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"Bescheuertheit" (Allgemein)

Mus Lim ⌂ @, Friday, 11.01.2013, 03:23 (vor 4333 Tagen)
bearbeitet von Mus Lim, Friday, 11.01.2013, 03:45

Bescheuertheit
Bescheuertheit ist ein Syndrom, das es nicht nur sozusagen naturwüchsig in Politik und Gesellschaft gibt, sondern das mittlerweile "wissenschaftlich" ausgearbeitet wird, beispielsweise als Gendertheorie. (Über das EU-Recht kehrt sie dann als "Gender-Mainstreaming" zurück.) Der Bescheuerte leidet nicht an seiner kognitiven Schmalspur, schließlich kämpft er heldenhaft für die neue Ordnung; und da ihm Werte wie "Emanzipation" und "Selbstverwirklichung" gegen jede Manipulation gefeit scheinen, besitzt er ein notorisch gutes Gewissen, worin ihn die Bescheuertheitsgemeinschaft bestärkt: Wir müssen uns den Bescheuerten als glücklichen Menschen vorstellen.

In einem Aufsatz über Frechheit (Merkur, Nr. 700, August/September 2007) habe ich die Auffassung vertreten, die Frechheit gedeihe gleichsam im Windschatten einer allenthalben grassierenden ideologischen Bescheuertheit. Die Formulierung war gewiss zugespitzt und brüskierend und hat auch etwas Jaulen ausgelöst. Der Begriff war aber keineswegs nur als polemisches Etikett gemeint, sondern umschreibt in meinem Verständnis einen verbreiteten mentalen Tatbestand, geradezu eine Seinsweise. Dies soll hier näher ausgeführt werden.

Strickmuster

Bescheuertheit ist ein Syndrom. Es kennzeichnet einen bestimmten Typus von Menschen sowie Zustände, die durch solche Menschen bestimmt werden. Bescheuertheit hat durchdringende Kraft. Wo sie an der Macht ist oder die Ordnungsdeutungen großer Bevölkerungsgruppen dominiert, kann sie ganze Gesellschaften verwüsten. Woraus ist sie zusammengesetzt? Ein Grundelement ist das Double-Bind, Beziehungsfallen also, in denen jede mögliche Reaktion negativ sanktioniert wird und der Betroffene die Zwickmühle weder durch Metakommunikation noch durch Verlassen des Handlungsfeldes auflösen kann. Ein Beispiel ist die Schwiegermutter, die der Frau ihres Sohnes zum Geburtstag zwei Pullover schenkt. Als sie sich einige Wochen später erneut zu Besuch ankündigt, zieht die Schwiegertochter einen davon an. Noch vor der Begrüßung herrscht die Schwiegermutter sie an: "Der andere gefällt dir wohl nicht!"

Bescheuertheit ist eine Methode, die Dinge von vornherein so einzurichten, dass man, was auch immer geschieht, niemals irren kann. Trifft das Unheil ein, ist man bestätigt; bleibt es aus, hat man erfolgreich gewarnt. Ich erinnere mich an eine Talkshow aus Anlass eines Jahrestages von Tschernobyl. Darin erregte sich die Vertreterin einer Bürgerinitiative, die horrende Verantwortungslosigkeit der Politiker und Atomlobby zeige sich ja bereits daran, dass es für den Fall eines Super-GAU keinerlei Vorsorge oder Evakuierungspläne gebe. Als nun einer der Angesprochenen protestierte und darauf hinwies, dass man natürlich auch für einen solchen Fall Katastrophenpläne bereithalte, fuhr sie ihm erneut in die Parade und wertete dies als Eingeständnis der Unglaubwürdigkeit aller Versicherungen, eine Katastrophe wie die von Tschernobyl sei in Deutschland ausgeschlossen. Sowohl die Existenz als auch die Nichtexistenz von Katastrophenplänen - beides waren für sie klare Belege der Verantwortungslosigkeit.

Allerdings nahm die Sendung einen ungewöhnlichen Verlauf. Während der Widerspruch der Behauptungen normalerweise in der moralischen Aufwallung untergeht und der Doppelbinder mit seiner Aktion durchkommt, wurde er diesmal von einem aus der Runde bemerkt und unnachsichtig freigelegt: "Also Moment mal, eben haben Sie uns noch vorgeworfen, wir hätten keine Katastrophenpläne, und jetzt haben wir welche, und es ist auch wieder nicht recht. Wofür sind Sie denn: Katastrophenpläne - ja oder nein?" Nun saß sie in der Falle, und als auch ein letztes Ablenkungsmanöver (alle AKWs weg, dann brauchen wir keine Katastrophenpläne) misslang, musste sie etwas befürworten, was sie kurz zuvor noch als Inbegriff der Verantwortungslosigkeit gebrandmarkt hatte. Das war schon eine dramatische Wende der Situation: die Verwandlung einer heiligen Johanna in ein dummes Huhn.

Das Beispiel demonstriert einen weiteren Grundzug der Bescheuertheit, ihre kognitive Monostruktur und die simple Hermetik des Weltbildes. Der Bescheuerte hat nur ein Thema. Man fokussiert die Verhältnisse auf einen einzigen Punkt und spezifiziert die Problemwahrnehmung in konzentrischen Kreisen. Da alles mit allem zusammenhängt, wird man auch bei der entlegensten Sache stets eine Querverbindung oder einen Aspekt finden, der es einem erlaubt, seine Suppe erneut anzurühren. Der Einzelfall dient immer nur der Illustration des Allgemeinen und bestätigt das gesetzte Prinzip. Es gibt nur Antworten, keine Fragen. Am Ende landet die Argumentation stets wieder beim Anfang. So ist man gegen Neues und Überraschungen gewappnet und fühlt sich zugleich als jemand, der alles durchschaut.

Die Realitätskonstruktion der Bescheuertheit ist durch eine eigentümliche Verweisungsstruktur gekennzeichnet. Um sich als kompakte Ideologie etablieren zu können, braucht sie einen relativ kleinen, überschaubaren Satz allgemeiner Aussagen, die sich wechselseitig bedingen und definieren und deren universale Gültigkeit niemals bezweifelt werden darf. Etwa: Frauen werden diskriminiert. - Die Unterdrückung von Frauen ist eine Folge patriarchalischer Strukturen. - Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig. - Sexualität zwischen Männern und Frauen ist potentiell gewalttätig. - Bei der Vergewaltigung von Frauen geht es nicht um Sexualität, sondern um Macht. Das Ergebnis solcher Basissätze sind leicht kombinierbare Begriffskonglomerate (Diskriminierung gleich Unterdrückung gleich Sexismus gleich Gewalt), die dann - die Ideologie hat immer recht! - auf jeden beliebigen Einzelfall oder skandalisierbaren Sachverhalt angewendet werden können.

Mühelos lassen sich auf diese Weise ganze Bibliotheken und Archive füllen. Ein Grundmerkmal der Bescheuertheit ist ihre offensive Schwatzhaftigkeit, verbunden mit einem ausgeprägten Hang zur Selbstdokumentation. Sie begnügt sich keineswegs damit, persönliche Eigenheit oder Marotte zu sein, sondern versteht sich grundsätzlich normsetzend für andere. Bescheidenheit ist ihre Sache nicht, das Ziel ist nicht weniger als das Heil. Deshalb strebt sie von vornherein in die Öffentlichkeit und versucht, die Agenda zu besetzen. Die Verblendeten müssen aufgeklärt und die verrotteten Zustände durch befreite Verhältnisse abgelöst werden, für die die Bescheuertheit das Rezept hat. Dabei sind Agitation und Propaganda keineswegs Selbstzweck, sondern stets Mittel der Durchsetzung.

Manchmal sucht sie auch, ohne den Umweg der Öffentlichkeit, den kurzen Weg zur Macht. So kommt heute lesbisch-feministische Kaderpolitik als EU-Recht (Antidiskriminierungsgesetz, Gender-Mainstreaming) zurück und funktioniert fortan als Schule der Verlogenheit.[1]

Der kognitiven Schmalspur entspricht das Prinzip der Affektbündelung. Der Bescheuerte hasst und verachtet die Normalen, aber er braucht vor allem handliche Schuldige, die er an den Pranger stellen und für alles verantwortlich machen kann. Es ist wie eine Sucht nach moralischer Selbsterhöhung. Wo immer sich ein Anlass bietet, rastet die Empörung ein. Allerdings lässt sich die Erregung nur schwer auf Dauer stellen und ist mit der Zeit immer weniger abrufbar. Außerdem sind die Demonstrationsgelegenheiten irgendwann ausgeschöpft, die Themen und Kampagnen wiederholen sich, Aufmerksamkeit und Resonanz von Medien und Publikum lassen spürbar nach. Die Bescheuertheit beginnt, sich mit sich selber zu langweilen. Sie glaubt die Ideologie, der sie sich verschrieben hat, nur noch halb, glaubt aber gleichzeitig, nichts anderes glauben zu können. Den Zweifel nicht zuzulassen und ihn, etwa durch rastlosen Aktivismus, beständig wegzudrücken, wird nun oberstes Gebot.[2]

Wie aber lassen sich Halbgläubige bei der Stange halten? Dies ist die Stunde und Bewährungsprobe des ideologischen Virtuosen. Gruppierungen vom Typus der "ethischen Prophetie" (Max Weber), die die herrschenden Zustände als verderbt anprangern und eine Veränderung nicht durch das leuchtende Beispiel, sondern vor allem durch Massenmobilisierung erreichen wollen, stehen stets vor dem Problem, wie sie die Reinheit ihres elitären Glaubens bewahren und den Avantgardestatus behaupten können. Um sicherzustellen, dass sich die Alltagsagitation, die ja an die unmittelbaren Erfahrungen der Massen anschließen muss, nicht allzu sehr an deren profanen Einstellungen und Weltbildern orientiert und so die Essenz des Glaubens verwässert wird, müssen Dogmen eingerammt werden, die dann - und dies ist die Funktion des ideologischen Virtuosen - flexibel auf die jeweils aktuellen Probleme und Situationsdeutungen übertragen werden. Kurzum: Der ideologische Virtuose muss gewissermaßen ein antidogmatischer Dogmatiker sein, er muss die Gläubigkeit seiner Anhänger stets erneut anfachen und ihren unterdrückten Zweifel, die vorbewusste Gewissheit, dass ihre Ideologie letztlich nicht trägt, zerstreuen.

Dennoch unterliegt auch der übergläubige Virtuose dem Zwang chamäleonhafter Selbstdementierung. Auch er muss sich immer schon so verhalten, dass er möglichst nicht festgenagelt werden kann. Besonders wenn er Werte der "Mündigkeit", "Emanzipation", "Selbstverwirklichung" propagiert, hat er Anhänger bei Laune und in Erregung zu halten, die glauben, gegen jede Manipulation gefeit zu sein. Er muss Menschen führen, deren Selbstbild darauf gerichtet ist, keine Führung nötig zu haben und die sich doch insge heim danach sehnen. Ein instruktives Beispiel war das Spiegel-Gespräch (29. Mai 2006) mit Alice Schwarzer über fünfunddreißig Jahre neue Frauenbewegung. Dort sagte sie, nach drei Jahrzehnten Daueragitation doch etwas überraschend, den schlichten Satz: "Niemand ist emanzipiert, weder Sie noch ich." Das klingt zunächst nach Relativierung und Selbstkritik, doch der Eindruck täuscht. Tatsächlich ist das Wertmonopol irreversibel etabliert, denn wer so redet, verfügt offenbar über den Maßstab. Alle dürfen weiter dem Unerreichbaren hinterherhecheln. Kurz darauf heißt es: "Es geht nicht darum, Noten in Emanzipation zu verteilen." So funktioniert Bescheuertheit: Die Hohepriesterin weist die Oberlehrerattitüde von sich. Sie ist Normsetzer, das Geschäft der Normdurchsetzung übernehmen untere Chargen. Niemand ist emanzipiert, aber über den Begriff und die Weihen der Emanzipation entscheide ich! Jede soll nach ihrer Fasson glücklich werden, solange sie sich nur zum Emanzentum bekennt.

Potenzierte Verstiegenheit

Wie lässt sich nun Bescheuertheit phänomenologisch näher bestimmen? Ein probates Verfahren ist der Vergleich mit Benachbartem. Ebenso wie zum Beispiel die Bedeutung des Bullshit im Kontrast zum Humbug präzisiert werden kann[3], scheint es aussichtsreich, die Bescheuertheit von ähnlichen Formen und Ausdrücken wie etwa der Verblendung, der Verbohrtheit oder der Verbiesterung abzugrenzen und zu unterscheiden.

Verblendung ist ausschließlich kognitiv. Der Verblendete ist, wie der Bescheuerte auch, in seinem engen Weltbild gefangen, aber anders als jener vermag er die Wirklichkeit gar nicht mehr differenziert wahrzunehmen. Er lebt nur in der Nacht seiner Einbildungen. Der Bescheuerte hingegen ist in bestimmter Hinsicht außerordentlich wach und lauert auf Anlässe für Wortschwall und Entrüstung. Gewiss hat auch er rigide ideologische Scheuklappen, die Gegenerfahrungen gar nicht erst zulassen, aber in der vorgegebenen Handlungsrichtung ist er durchaus flexibel und sieht sehr scharf. Und das gilt auch für die anderen Sinne: Machtriecher und Witterung sind keineswegs unterentwickelt. Außerdem hat er nach wie vor ein Gespür für die Relevanzen der Normalität und ist so von der Wahnhaftigkeit des Verblendeten noch ein Stück entfernt.

Vom Verbohrten unterscheidet sich der Bescheuerte durch seine Außenorientierung. Verbohrt ist man nur für sich allein; die Versuche anderer, jemanden von seiner Verbohrtheit abzubringen, scheitern kläglich. Der Bescheuerte jedoch will anderen - und zwar letztlich allen anderen - seine Ordnungsvorstellungen oktroyieren, seine Bornierungen verallgemeinern. Auch die zugrundeliegenden Metaphern setzen unterschiedliche Akzente: Ebenso wie der Bohrer das Loch, das er bohrt, nur vertiefen, aber nie verlassen kann, hat die Verbohrtheit den Charakter einer Idiosynkrasie, einer psychischen Fixierung, die den Verbohrten immer weiter in die Sackgasse treibt. Dagegen gleicht die Bescheuertheit eher einer Art selbstauferlegter Gehirnwäsche, ausgeführt mit grobem Tuch oder Bürste, um alle Verschmutzung und Unebenheiten von Ich und Welt rigoros zu beseitigen.

Bei der Verbiesterung schließlich stehen das Leiden und seine Hässlichkeit im Vordergrund. Verbiesterung ist zuerst ein mimischer Ausdruck: So sehr er sie auch zu verbergen sucht, man sieht dem Verbiesterten seine Verbiestertheit an. In der Verbiesterung ist die Halbgläubigkeit in Krampf und Wut umgeschlagen, wobei die Aggression sowohl nach außen als auch nach innen gerichtet wird. Der Verbiesterte signalisiert Abscheu und Aversion gegen alles und alle, denen er für sein Elend die Schuld gibt, und ahnt doch insgeheim längst, dass niemand als er selber seine Situation verursacht hat. Verbiesterung ist zusammengebrochenes Charisma: Der Überhöhung des Selbst ist der psychische Absturz gefolgt.

Das ist beim Bescheuerten, der alle Affekte nach außen lenkt, gänzlich anders. Der Bescheuerte leidet nicht. Sein Selbstbewusstsein ist nicht nur ungebrochen, sondern sogar gesteigert. Schließlich kämpft er heldenhaft für die neue Ordnung. Er hält seine Bescheuertheit für Stärke und sieht sich selbst als überlegen und auserwählt.

Soweit die Annäherungen durch Vergleich. Den eigentlichen Schlüssel zur Analyse der Bescheuertheit sehe ich jedoch in einer kleinen Schrift von Ludwig Binswanger, die dieser Mitte des letzten Jahrhunderts über Drei Formen mißglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit (1956) verfasst hat. Einschlägig ist hier die Verstiegenheit, die er schön am Beispiel eines Bergsteigers demonstriert, der sich in einer Wand "verstiegen" hat. Die Höhe der Entscheidung hat mit der Weite der Erfahrung nicht schrittgehalten, er hat sein Können und seine Kräfte überschätzt und kann nun, in der Wand, weder vor noch zurück, gleichzeitig aber auch nicht aufhören.

Keineswegs geht es hier einfach nur um ein Missverhältnis zwischen Streben und Fähigkeiten oder Charakterdefizite bestimmter Individuen und Gruppen. Kennzeichnend für die Seinsweise der Verstiegenheit als einer anthropologischen Möglichkeit ist vielmehr die Verabsolutierung einer einmal getroffenen Entscheidung gegen alle Folgeprobleme und voranschreitende Erfahrung. Es handelt sich um "ein Eingeklemmtsein oder Festgebanntsein auf einer bestimmten Höhenstufe oder Sprosse menschlicher Problematik ... Sofern hier überhaupt noch 'Erfahrungen' gemacht werden, werden sie nicht mehr als solche gewertet und verwertet; denn 'der Wert' liegt hier ein für allemal fest." Der Verstiegene hat sich irreversibel seiner eigenen Entscheidung ausgeliefert und alle Beweglichkeit in der Wahrnehmung der Verhältnisse eingebüßt. Einzig durch fremde Hilfe kann er wieder Boden unter den Füßen gewinnen.

Bescheuertheit nun ist so etwas wie potenzierte Verstiegenheit, gewissermaßen Verstiegenheit hoch zwei. Übersteigerte Ambitioniertheit und Selbstüberschätzung sind hier Hybris. Eine ideologische Grundpolung - Binswanger nennt Ideologien "wesensmäßig Verstiegenheiten" - wird derart verabsolutiert, dass die darin geglaubte Wahrheit den unauslöschlichen Charakter einer apodiktischen Evidenz (nach Edmund Husserl: "schlecht hinnige Unausdenkbarkeit des Nichtseins derselben") bekommt. Der Bescheuerte kann sich gar nicht vorstellen, dass mit seinem Glauben irgendetwas nicht stimmt. An der Ostberliner Humboldt-Universität kursierte in den siebziger Jahren ein Witz. Was ist der Unterschied zwischen Idealismus, Materialismus und Marxismus-Leninismus? Idealismus ist, wenn man in einem völlig schwarzen Raum eine schwarze Katze sucht. Materialismus ist, wenn man in einem völlig schwarzen Raum, in dem keine Katze ist, eine schwarze Katze sucht. Marxismus-Leninismus ist, wenn man in einem völlig schwarzen Raum, in dem keine Katze ist, eine schwarze Katze sucht und immerzu ruft "Ich hab sie!".

Das Problem ist: Der Bescheuerte glaubt tatsächlich, die Katze gefangen zu haben. Es ist ihm bitter ernst, und er zögert nicht, Nägel mit Köpfen zu machen. Lutz Marz berichtete in einem Aufsatz in der Zeitschrift Prokla (Nr. 80, September 1990) vom betrieblichen Meldewesen der DDR: Ein Betrieb hat den Plan übererfüllt. Am zweiten Tag des neuen Monats kommt eine Planänderung, durch die er vom Übererfüller zum Untererfüller wird. Verbunden mit der Planänderung ist die Aufforderung, detailliert zu begründen, weshalb der Betrieb den Plan untererfüllt habe, sowie konkrete Schritte anzugeben, wie er den Rückstand in nächster Zeit aufholen wolle. - Man muss sich einmal klarmachen, was Menschen angetan wird, die dazu gezwungen werden, sich Gründe für Fehler einfallen lassen zu müssen, die sie gar nicht gemacht haben. Denn die wirkliche Ursache der Untererfüllung, die Planänderung, ist natürlich tabu. (Die heutige Hochschulpolitik funktioniert übrigens über weite Strecken ähnlich.)

Bescheuertheit ist nicht nur eine Befindlichkeit von Menschen, sondern zugleich eine soziale Mechanik. Sie kennzeichnet den Realitätsverlust in Gruppen[4] ebenso wie die Perpetuierung von Zuständen, die wir gemeinhin als "kafkaesk" bezeichnen. Hierzu bedarf sie einer kollektiven Struktur wechselseitiger Verpflichtung und Bestätigung. Ohne Bescheuertheitsgemeinschaft keine politische Bescheuertheit. Bescheuerte müssen sich die Wahrheit ihrer Ideologie ständig gegenseitig einreden, um sich auch bei Rückschlägen ihre Standfestigkeit zu beweisen und den Virus des Zweifels fernzuhalten. Trotzdem kommt es natürlich, schon aufgrund der Abstufungen und Gradualität der Bescheuertheit, immer wieder zu Spaltungen und Konflikten. Schwach oder minder Bescheuerten stehen hundertfünfzigprozentig und sogar dreihundertprozentig Bescheuerte gegenüber, zwischen denen nicht selten erbitterte Glaubenskämpfe toben.

Bei alledem ist wichtig: Bescheuertheit ist eine reine Beobachterkategorie, die nur "von außen" Geltung beanspruchen kann. Der Bescheuerte weiß nichts von seiner Bescheuertheit, sondern hält sie oftmals für einen Beweis seiner Unbeugsamkeit und Stärke. Man kann sich das an der Differenz von Heuchelei und Bigotterie klarmachen. Während der Heuchler weiß, dass er heuchelt, hat die Bigotterie von ihrer Doppelmoral keine Ahnung. Sie fühlt sich nicht nur im Recht, sondern im Überrecht. Ebenso die Bescheuertheit: So sehr ist sie von der absoluten Wahrheit ihrer Überzeugung überzeugt, dass alle Weigerung oder Widerspenstigkeit der Ungläubigen, sich bekehren zu lassen, niemals auf eigene Defizite, sondern immer nur auf die ungebrochene Prägekraft der verderbten Verhältnisse zurückgeführt werden kann. Auch dies kann man allerdings häufig beobachten: Findet die Bescheuertheit keinen Beifall oder stößt gar auf Widerspruch, spielt sie sofort die beleidigte Leberwurst.
Das Beispiel Quotendeutsch

Der Paradefall für den Aufstieg und die Etablierung der Bescheuertheit ist sicher die in den letzten Jahrzehnten betriebene feministische Sprachpolitik. Wenn sich in den sechziger Jahren der Regierende Bürgermeister von Berlin in einer Rede an "alle Berliner" wandte, wäre weder er noch irgendeine (West-)Berlinerin auf die Idee gekommen, er könnte nur die männlichen Berliner angesprochen haben. Niemand wurde und niemand fühlte sich dadurch diskriminiert. "Alle Berliner" - das sind einfach alle Menschen, die in Berlin leben. Erst die durch feministische Daueragitation oktroyierte Veränderung der Hörgewohnheiten schafft hier das Problem, für dessen Lösung man dann das Rezept, eben das Quotendeutsch, parat hat. Seitdem gibt es nur noch "Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten", "Magdeburgerinnen und Magdeburger" oder - in der verschärfen bisexuellen Variante - "MitarbeiterInnen", "GesundheitsreformerInnen" usw. Nicht so zu reden, sei frauenfeindlich. Und dies ist längst nicht mehr nur auf das rot-grüne Lager beschränkt, sondern gilt auch im letzten Winkel der konservativen Provinz. Nun haben totalitäre Ideologien schon immer versucht, eine Neuordnung der Verhältnisse durch rigorose Sprachnormierung, vor allem eine Ersetzung des Lexikons, durchzusetzen. (Man denke hier etwa an George Orwells "Neusprech" oder die DDR-Kreation der "Jahresendfigur mit Flügeln".) Was am Quotendeutsch jedoch neu und auch anders ist, ist die ideologische Durchforstung und Umstülpung von Syntax und Semantik. Keine grammatische Form, Wortbedeutung oder Formulierung, die nicht auf ihre vorgebliche "Männlichkeit" oder ihren latenten patriarchalischen Herrschaftsgehalt durchleuchtet würde. Und zwar jenseits aller sonstigen Sinnzusammenhänge. Anfang der neunziger Jahre hielt ich einen machtsoziologischen, später im Merkur (Nr. 513, Dezember 1991) veröffentlichten Vortrag über Seilschaften. Es ging um Interessendivergenzen als inneren Sprengsatz im Gefüge solcher Gruppen: Wenn der Obermann das Ziel schon erreicht hat, kann er, wenn er will, das Seil kappen und Mittel- und Untermann abstürzen lassen. Als ich dies referierte, meldete sich aufgeregt eine junge Frau: Sie fände das alles ganz furchtbar, was ich da erzählte, und vor allem störe sie, dass die Mitglieder der Seilschaft bei mir allesamt Männer - Obermann, Mittelmann, Untermann - seien. Es dauerte einen Moment, bis ich meine Verdutztheit überwand. Als ich ihr dann jedoch anbot, sie dürfe anstelle meiner Bezeichnungen im Geiste gern "Oberfrau", "Mittelfrau" und "Unterfrau" einsetzen, war es ihr irgendwie auch nicht recht.

Zweifellos lag die große Zeit der sprachpolitischen feministischen Bescheuertheit in den siebziger und achtziger Jahren. Beschlussvorlagen eines akademischen Senats forderten "die Erhöhung des Frauenanteils unter den ProfessorInnen", Frauenbeauftragte wollten durchsetzen, dass in Leistungsbeurteilungen auszubildender Frauen künftig von "kauffräuischen Kenntnissen" die Rede sei, der Bürgermeister von Eutin trug, durchgesetzt von einer rot-grünen Ratsmehrheit, zeitweise die offizielle Amtsbezeichnung "Bürgermeisterin", obwohl er ein Mann war. Die weiblichen Mitglieder des Berliner Senats mutierten zu "Mitgliederinnen" (so die AL-Frauensenatorin Anne Klein im März 1989). Gewiss, das ist alles schon eine Weile her und verdient nichts als den sanften Mantel des Schweigens. Trotzdem ist das Herumeiern keineswegs vorbei, sind die Relevanzen der sprachlichen politischen Korrektheit - jede Politikerrede oder Talkrunde beweist es - nach wie vor allgegenwärtig und intakt. Als im September 2007 die deutsche Fußballnationalmannschaft der Frauen Weltmeister wurde, unterlief der heute-Sprecherin Petra Gerster ein kleiner Versprecher: "Unsere Fußballfrauen sind Weltmeister-in." Immerhin bügelten die Spielerinnen und ihre Trainerin den politisch korrekten Fauxpas im nachfolgenden Bericht wieder aus, indem sie sich unbändig freuten, "Weltmeister" geworden zu sein. (Gleichzeitig zeigt das Beispiel auch, dass die Normalisierungserfolge der Bescheuertheit nicht in den Himmel wachsen und die Dinge ständig im Fluss sind. So hätte die früher vehement geforderte "Frauschaft" heute wohl keine Chance, überhaupt gehört oder ernst genommen zu werden.)

Darüber hinaus gibt es weitere Folgewirkungen. Bescheuertheit pflanzt sich fort und reproduziert sich auch dort, wo man ihr ausweichen will. Dies zeigen etwa die sprachlichen Verrenkungen an Hochschulen, die im übrigen von den heutigen Studentengenerationen besonders im Osten subtil registriert werden. So kann man bei Einführungsveranstaltungen für Erstsemester, in denen "die lieben Studentinnen und Studenten" im Namen aller "Professorinnen und Professoren" sowie "Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" herzlich willkommen geheißen werden, manchmal beobachten, wie über die Gesichter vor allem der Studentinnen ein leicht mitleidiges Lächeln huscht, als wüsste man jetzt bereits, mit wem man es hier zu tun hat.

Um indes die umständliche Doppelformulierung alltagssprachlich zu vermeiden, haben sich alle meine Kollegen (ich natürlich nicht!) angewöhnt, anstelle von "Studenten" oder "Studentinnen und Studenten" im laufenden Redefluss üblicherweise von "den Studierenden" zu sprechen. Darin wird jedoch die Bescheuertheit erst recht verallgemeinert. Student ist, wer an einer Hochschule immatrikuliert ist. Wird nun, um die "männliche" Gruppenbezeichnung zu umgehen, im Ausweichen auf das Partizip ein Tätigkeitskriterium zum Prinzip der Substantivbildung, so wirft dies sofort das Folgeproblem auf, wie denn mit jenen umzugehen sei, auf die das allgemeine Klassifikationsmerkmal zwar zutrifft, die aber gleichzeitig das Tun verweigern. Ob Studenten tatsächlich studieren, ist ja auch in Bachelor-Zeiten, in denen Studieren oftmals einfach nur Absitzen von Veranstaltungen plus Internet bedeutet, immer noch eine empirische Frage. Studenten, die nicht studieren, kann es geben, aber "Studierende", die nicht studieren - das klingt irgendwie blöd.

Wie gesagt, das ist längst normal. Es wäre vollkommen falsch, aus dem Scheitern der abstrusen Maximalismen der siebziger und achtziger Jahre auf eine gelungene Abwehr oder gar Neutralisierung der Bescheuertheit zu schließen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, ist die Allgegenwart ihrer Relevanzen seit langem Bestandteil der dominanten Kultur. Außerdem kann sie ja nicht aufhören. Wenn das eine nicht klappt, muss man eben etwas anderes probieren: statt Sprachpolitik verschärfte Antidiskriminierungskampagnen, Adoptionsrecht für Schwule und Lesben, Gender-Mainstreaming. Niemand ist emanzipiert. Neue Möglichkeiten der Themen- und Adressatenverschiebung werden sich allemal finden lassen.

Andererseits muss man sehen, dass sich das ganze Brimborium trotz seiner großen atmosphärischen Auswirkungen auf das Aggressionsniveau und die Grundbefindlichkeit der Gesellschaft ja im Wesentlichen auf die Sektoren der Normsetzung und Normdurchsetzung, also Politik und Bürokratie, beschränkt. Im wirklichen Leben und Zusammenleben von Männern und Frauen spielt es oft kaum eine Rolle. Gesetzentwürfe des Familienministeriums, Parteienstreit um Anreizsysteme, Emanzenblech aus den Medien - all das ist im Alltag der Menschen nur fernes Hintergrundgeräusch und allenfalls Material für Klatschgespräche. Sicher, wenn es Geld gibt, nehmen sie es mit. Aber ansonsten lieben und trennen sie sich, bekommen Kinder oder nicht und arrangieren ihren Haushalt. Und wenn die Relevanzen der Bescheuertheit tatsächlich in die persönlichen Auseinandersetzungen eingedrungen sind, kann man die Sache ohnehin vergessen. Dann ist das Private politisch, also zerstört.

Dort, wo es darauf ankommt, zählen für die Menschen im Grunde zwei Dinge: Interessen und Gefühle, vor allem Gefühle. Und an ihrem Fühlen und gefühlten Realitätssinn prallt letztlich alle Bescheuertheit ab. Nur die Bescheuerten selbst haben ihre Gefühlswelt umgepolt. Alle anderen spüren intuitiv, welch hohen Preis sie für die ideologische Bekehrung entrichten müssten. Liebe, Erotik, Geschlechterspannung sind zuallererst ein Spiel; der niederländische Anthropologe Frederik J. J. Buytendijk sah im Liebesspiel den Prototyp des Spielens überhaupt. Feminismus ist Abtreibung von Spielfähigkeit. Wo immer es um Verstehen, Einfühlung und Nuancen geht, hat er am Ende keine Chance. Man stelle sich einmal ein Liebesgeflüster vor, in dem plötzlich der Begriff "Gender-Mainstreaming" auftaucht! Es gibt keine politisch korrekte Erotik, und auch kein quotendeutsches Gedicht.

Oder doch? Eines immerhin gibt es, das auf diesen Unfug Bezug nimmt. Es stammt aus dem Nachlass von Ernst Jandl: "diese gedichte können, da es vorzüglich / gedichte zur bewältigung des Lebens sind, / in jeder beliebigen reihenfolge von Ihnen / gelesen werden, verehrte lederriemen / und leser." Das ist frech. Wenn man so will: Frechheit gegen Bescheuertheit.

[1] Vgl. Volker Zastrow, Gender. Politische Geschlechtsumwandlung. Waltrop: Manuscriptum 2006
[2] Zum Halbglauben vgl. Rainer Paris, Normale Macht. Konstanz: UVK 2005
[3] Vgl. Harry G. Frankfurt, Bullshit. Frankfurt: Suhrkamp 2006
[4] Vgl. Leon Festinger u. a., When Prophecy Fails. New York: Harper & Row 1956; Heinrich Popitz, Soziale Normen. Frankfurt: Suhrkamp 2006

"Bescheuertheit" von Prof. Dr. Rainer Paris, erschien im Merkur - Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 704, Januar 2008 (www.online-merkur.de).

Der Beitrag erschien außerdem in: Gender, Liebe & Macht von Rainer Paris, Waltrop & Leipzig: Manuskriptum 2008

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