsprozessen kommt und dass das Thema sowohl auf Länder- als auch
auf kommunaler Ebene einen gefestigteren Stellenwert bekommt.
Renate Augstein: Ich erwarte mir durch das Hilfetelefon mehr Erkenntnisse über den
konkreten und differenzierten Hilfebedarf von gewaltbetroffenen Frauen, dass wir weniger im
Nebel rumstochern, was deren konkrete Bedürfnisse betrifft.
Von vielen Frauen kennen wir ihre konkreten Unterstützungsbedürfnisse nicht, da wir sie
derzeit nicht über das Hilfesystem erreichen.
Das heißt, es wird dadurch Erkenntnisse für zukünftige Gesetzgebung geben. So können wir
zu verschiedenen Fragen Wissen sammeln: Funktioniert das Gewaltschutzgesetz zum
Beispiel – oder funktioniert es nicht? Wenn es Probleme mit dem rechtlichen Rahmen gibt,
warum funktioniert es nicht? Wo kann nachgebessert werden? Bis hin zu der Frage: Welche
genaue Art von Hilfe brauchen diese Frauen im Unterstützungssystem? Brauchen sie viele
Frauenhäuser, brauchen sie spezielle Beratungen, brauchen sie Begleitung zu
Behördengängen? Brauchen sie mehr Rechtsberatung? Darauf erwarten wir deutliche
Antworten.
Dr. Birgit Schweikert: Ich wünsche mir, dass das bundesweite Hilfetelefon für betroffene
Frauen und Kinder Hoffnung bedeutet und Auswege und neue Wege sichtbar machen wird.
Der Schutz vor Gewalt in der Familie
Gewalt im sozialen Nahraum, innerhalb der Familie, hat besonders gravierende Folgen.
Wenn in einem Umfeld, in dem Zuneigung, Vertrauen, Fürsorge, Liebe erwartet
wird, stattdessen Demütigungen, Verletzungen, Misshandlungen stattfinden, prägt
diese Erfahrung Erwachsene, aber auch Kinder, auf eine schädigende Art und Weise.
Denn das für eine positive Entwicklung notwendige Vertrauen sowohl in andere
Menschen als auch in die eigenen Fähigkeiten, das wichtige Erleben von Akzeptanz
und Respekt der physischen und psychischen Integrität werden nachhaltig gestört.
Die direkten und indirekten Folgen der erlebten häuslichen Gewalt sind langwierig. Je
früher der Gewaltkreiskreislauf unterbrochen wird, desto größer ist die Chance, ein
eigenes gewaltfreies Leben mit den Kindern zu führen und weiteren Schaden abzuwenden.
Der nachfolgende Beitrag gibt einen Überblick über die aktuellen Erkenntnisse zu
Ausmaß, Formen, Folgen bei häuslicher Gewalt und informiert über rechtliche Handlungsmöglichkeiten
sowie wichtige Anlaufstellen für Beratung und Hilfe.
I. Erkenntnisse zu Gewalt in der Familie
Gewalt in der Familie hat viele Gesichter und viele Formen. Wir wissen, es gibt Gewalt
gegen Frauen, Gewalt gegen Kinder, Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern und
– vereinzelt – auch Gewalt gegen Männer. Die Formen der eingesetzten Gewalt reichen
von psychischer Gewalt (z.B. Bedrohungen, Beleidigungen, Herabwürdigungen,
Kontrolle der sozialen Kontakte) über körperliche (in Form von Schlagen, Treten,
Misshandeln) und sexuelle Gewalt (so z.B. sexueller Missbrauch von Kindern
oder Vergewaltigung der Partnerin) bis hin zu Tötungsdelikten, denen meist Frauen
und Kinder zum Opfer fallen.
In den Jahren 2003 und 2004 wurden im Auftrag des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) verschiedene Studien abgeschlossen,
die es uns ermöglichen, das Ausmaß dessen, was hinter verschlossenen Türen stattfindet
und selten öffentlich bekannt wird, genauer zu beurteilen. Für den Bereich
Gewalt gegen Kinder in der Familie werden weitere Studien in die folgende Übersicht
zum Erkenntnisstand einbezogen.
1. Gewalt gegen Frauen – repräsentative Daten
Die repräsentative Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von
Frauen in Deutschland“ gibt erstmals verlässliche Daten dafür, wie viele Frauen in
Deutschland Gewalt erfahren:
• 37% aller Frauen in Deutschland haben körperliche Gewalt und Übergriffe
ab ihrem 16. Lebensjahr erlebt. Es handelt sich um ein breites Spektrum von
körperlichen Übergriffen in unterschiedlichen Lebenskontexten. Die Übergriffe
reichen von leichten Ohrfeigen und wütendem Wegschubsen bis hin zum
Schlagen mit Gegenständen, Verprügeln und Gewaltanwendungen mit Waffen.
• 13% der befragten Frauen (also fast jede siebte Frau) gaben an, seit dem 16.
Lebensjahr Formen von sexueller Gewalt erlebt zu haben. Hierbei beziehen
sich die Angaben auf eine enge Definition (strafrechtlich relevanter Formen)
erzwungener sexueller Handlungen.
• Unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung haben 58% der Befragten
mindestens einmal in ihrem Leben erfahren.
• 42% aller befragten Frauen gaben an, Formen von psychischer Gewalt erlebt
zu haben, die von eingeschüchtert Werden oder aggressivem Anschreien über
Verleumdungen, Drohungen und Demütigungen bis hin zu Psychoterror reichten.
• Rund 25% der in Deutschland lebenden Frauen haben Formen körperlicher
oder sexueller Gewalt (oder beides) durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner
erlebt.
Körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen ist nach dieser Studie überwiegend
Gewalt durch Beziehungspartner, und sie wird meist im häuslichen Bereich verübt.
Gewalt im sozialen Nahraum ist schwerwiegender als die Gewalt in anderen Lebensbereichen:
Durch diese Gewalt gibt es häufiger Verletzungsfolgen, und sie geschieht
regelmäßiger als z.B. Gewalt in der Öffentlichkeit.
Phasen von Trennung und Scheidung sind für Frauen besonders gefährlich: In diesen
Situationen kommt es häufig zu häuslicher Gewalt gegen Frauen bzw. die Gewalt
nimmt in dieser Phase an Häufigkeit und Intensität zu. Auch nach Trennung und
Scheidung wird die Gewalt vom ehemaligen Beziehungspartner manchmal in Form
von Nachstellungen, Drohungen und körperlichen Übergriffen fortgesetzt.
Gewalt bleibt nie ohne Folgen – dies bestätigt auch diese Untersuchung. Dabei sind
nicht nur körperliche Verletzungen, sondern auch psychische Folgebeschwerden
feststellbar, also z.B. Schlafstörungen, erhöhte Ängste, ein vermindertes Selbstwertgefühl
bis hin zu Depressionen. Je nach der untersuchten Gewaltform wurde von
56% bis über 80% der Frauen, die Gewalt erlebt hatten, über solche Folgen berichtet.
2. Häusliche Gewalt gegen Mädchen und Jungen
Mädchen und Jungen erleben als Kinder und Jugendliche häufig Gewalt im sozialen
Nahraum.
a.) Ausmaß elterlicher körperlicher Gewalt gegenüber Mädchen und Jungen
Auch wenn sich die elterlichen Erziehungsstile mit der Zeit verändert haben, erfahren
Mädchen und Jungen immer noch, auch in starkem Maße, körperliche Gewalt durch
ihre Eltern. Der 1992 vom Deutschen Jugendinstitut durchgeführte Jugendsurvey
ergab, dass die Mehrheit der Jugendlichen Formen leichter körperlicher Züchtigungen
erlebt haben (81% leichte Ohrfeigen); schwerere Formen wie schallende Ohrfei4
gen hatten knapp 44%, eine Tracht Prügel hatten 31% erfahren.
Auch neuere Untersuchungen zeigen die starke Gewaltbetroffenheit von Kindern und
Jugendlichen. Im Rahmen einer im selben Jahr am Kriminologischen Forschungsinstitut
Niedersachsen (KFN) durchgeführten repräsentativen kriminologischen Opferbefragung
wurden Personen im Alter von 16 bis unter 60 Jahren zu innerfamiliären
Viktimisierungserfahrungen im Erwachsenenalter sowie zu Gewalterfahrungen in der
Kindheit befragt. Etwa drei Viertel der Befragten hatten körperliche elterliche Gewalt
erlebt. Davon haben ca. drei Viertel der Jugendlichen körperliche Züchtigungen im
Sinne von Ohrfeigen, Schlagen oder Werfen mit Gegenständen, hartem Anpacken
oder Stoßen erfahren, knapp 11% waren darüber hinaus von körperlichen Misshandlungen,
damit sind schwerere Formen wie das Schlagen mit der Faust, Prügeln, Zusammenschlagen,
Würgen, Verbrennungen und der Einsatz von Waffen gemeint,
betroffen. Eine spätere KFN-Schülerbefragung von 1998, bei der über 16.000 Jugendliche
der 9. und 10. Jahrgangsstufe unter anderem zu innerfamiliären Gewalterfahrungen
befragt wurden, ergab, dass 43% der Befragten ohne elterliche Gewalt
aufgewachsen waren. 30% hatten leichte körperliche Züchtigungen erlebt, 17% wurden
schwer gezüchtigt und weitere 10% misshandelt.
Die Ergebnisse dieser und anderer Studien deuten aber auch darauf hin, dass sich
die Rate der Kinder, die mit elterlicher Gewaltanwendung erzogen werden, mit der
Zeit langsam verringert. Die jüngste Untersuchung bestätigt diese Tendenz. Ein Vergleich
der Erziehungsstile zwischen Befragungsergebnissen aus den Jahren 1996
und 2001 von Bussmann zeigt einen Rückgang von elterlicher körperlicher Gewalt
auf. Insgesamt wurden rund 6.000 Eltern, Jugendliche und Multiplikatoren aus Schule,
Beratungs- und Hilfseinrichtungen zu den Auswirkungen des im November 2000
in Kraft getretenen Rechts des Kindes auf gewaltfreie Erziehung und der begleitenden
Öffentlichkeitskampagne des BMFSFJ befragt. So stiegen in diesem Zeitraum
die Gruppen der sanktions- und körperstraffreien Erziehung von zusammengenommen
20% auf 28% an, die Gruppe der mit leichteren Körperstrafen sanktionierenden
konventionellen Erziehungsstile nahm von 56% auf 54% leicht ab, die Gruppe der
gewaltbelasteten Erziehungsstile bei Eltern verringerte sich von 24% auf 17%.
Trotz dieser erfreulichen Tendenz kann festgestellt werden, dass in Deutschland immer
noch viele Kinder und Jugendliche elterliche Gewalt erfahren: Die meisten Kinder
und Jugendlichen werden unter Einsatz körperlicher Gewalt von ihren Eltern erzogen,
etwa jede/r fünfte bis sechste erlebt auch schwerere Formen von Züchtigung,
etwa jede/r zehnte in einer Ausprägung, die auf Kindesmisshandlung hindeutet.
b.) Mädchen und Jungen als Zeugen der häuslichen Gewalt gegen die Mutter
Wenn 25% der Frauen zumindest einmal in ihrem Leben Gewalt durch einen Beziehungspartner
erleben, wird deutlich, dass auch viele Kinder dies miterleben müssen,
denn in vielen Haushalten leben Kinder.
Die Kinder leiden nicht nur unter der direkten Gewalt – auch das Miterleben der Gewalt
der Eltern untereinander beeinträchtigt die Kinder. Für Kinder misshandelter
Mütter ist insbesondere die emotionale Lage schwierig. Diese Kinder haben Sorge
um ihre Mutter, aber sie können auch geteilte Loyalitäten zwischen den Eltern empfinden;
sie können sich schuldig dafür fühlen, nicht einzugreifen oder sie können wütend
auf ihre Mutter sein, dass sie die Misshandlungsbeziehung nicht verlässt. Vielfach
werden sie aber auch direkt in die Gewalt einbezogen, z.B. wenn die Mutter das
Kind auf dem Arm hält und die Kinder von den Schlägen getroffen werden oder auch,
wenn Kinder als Geiseln genommen werden, um eine Rückkehr der Mutter nach
Hause zu erzwingen.
Verschiedene Studien zeigen die vielfältigen Folgen, die das Miterleben von Gewalt
haben kann. Es kann zu Verhaltensstörungen und emotionalen Problemen kommen:
Kinder, die die Misshandlung ihrer Mütter beobachten, können aggressiver und
zugleich ängstlicher oder auch gehemmter sein, ein geringeres Selbstvertrauen haben
usw. Auch die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten wird durch das Miterleben der
Gewalttätigkeiten negativ beeinflusst. Eine Untersuchung von Kindern, die sich in
einem Frauenhaus aufhielten, zeigte beispielsweise, dass diese Kinder signifikant
geringere sprachliche Fähigkeiten hatten.
Insgesamt bleibt das Miterleben damit nie folgenlos. Jedoch hat die Zeugenschaft
von häuslicher Gewalt selbstverständlich nicht bei allen Kindern dieselben Folgen.
Die Schwere der Folgen hängt vielmehr von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab: Die
Folgen sind anders, wenn die Kinder auch direkt misshandelt werden, sie sind bedingt
durch das Alter, das Geschlecht, die Zeit, die seit dem Miterleben vergangen
ist, das Verhältnis zu den Erwachsenen und auch durch die Art der Interventionsmaßnahmen.
Neben den beschriebenen Störungen in der Entwicklung und den zum Teil traumatischen
Belastungen legt eine Reihe von Studien noch einen weiteren Zusammenhang
nahe: Kinder, die Misshandlungen miterleben, lernen und übernehmen dieses Verhalten.
Auch wenn diese These nicht von allen Studien nachgewiesen werden konnte,
zeigte sich doch, dass diese Kinder zumindest eine Akzeptanz für den Gebrauch
von Gewalt als Konfliktlösungsmuster entwickeln können und eigene Gewalttätigkeiten
damit rechtfertigen. Doch auch hier dürfen keine vorschnellen Schlüsse gezogen
und Verallgemeinerungen vorgenommen werden. Ebenso kann es sein, dass Jungen,
die die Misshandlungen ihrer Väter an ihren Müttern miterlebt haben, sich stark
von diesem Verhalten distanzieren und sich bewusst gegen Gewalt entscheiden.
Und auch nicht alle Mädchen, die häusliche Gewalt miterlebt haben, müssen später
selbst zu Opfern werden. Es handelt sich also auch hier nicht um einen Automatismus
in der Entwicklung.
Dennoch ist insgesamt festzuhalten, dass Gewalt nicht nur schädigend für die psychische
und physische Entwicklung der Kinder ist, sondern auch auf die Einstellung
zur Gewalt und zu eigenem gewalttätigen Verhalten Auswirkungen haben kann.
In der Repräsentativstudie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland wurde sichtbar,
dass körperliche und sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend der Frauen und in deren
Herkunftsfamilie zentrale Risikofaktoren für eine spätere Viktimisierung im Erwachsenenleben
waren. So haben Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche
Auseinandersetzungen zwischen den Eltern miterlebt haben, später mehr als
doppelt so häufig selbst Gewalt durch (Ex-)Partner erlitten wie Frauen, die keine
Zeuginnen von elterlicher Gewalt geworden sind. Frauen, die in Kindheit und Jugend
selbst häufig oder gelegentlich Opfer von körperlicher Gewalt durch Erziehungspersonen
wurden, waren dreimal so häufig wie andere Frauen später von Gewalt durch
den Partner betroffen. Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr
geworden waren, wurden in ihrem Erwachsenenleben doppelt so häufig wie
andere Frauen Opfer von häuslicher Gewalt durch den Partner und viermal häufiger
Opfer von sexueller Gewalt. Hier wird deutlich, welche nachhaltigen Auswirkungen
die in der Kindheit und Herkunftsfamilie erlebte Gewalt auf das Erwachsenenleben
hat und wie wichtig ein möglichst früh einsetzender Schutz von Mädchen und Jungen
vor Gewalt ist.
Gewalt ist kein Schicksal. So weit verbreitet Gewalt im engen sozialen Nahraum leider
auch ist – es gibt Wege aus der Gewalt. Es stehen rechtliche Schutzmöglichkeiten
und Beratungseinrichtungen verschiedener Träger zur Verfügung, an die Sie sich
vertrauensvoll wenden können. Haben Sie den Mut, auch im Interesse Ihrer Kinder,
die für Sie geeignete Unterstützung zu suchen.
http://www.gewaltbleibtdraussen.info/t3f2-Gewalt-in-der-Familie-gegen-Frauen-und-Kinder-von-Dr-Birgit-Schweikert-und-Dr-Gesa-Schirrmacher.html
„10 Jahre Gewaltschutzgesetz – Bestandsaufnahme zum veränderten gesellschaftlichen Umgang mit häuslicher Gewalt“: Dieses Thema lockte am 26. April 2012 mehr als 180 Teilnehmerinnen aus Fachberatungsstellen, Justiz und Wissenschaft nach Bochum, um dort über die Entwicklungen seit Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes vor 10 Jahren zu diskutieren. Dr. Birgit Schweikert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zeichnete anschaulich den Weg des Gewaltschutzgesetzes bis zu seiner Verabschiedung im Jahre 2002 nach und hob dessen politische Bedeutung hervor. Die Rechtsanwältin Christina Clemm veranschaulichte mit vielen Beispielen aus der juristischen Praxis, an welchen Stellen die Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes noch verbessert werden muss und Katrin Hille vom Frauennotruf Göttingen beleuchtete die besonderen Anforderungen in der Beratungsarbeit bei häuslicher Gewalt.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussionen debattierten Expertinnen aus verschiedenen Bereichen wie es um das Gewaltschutzgesetz im Jahre 2012 bestellt ist, bevor abschließend der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit häusliche Gewalt (BAG TähG), Kay Wegner, das Konzept der Täterarbeit vorstellte und Maria Rösslhumer von WAVE (Women against violence Europe) über die ökonomische Situation von gewaltbetroffenen Frauen informierte.
Den Teilnehmer/innen bot sich neben hochkarätigen Vorträgen auch die Möglichkeit zum fachlichen Austausch mit Kolleginnen und Expert/innen aus anderen Tätigkeitsfeldern.
Der Kongress in Bochum hat gezeigt, dass mit dem Gewaltschutzgesetz wichtige Weichen gestellt wurden, um das Recht auf ein gewaltfreies Leben durchzusetzen. Ebenso wurde jedoch deutlich, dass es bei der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes immer noch Lücken und Handlungsbedarf gibt.
Der bff arbeitet derzeit an einer ausführlichen Kongressdokumentation. Die Kurzfassung der internen Studie, die der bff im Vorfeld des Kongresses bei seinen Mitgliedseinrichtungen erhoben hat, liegt bereits jetzt vor und kann heruntergeladen werden.
Das Programm des Kongresses können Sie sich hier noch einmal anschauen.
https://www.frauen-gegen-gewalt.de/nachricht/items/id-10-jahre-gewaltschutzgesetz-bff-kongress-am-260412-in-bochum-17.html
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Die ultimative Dienstleistungsoffensive des Antifeminismus
Ein bisschen Frauenhass steht jedem Mann!
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