Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Interview mit Frau Zypries - aufschlussreich

Garfield, Monday, 18.07.2005, 15:24 (vor 7060 Tagen) @ Odin

Als Antwort auf: Re: Interview mit Frau Zypries - aufschlussreich von Odin am 18. Juli 2005 10:36:28:

Hallo Odin!

"Warum dreht also die Regierung so kurz vor der Wahl noch am Ruder? Tatsächliche Erkenntnis? Hoffnung, die Wahl zu verlieren?"

Ich tippe auf Letzteres. In der ganzen Diskussion um die Neuwahlen fiel mir zunächst auf, daß hohe SPD-Politiker emsig bemüht waren, ihre Positionen denen von CDU/CSU und FDP anzugleichen. Da war dann plötzlich die Rede davon, daß die Bundeswehr in Zukunft noch häufiger im Ausland eingesetzt werden würde, ganz zufällig veröffentlichte die Presse die Nachricht, daß sich SPD und CDU nun über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer einig wären...

Das erkläre ich mir so: Nach dem CDU-Sieg in Nordrhein-Westfalen sah die Wirtschaft die Chance in greifbarer Nähe, wieder eine schwarz/gelbe Bundesregierung zu etablieren. Gar nicht mal so sehr, weil ihnen die rot/grüne Regierung wenig zugesagt hat. Schröder hat ja beispielsweise mit Hartz IV oder mit der Gesundheitsreform der Wirtschaft ebenfalls brav zugearbeitet. Aber das hat der Regierung auch Kritik von den SPD- und Grünen-Wählern eingebracht, und somit war klar, daß man nun etwas vorsichtiger sein muß, um überhaupt noch wieder gewählt zu werden. Die Wirtschaft konnte von dieser Regierung nun also nicht mehr viel verlangen. In der SPD sah man sich ja sogar schon genötigt, von Kapitalismuskritik zu reden, um die eigenen Anhänger zu besänftigen.

Deshalb will die Wirtschaft einen Regierungswechsel. Mit Schwarz/Gelb lassen sich neoliberale Forderungen ohnehin besser durchsetzen - solange bis genügend Wähler wie damals gegen Ende der Kohl-Ära wieder neu gelernt haben, daß es so auch nicht weiter gehen kann. Aber mindestens 4 Jahre lang hat die Regierung dann freie Bahn, und das läßt sich gegen schöne "Schwarzgeld"-Summen prima von der Wirtschaft nutzen. Es steht ja noch einiges auf der neoliberalen Wunschliste: Abschaffung der Tarifverträge, Erhöhung der regulären Wochenarbeitszeit, Wiedereinführung des Sonnabends als regulärer Arbeitstag, Reduzierung der Feiertage, Anrechnung von Krankheitstagen auf den Urlaub...

Also hat man den Regierungspolitikern einige satte Sonderzahlungen in Aussicht gestellt, wenn sie vorzeitig Neuwahlen einleiten. Die Grünen hat man dabei wohl finanziell etwas vernachlässigt, weshalb sie nun mit den baldigen Neuwahlen weniger glücklich sind.

Folglich galt es nun, die Mehrheit der Wähler davon zu überzeugen, daß sie doch anstelle von Rot/Grün genausogut auch Schwarz/Gelb wählen können. Und dazu mußte man natürlich klar stellen, daß die Positionen von Rot/Grün auch nicht wesentlich anders sind.

Dann gab es aber plötzlich eine Abkehr von diesem Kurs. Plötzlich riefen SPD-Politiker die Gewerkschaften auf, die Zurückhaltung der letzten Jahre bei Lohnverhandlungen aufzugeben. Auf einmal gebährdete man sich wieder "kapitalismuskritisch". Was steckte dahinter?

Kurz darauf wurde das Ergebnis einer Umfrage veröffentlicht. Danach kamen WASG und PDS vor allem im Osten, aber auch im Westen auf deutliche Zuwächse. Das muß der Grund für die veränderte Strategie der SPD gewesen sein.

Vorher hoffte man offensichtlich, viele Wähler von SPD und Grünen nach CDU/SCU und FDP schieben zu können. Nun hatte diese Umfrage aber ergeben, daß das so nicht ganz funktionierte, denn offensichtlich waren nicht wenige Wähler dabei, von SPD und Grünen zu WASG und PDS abzuwandern. Das geht ja nun gar nicht, also mußte sofort gegen gesteuert werden. Wenn immer noch viele Wähler schon nicht CDU/CSU und FDP wählen wollen, dann sollen sie doch lieber SPD und Grüne wählen. Dann könnte man notfalls auch eine Schwarz/Rote Koalition bilden. Aber WASG und PDS möchte man natürlich möglichst aus dem Bundestag heraus halten.

Wie paßt nun dieser Vorstoß der Frau Zypries dazu? Den kann ich da nicht so recht einordnen. Wahrscheinlich ist es einfach so, daß ihr mittlerweile die "Sponsoren" (also die "Schwarzgeld"-Zahler) abspringen, da die rot/grüne Regierung allgemein als Auslaufmodell betrachtet wird. Man finanziert ihnen zwar ihren schnellen Abgang, aber ansonsten schielen alle schon nach der kommenden schwarz/gelben Regierung. Jetzt ist niemand mehr da, für den die Zypries noch Gesetze machen muß, die eigene Klientel ist auch nicht mehr soooo wichtig, da man ja eh Kurs auf die baldige Abwahl nimmt, und da ist man vielleicht auch mal in einem lichten Moment bereit, etwas Sinnvolles zu tun und eventuell sogar mal Politik für das Volk zu machen.

Es fällt ja überhaupt immer wieder auf, daß Politiker nach ihrem Ausscheiden aus ihren politischen Ämtern plötzlich sehr vernünftige Äußerungen machen, die ihren Handlungen zu Amtszeiten manchmal vollkommen widersprechen. Das kann ich mir nur damit erklären, daß sie in ihrer Amtszeit eben den Interessen gewisser Leute entsprechen mußten und dafür oft auch gegen ihre Überzeugungen gehandelt haben. Wenn Helmut Kohl beispielsweise zu allem, was er als Bundeskanzler getan hat, voll stehen würde, dann hätte er mehr zur Spendenaffäre gesagt, und er hätte seine Autobiographie nicht nur bis 1982 geschrieben.

Jetzt haben wir in der Regierung die Situation, daß die Spitzenpolitiker mehr oder weniger Narrenfreiheit haben. Das große Ziel heißt Rückzug, wobei die Posten Schwarz/Gelb überlassen werden sollen. Alles, was diesem Ziel widerspricht, hat zu unterbleiben, ansonsten gibt es aber praktisch keine Vorgaben mehr. Und so macht nun eben jeder, was er oder sie will.

Freundliche Grüße
von Garfield


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