Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 2 - 21.05.2006 - 25.10.2012

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Noch einmal zur jüngeren Geschichte

Scipio Africanus, St.Gallen, Sunday, 21.05.2006, 22:18 (vor 6559 Tagen) @ carlos

Servus, beisammen!
Ich eröffne hier einen neuen Diskussionsfaden, weil der andere bereits
ins Archiv zu entschwunden ist, andererseits mir das Thema jedoch viel zu
wichtig bleibt, als daß man es einfach ad acta legen sollte.

Obwohl ich nicht direkt angesprochen bin, äussere ich mich zu diesem Thema, da es mich interessiert.

Die zentrale Frage lautete - wenn ich das richtig verstanden habe - ob es mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung vereinbar sei, die "Leugnung des Holocaust" als Straftatbestand zu erfassen und damit unter Strafe zu stellen.

Obwohl ich keinerlei Sympathien für derartige Ansichten hege, und ich durchaus vermute, dass die Gründe dieser Geschichtsforscher in aller Regel nicht ehrenwert sind, halte ich diese Rechtspraxis für bedenklich.

Im angelsächsischen Rechtsraum, wie beispielsweise GB, wird der Rechtsbegriff "Rede - und Meinungsfreiheit" sehr konsequent angewandt, und damit ist es auch erlaubt, die Massenvernichtung von Juden während des 2. Weltkriegs als Propagandalüge darzustellen, und zwar unabhängig von der Qualität der Argumente. Die Gleichung : Holocaustleugnung erlauben = Nazi, gilt somit sicherlich nicht und wäre gegenüber vielen Menschen diffamierend.

Ich stelle fest, dass das Verbot die anvisierten Ziele verfehlen muss. Der Wunsch nach dem "nie wieder" kann nicht durch Gesetze verwirklicht werden. Moral und Gesinnung, ja Bewusstsein lässt sich nicht verordnen.

Ebenso zeigt sich, dass sich Neonazismus nicht durch Publikationsverbote eindämmen lässt. Sie sind vielleicht sogar kontraproduktiv, denn durch das Verbot können sich Nazis als politisch Verfolgte darstellen.

Durch das Verbot der Leugnung des Holocaust wird eine echte Auseinandersetzung erschwert. Das Resultat davon ist eine Scheinauseinandersetzung, die sich in ritueller Empörung erschöpft. Eine Tabuisierung erschwert oder verhindert in vielen Fällen eine echte Aufarbeitung.

Ungeklärt muss auch die Frage bleiben, ob die Argumente, die für das Verbot sprechen, nicht auch auf andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit angewandt werden können. Soll das Verbot der Leugnung ausschliesslich für den Holocaust gelten, oder sollen beispielsweise auch die Verbrechen der Türken an den Armeniern als Genozid gewertet werden, und soll jemand, der dies verneint, bestraft werden ? Diese Frage wurde in der Schweiz mit ja beantwortet. Wer öffentlich behauptet, dass an den Armeniern kein Völkermord verübt wurde, der macht sich strafbar. Solche Gesetze haben die Tendenz, sich auszuweiten. Es kann aber nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sein, die Deutung geschichlicher Ereignisse per Gesetz festzuschreiben, selbst dann nicht, wenn die Faktenlage Eindeutigkeit nahelegt.

Die Sensibilitäten sind ausserordentlich verschieden. So hätte eine Aussage wie "Juden sind genetisch minderwertig und eine ursprünglich parasitäre Rasse" mit Sicherheit strafrechtliche Konsequenzen. Die sinngemäss gleiche Aussage konnten Schreiberlinge vom Spiegel aber völlig unbeschadet gegenüber Männer behaupten, als sie in einem Artikel über das Y - Chromosom als "verkrüppeltes X - Chromosom" schwadronierten und das männliche Geschlecht als ursprünglich parasitäre Lebensform bezeichneten. Es zeigt sich also, dass nur gesellschaftliche Sensibilitäten über die Anwendung oder Nichtanwendung entscheiden. Somit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Soweit das Gesetz ausschliesslich auf den Holocaust angewandt werden soll, ist es wohl nur als Resultat der Geschichte Deutschlands verständlich.

Zudem gibt es möglicherweise auch Holocaustleugner, die tatsächlich glauben, die Vernichtung der Juden sei eine Propagandalüge, trotz der Faktenlage, ohne Antisemiten zu sein. Jede Verschwörungstheorie hat ihre Anhänger. Das ist zwar so wenig glaubwürdig wie die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, doch Dummheit war noch nie strafbar.

Oft wird die "Singularität des Holocaust" als Argument angeführt, um das Gesetz zu rechtfertigen. Dem stehe ich ablehnend gegenüber. Jedes geschichtliche Ereignis ist einzigartig, und sei es nur in Raum und Zeit. Jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird am Holocaust gemessen und wird in der Regel dadurch verharmlost. Erst wenn Analogien herstellbar sind, wird es in der Öffentlichkeit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit wahrgenommen. Ich erinnere an den Bosnienkrieg, wo erst ein Bild eines abgemagerten Häftlings hinter Stacheldraht, das an Nazi - KZ`s erinnerte, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren vermochte.

Sofern das Andenken an die Verstorbenen vor der Verhöhnung durch Neonazis geschützt werden soll, so muss auch hier festgestellt werden, dass dieses Ziel verfehlt wurde.

Aus den angeführten Gründen befürworte ich die Rechtspraxis, wie sie im angelsächsischen Raum besteht.

Es ist doch schade, wenn den Neonazis keine Gelegenheit geboten wird, sich mit ihren Thesen lächerlich zu machen.


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