Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Beschneidungs-Urteil löst heftige Kritik aus - m.E. zurecht! (Allgemein)

dentix07, Saturday, 30.06.2012, 00:31 (vor 4531 Tagen) @ Lentze

Hier geht’s aber hoch her!

Ich sehe mich bemüßigt auch meinen Senf zu diesem Urteil/Thema beizusteuern.

1. Es wird immer wieder angeführt Beschneidung wäre eine jahrtausendalte jüdische religiöse Praxis [der Islam hat sich dem lediglich angeschlossen] und unverzichtbares Symbol des Bundes zwischen Israel und Gott. Stimmt bloß nicht ganz, denn schon die alten Ägypter haben nachweislich beschnitten; Jungen und Mädchen! Und auch im Katholizismus war die Beschneidung lange üblich.
Selbst die Aborigines kennen – so weit mir bekannt – verschiedene Arten der Beschneidung. Eine davon ist das Aufschlitzen der Unterseite des Penis. (Muß verdammt weh tun, ohne Betäubungsmittel!)
Nur, das etwas uralter Brauch ist, kann KEIN Argument dafür sein! Auch Menschen- und Tieropfer, Sklaverei, grausame Hinrichtungsmethoden, Töten mißgebildeter Kinder, Verstümmelungen (die chinesischen „kleinen“ Füße, Kastraten) waren seit ewigen Zeiten geübter Brauch und Bestandteil vieler Kulturen. Trotzdem wird kein normal denkender Mensch HEUTZUTAGE diese Bräuche noch als legitim akzeptieren!

2. Das Argument des lebenslangen Traumas halte ich für Quatsch! Wenn Beschneidung denn sein müßte, wäre das frühe Kindesalter, da die Erinnerungsfähigkeit erst später einsetzt, das Richtige. So gesehen ist das jüdische Vorgehen (man darf nicht vergessen, daß es bei Entstehung des Brauches KEINE Anästhetika gab) sogar das kindesfreundlichste.
(Ich habe mit 4 einen Topf mit kochenden Wassser vom Herd gerissen und mir beide Füße verbrüht, nein, darunter leide ich nicht, habe kein „ewiges Trauma“! Ja ich wüßte es nicht einmal mehr, wenn meine Eltern es mir nicht erzählt hätten!)

3. Aufgrund fürchterlichster Erfahrung steht im Grundgesetz das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 (2)) noch VOR dem Recht auf freie Religionsausübung (Artikel 4 (1) u. (2)) und VOR dem Elternrecht und der Elternpflicht (Artikel 6 (2).
In die Rechte des Artikels 2 darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Dazu beachte man auch:

GG Artikel 19
[Einschränkung von Grundrechten – Rechtsweg]
(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.
(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet
werden.

(Es gibt aber – bisher zumindest noch nicht – kein Gesetz das die Beschneidung bei Jungen regelt! Mag sein daß dies Urteil das ändert!)

Eigentlich ist JEDER Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Anderen in Deutschland eine Straftat. (Zahn)Ärzte, die dies nun mal aufgrund der Berufsausübung tun müssen (Spritzen, Chirurgie), dürfen das NUR durch die Ausnahmegestattung des Heilkundegesetzes, und auch NUR bei medizinischer Notwendigkeit UND gültiger Zustimmung des Patienten.
Z.B. die erzwungene Blutprobe (wegen Alk am Steuer) bedarf der richterlichen Anordnung, andernfalls macht sich der ausführende Arzt strafbar!

Da fragt man sich warum, wenn selbst bei Erwachsenen derart strenge Maßstäbe angelegt werden, dies ausgerechnet bei Kindern – die ansonsten als besonders schutzbedürftig angesehen werden - NICHT gelten soll?

Und es kommt noch etwas dazu. Die männliche Beschneidung ist tatsächlich einer der häufigsten Eingriffe und die Komplikationsrate ist nicht hoch, jedoch, WENN sie schiefgeht, hat das für den Jungen schnell dramatische Folgen. Beispiel David Reimer! Dessen Zirkumzision – sogar aufgrund diagnostizierter Phimose (ist eine medizinische Indikation!) - ging schief und in Folge mußte der gesamte Penis amputiert werden. (Das Forum wird die Geschichte kennen, ansonsten googeln oder WikiMannia oder Wikipedia!)
Außerdem: Mit welchem Recht macht man das Recht auf körperliche Unversehrtheit a. vom Geschlecht, b. von der (angeblichen) Schwere des Eingriffs abhängig (bei Jungen erlaubt, bei Mädchen verboten)?
Haben Jungen ein geringeres Recht auf körperliche Unversehrtheit?

4. Die angeführten (angeblichen) Hygiene- und Krankheitsvermeidungsargumente sind nicht stichhaltig!
Die Vorhaut ist ein natürlicher Teil des männlichen Körpers und hat eine Funktion, nämlich die des Schutzes der Eichel. Diese Funktion mag aufgrund der, auch ziemlich alten, Gewohnheit Kleidung zu tragen weniger wichtig sein, es ist aber auch dies kein Grund sie zu entfernen.
Smegma (die „Paste“ wie Derkan sie nennt) ist ein natürliches Drüsenprodukt wie Speichel, Schweiß (der riecht übrigens auch, trotzdem kommt niemand auf die Idee deshalb alle Schweißdrüsen zu veröden), Tränenflüssigkeit, Samenflüssigkeit (das Zeug in dem die Spermien schwimmen), und die Wahrscheinlichkeit, daß dadurch z.B. Peniskrebs entsteht ist vernachlässigbar gering. Und wenn sich Männer so wenig waschen/reinigen, daß ihr Smegma tatsächlich exorbitant stinkt, dann ist anzunehmen, daß auch deren sonstige Körperpflege arg zu wünschen übrig läßt, wodurch, z.B. im Mundbereich, diese Männer mit höherer Wahrscheinlichkeit an einem oralen Karzinom erkranken (und evtl versterben), als an einem Peniskarzinom!
Begründet man die Beschneidung mit der Vermeidung von Infektionen oder gar Karzinomen, müßte man konsequenterweise auch im jungen Alter den Blinddarm entfernen, da Blinddarmentzündungen wesentlich häufiger sind!
Die „Studie“ die geringere AIDS-Übertragungen bei beschnittenen Männern gefunden haben wollte, war (so hart muß man es nennen) Bockmist!
In den USA war, neben Hygiene und Krankheitsvermeidung, auch die Verhinderung der ach so bösen Onanie ein Argument für die Beschneidung!

5. Sex
Ja, die Eichel wird bei fehlender Vorhaut weniger empfindlich. Dies spielt aber sexuell eigentlich nur bei Männern eine Rolle deren Eichel auch bei Erektion noch von der Vorhaut bedeckt ist, was normalerweise nicht der Fall ist.
Im „Normalfall“ liegt die Eichel bei Erektion frei. So stellt sich schon durch die unvermeidlichen nächtlichen (oder den ungewollten im Laufe eines Tages) Erektionen eine natürliche „Abhärtung“ ein. Die Vorhaut deswegen zu entfernen ist Unsinn!
(Ich weiß wovon ich rede! Habe mich erst im Alter von 45 in freier Entscheidung von meiner (zu langen) Vorhaut verabschiedet und dies a. wegen der Ästhetik und b. wegen Sex!)

6. Religion
Für Juden und Muslime gilt die Beschneidung als Zeichen des Bundes zischen Gott und dem Stamm Israel, bzw. für die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft, bzw. der Mannbarkeit.
Nun haben zumindest die Juden im Laufe ihrer Geschichte eine erstaunliche Flexibilität bezüglich der Beschneidung bewiesen. In der, an Verfolgung nicht armen, jüdischen Geschichte wurde häufiger zwar die Beschneidung durchgeführt, aber so gering, daß die beschnittene Vorhaut bei oberflächlicherer Betrachtung nicht auffiel. Hintergrund war es Verfolgern schwerer zu machen den Betreffenden als Juden zu identifizieren! (Vom reinen Dogma her keine „saubere“ Lösung, aber eine pfiffige!)
Es wird in der jüdischen, wie in der muslimischen Geschichte sicher zuhauf Fälle gegeben haben in denen die Beschneidung nicht, oder nicht zum eigentlich vorgesehenen Zeitpunkt durchgeführt werden konnte. Wie wurde/wird dann verfahren? Dafür gibt es sicher Regeln!
Mein Vorschlag an Juden und Muslime:
Feiert die Beschneidung als rituelles Fest zum von eurer Religion festgesetzten Zeitpunkt, setzt aber den Vollzug aus, bis der Junge ein Alter erreicht hat in dem er eine gültige Einwilligung geben kann! (Von mir aus betrachtet es als Aussetzung unter äußerer Bedrängnis!)
Somit wäre beidem Genüge getan, dem Grund- und Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, und den Geboten eurer Religion.

--
Kurt Schumacher: "Kommunisten sind nur rotlackierte Faschisten!"
Ich erweitere: Ob rot, grün (oder grün), lila oder braun angepinselt, unter der Farbe tobt der alte böse Geist!


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