Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Ich habe eine Frage

Maesi, Wednesday, 19.04.2006, 01:11 (vor 6583 Tagen) @ John

Als Antwort auf: Ich habe eine Frage von John am 11. April 2006 11:03:

Hallo John

Gestern ist mir ein Flugblatt in die Hand gedrückt worden, auf dem stand: "90% aller Armen der Welt sind Frauen. Sie leisten 60% der aller Arbeit, erhalten 10% des Lohns und besitzen 1% des weltweiten Vermögens."
Dass das nicht stimmen kann versteht sich von selbst, aber ich suche jetzt handfeste Argumente, also Belege, Statistiken usw. wie es sich wirklich verhält.

Sofern es ueberhaupt Statistiken gibt, sind die wahrscheinlich mit grossen Unsicherheiten behaftet. Bei den im Flugblatt genannten Zahlen handelt es sich ganz einfach um Propagandazahlen, die sich irgendwer aus den Fingern gesogen hat, um seine eigenen ideologischen Vorurteile zu 'stuetzen'.

Die Armut beispielsweise wird normalerweise am Einkommen gemessen. In Gesellschaften, in denen die Erwerbsarbeit Maennersache ist, waehrend Frauen eher Arbeiten im haeuslichen Bereich erledigen, sind Frauen nach dieser Definition natuerlich arm. Frauen, die von Beruf Hausfrau sind, rutschen nach dieser Definition sofort in die Armutsstatistik; im Extremfall gilt sogar die Ehefrau eines Multimilliardaers als arm, sofern sie ueber keine eigenes Einkommen verfuegt und nur von der Kohle ihres Mannes lebt. Alternativ muesste man also den effektiven Gueter- und Dienstleistungsverbrauch der Menschen statistisch erfassen, was aber sehr aufwendig waere. Gerade in Laendern mit grosser Armut leben Menschen (v.a. die Frauen) meist in Familien; in symbiotischen Schicksalsgemeinschaften also, innerhalb denen eine geschlechterbezogene Aufteilung von Armut und Reichtum voellig schwachsinnig erscheint.

Auch die Definition von Arbeit ist nicht eindeutig, sondern widerspiegelt sehr stark die persoenliche Einstellung zu einer Taetigkeit, die man ausuebt. Der Mann, der hobbymaessig eine alte Dampflok wiederinstandstellen hilft, die Frau, die in ihrer Freizeit Vasen, Kruege oder Geschirr toepfert; solche Taetigkeiten wuerde ich nicht als Arbeit qualifizieren. Desweiteren ist natuerlich nicht jede Arbeit gleich schwer und aehnlich risikoreich. Der Mineur, der Chirurg, der Journalist, der Landwirt ueben voellig verschiedene Taetigkeiten aus, welche sie auch in sehr unterschiedlicher Art und Weise belasten; ein direkter Vergleich ihrer Arbeiten ist schlichtweg unsinnig. Gerade was die Arbeit von Hausfrauen anbelangt, sind viele ihrer Taetigkeiten gar nicht notwendig sondern lediglich 'nice to have'. Wer in seinem Beruf mit der Effizienz einer durchschnittlichen Hausfrau arbeitete, wuerde sich wahrscheinlich ziemlich schnell nach einem neuen Job umsehen muessen.

Was das weltweite Vermoegen anbelangt, so ist es sehr ungleich verteilt. Was nuetzt es dem armen vietnamesischen Reisbauern, dass die grosse Mehrheit der Milliardaere seine Geschlechtsgenossen sind? Ueberhaupt nichts. Und die meisten Vermoegenswerte lassen sich sowieso nicht einem bestimmten Geschlecht zuordnen, weil sie im Besitz von geschlechtslosen Institutionen (Unternehmen, Stiftungen, Genossenschaften, Staaten usw.) sind.

Allerdings sollte man in den aussichtslosen Versuch, solche apodiktischen Behauptungen fundiert zu widerlegen, nicht allzuviel Zeit und Energie investieren. Fuer die Situation in Europa sind diese Zahlen sowieso voellig irrelevant. Wahrscheinlich besteht die beste Taktik darin einfach zu entgegnen, dass die Propagandazahlen erstunken und erlogen seien - was sie mit ziemlicher Sicherheit auch sind. Sollen doch die Kolporteure solcher 'Weisheiten' deren Wahrheit belegen; diese Behauptungen sodann fachgerecht zu zerpfluecken, ist allemal einfacher.

Kann mir jemand weiterhelfen?

Mit aussagekraeftigen Statistiken leider nicht, weil die ungluecklicherweise nicht existieren. Eben deshalb koennen sich ja auf diesem Gebiet Scharlatane tummeln und solche Propaganda in Flugblaettern publizieren, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stossen.

Gruss

Maesi


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