Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Komplexität oder "Du machst es Dir leicht"

Thorsten, Saturday, 30.07.2011, 06:51 (vor 4663 Tagen) @ Schmierfink
bearbeitet von Thorsten, Saturday, 30.07.2011, 07:03

Die besten Lösungen noch so komplizierter Probleme sind fast immer einfach. Sie zu finden, darin steckt wahre Genialität. Komplizierte Lösungen finden kann jeder. (Beispiele für einfache, geniale Lösungen: Büroklammer, Reißzwecke, AK-47, T-34, Steuerrecht der Republik Kroatien oder Estlands).

Zum T-34 kann nichts sagen, auf das Steuerrecht werde ich unten eingehen, aber die Probleme, die durch Büroklammer (Papierstapel vorübergehend verbinden), AK-47 (Verschluss von Sturmgewehr 44 verbessern) und Reißzwecke (Papier an die Wand heften) gelöst werden, sind eben gerade nicht komplex, sondern isoliert betracht- und lösbar. Solche Probleme sind mir auch die liebsten, weil ich elegante Lösungen und gutes Design durchaus schätze.

In Anbetracht dessen, was für Probleme Du uns hier als "komplex" präsentierst, und das war mein Begriff, nicht "kompliziert", hätte ich gerade gute Lust, polemisch zu werden. Ich verkneif's mir mal.

Komplexität entsteht durch Offenheit und Wechselwirkungen mit anderen Systemen. In der Politik sind das zum einen die internationalen Beziehungen und Konflikte mit anderen Ländern. Da geht es um den Zugang zu Rohstoffen, Produkten, Kapital und Absatzmärkten. Zum anderen gibt es innerhalb einer Gesellschaft Individuen mit unterschiedlichen Werten, Interessen und Lebensentwürfen, die ebenfalls teilweise in Konflikt stehen und dennoch so organisiert werden müssen, daß sie eine überlebensfähige Gemeinschaft bilden. In einem totalitären Staat, in dem nach außen die Grenzen abgeschottet sind und nach innen Konformität erzwungen wird, ist sicher so manches "einfacher".

Man erklärt die Thematik für komplex, den Gegner für versimpelnd, und fertig ist die Soße.

Oder man denkt ein bisschen zu einfach und rüstet erst afghanische Widerstandskämpfer gegen die Rote Armee aus, um sie danach als Taliban zu bekämpfen. Man begradigt Flüsse und wundert sich hinterher über die Hochwasser. Man legt riesige Monokulturen an und wundert sich über rasante Ausbreitung von Krankheiten und Schädlingen. Man bekämpft diese mit Gift und wundert sich über das Gift in unserer Nahrung. Man kurbelt die Wirtschaft mit billigem Geld an und wundert sich über Spekulationsblasen. Und man holt sich Gastarbeiter ins Land und wundert sich, daß diese nicht nur Ihre Arbeitskraft, sondern auch Ihre Religion und Kultur mitbringen. Alles einfache, geniale Lösungen. Zu ihrer Zeit. Und jetzt im Nachhinein wüßten wir es natürlich viel besser und hätten es bestimmt "richtig" gemacht.

Komplexe Probleme erkennt man gerade daran, daß die einfachen, genialen Lösungen plötzlich zu unerwarteten Nebenwirkungen führen. Wer sich einmal näher damit beschäftigen möchte, dem kann ich Dietrich Dörners Die Logik des Mißlingens (die Kunst des Steuerns) und Thomas C. Schellings Micromotives and Macrobehaviour (Einzelverhalten und Gruppendynamik) empfehlen.

Ewig verschleppen geht nicht, irgendeine natürliche Grenze findet sich, mit mathematischer Gewißheit.

Das Verschleppen ist ein Problem quer durch alle Parteien und hat oft mehr mit Popularität als mit Komplexität zu tun. Wer will denn schon riskieren, durch unpopuläre Maßnahmen oder mögliche Fehlentscheidungen Wähler zu verprellen? Das Steuersystem ist das beste Beispiel dafür. Das ist deswegen so komplex, weil es für alle möglichen Interessengruppen Spezial- und Ausnahmeregeln beinhaltet. Klar kann man das einfacher haben, nur gibt es wohl keine Partei, deren Wähler dabei nicht auch etwas zu verlieren hätten. Und da liegt der Hase im Pfeffer: Einfache Lösungen, die gleichzeitig noch alle Wähler zufrieden stellen, die sind Mangelware. Solltest Du eine haben, dann melde Dich bitte dringend in Berlin, Bern oder Wien.

Thorsten: Seine Orientierung dagegen, bei der kann jeder selbst nachlesen, wo sie herstammt.
Ja, natürlich, aber das ist doch bedeutungslos!

Ist es das? Du meinst also, das Problem wäre, daß ein Mensch in unserer Gesellschaft orientierungslos sein kann, weil er eben die Wahl zwischen verschiedenen Lösungsansätzen hat, ohne eine einfache fertige Lösung angeboten zu bekommen? Ist die Wahlfreiheit an sich das Problem? Wäre es also einfacher, wenn nur eine Ideologie vorgegeben wäre und man sich nicht orientieren müßte? Entscheidungsfreiheit mal ganz anders, nämlich als Freiheit vom Zwang zur Entscheidung?

Ich dagegen habe den Verdacht, daß Ideologien, die einfache Lösungen versprechen, schon automatisch den Hang zum Totalitären und zur Gewalt in sich tragen.

Was wäre denn aus Breivik geworden - du selbst beschreibst ihn als orientierungslos - wenn er Wilders' und Sarrazins und Fjordmans Schriften nicht gefunden hätte? Na dann hätte er sich halt im Kampf gegen den Kapitalismus geopfert oder gegen das Patriarchat oder gegen die Umweltverschmutzer oder gegen die Tiermörder oder gegen die Abtreiber. An Ideologien, die sich in dem Sinn mißbrauchen lassen, ist doch wohl nun wirklich kein Mangel.

Keine Frage, aber ich hoffe doch, Dir entgeht nicht die Ironie, daß nun genau die Leute, die jahrelang den gesamten Islam als Bedrohung und Terrorreligion brandmarken wollten, auf einmal zu unglaublich differenzierten Betrachtungen in der Lage sind, ohne aber auch einen Gedanken an ihr eigenes Verhalten in der Vergangenheit zu verschwenden, daß sie den Haßpredigern, die ihnen so verhaßt waren, gar nicht so unähnlich werden ließ.

Und so ziemlich jede Ideologie, die mißbraucht wurde, muß(te) sich kritisieren und hinterfragen lassen. Wobei typischerweise die Anhänger der jeweiligen Ideologie selbst große Resistenz gegen Kritik und Selbstreflektion beweisen, während die Gegner gar nicht genug davon bekommen können, und sich beides, wie so vieles, gegenseitig bedingt.


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