Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Aus Monis Forum

Odin, Wednesday, 22.09.2004, 22:01 (vor 7366 Tagen) @ Arne Hoffmann

Als Antwort auf: Ist doch ganz hervorragend, oder? von Arne Hoffmann am 21. September 2004 22:28:20:

Diesen erstklassigen Artikel habe ich aus Monis Forum. Weiß nicht, ob er hier auch schon steht. Bin im Moment ein wenig im Streß:

Klagen über Benachteiligung und Gewalt - Gleichstellungspolitik konzentriert sich bisher auf Frauen
- Forderung nach Bewusstseinswandel in der Gesellschaft

von Marcel Pino

Berlin - Bislang gelten vor allem Frauen als Opfer von Gewalt. Doch für junge Männer um die 20 haben ist das Risiko, Gewalt zu erleben, deutlich größer als für Frauen im gleichen Alter. Das zeigen drei Studien zur Gewalt gegen Männer und Frauen, die gestern in Berlin vorgestellt wurden. Gewalt in jeder Form sei "ein abscheuliches Verbrechen", sagte Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) und kündigte der Gewalt den Kampf an. Den Schwerpunkt soll dabei bislang der Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bilden.

Dass auch Männer Opfer von männlichen Gewalttätern werden, werde bislang weitgehend ignoriert, kritisierte der Geschlechterforscher Hans-Joachim Lenz. Männer bagatellisierten und verschwiegen Gewalterfahrungen. Lenz fand in seiner Studie heraus, dass sechs von sieben der befragten Männer in ihrem Leben schon einmal Erfahrung mit Gewalt gemacht haben. Lenz: "Wir haben die Spitze eines Eisberges entdeckt".

Aber auch Jungen und Männer hätten wie Frauen ein Recht auf Schutz und Unversehrtheit.

Lenz forderte einen Bewusstseinswandel in der Geschlechter- und Gleichstellungspolitik. Diese ist bis heute in erster Linie Frauenpolitik. Das Beispiel der Gewalt von Männern gegen Männer zeigt jedoch, dass eine moderne Gleichstellungspolitik auch die speziellen Probleme der Männer berücksichtigen muss.

Für Reiner Wanielik von der Fachstelle für Jungenarbeit des Paritätischen Bildungswerkes Rheinland-Pfalz/Saarland sind Männer unter den jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen "längst nicht mehr die Gewinner im Geschlechterkampf." Lange wurde übersehen, dass das so genannte "starke Geschlecht" mit einem ganzen Bündel von Problemen konfrontiert wird, das seine ehedem so selbstverständliche Stellung in der Gesellschaft zusehends in Frage stellt. So sterben in Deutschland Männer durchschnittlich sieben Jahre früher als Frauen. Sie haben häufiger Herz-Kreislaufprobleme und sind sehr viel suchtanfälliger. Drei von vier Selbstmorden werden von Männern begangen. Und dass einem geschiedenen Vater vor Gericht das Sorgerecht für das Kind zugesprochen wird, ist immer noch die Ausnahme. Eines der Hauptprobleme bei der gesellschaftlichen Stellung der Männer besteht für Wanielik darin, dass sich das "Männliche heute noch zu sehr über die Arbeit definiert". In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kann hieraus ein ernstes Identitätsproblem gerade für junge Männer erwachsen. Minderwertigkeitsgefühle und Verunsicherung können bei vielen männlichen Jugendlichen das Abrutschen in Gewalt und Kriminalität beschleunigen. Auch verträgt sich ein einseitig über Arbeit definiertes Männerbild nur schwer mit Erziehungsaufgaben. Die sind in den Köpfen der meisten Männer vor allem Frauensache.

Ähnlich problematisch wirkt sich ein überkommenes Männlichkeitsideal beim Umgang mit körperliche Krankheiten sowie seelische Probleme aus. Nach wie vor tendieren Männer dazu, Gebrechen aller Art zu verschleppen. Ein Mann klagt nicht und beißt die Zähne zusammen.

Nach Waniliks Worten wird der Grundstein für die verfehlten Entwicklungen schon in der frühen Kindheit gelegt. Im Kindergarten und der Grundschule werde eine falsche Weichenstellung vorgenommen. "Vieles in der Pädagogik ist mit weiblichen Zielsetzungen verbunden. Jungen kommen dabei nicht zum Zuge."

Die spezifischen Bedürfnisse von Jungen, wie Hunger nach Kräftemessen und Abenteuer werden dabei zu wenig berücksichtigt. Auch lernen sie nicht, über ihre Probleme zu sprechen. Ihnen fehlen schlichtweg die männlichen Ansprechpartner. Auf diesen Missstand weist auch Martin Grübel hin, der für die Unionsfraktion im Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sitzt. Es gebe kaum männliche Erzieher oder Grundschullehrer, bemängelt er. Dadurch würden den Jungen in den ersten wichtigen Jahren ihrer Entwicklung die männlichen Bezugspersonen und die Entwicklung prägende Vorbilder fehlen. So sei es kein Wunder, wenn der Beruf des Erziehers im Speziellen und Kindererziehung im Allgemeinen in erster Linie mit Frauen in Verbindung gebracht würden. "Hätten wir mehr Grundschullehrer und Erzieher, würden Kinder mit einem zeitgemäßen Frauen- und Männerbild aufwachsen", so Grübel.

Wie sich bei der Vorstellung der Gewalt-Studien zeigte, rücken männerspezifische Probleme nur sehr langsam in den Fokus der politischen Aufmerksamkeit. Das Thema Gleichstellung wird nach wie vor von frauenpolitischen Fragestellungen dominiert. Ein Pendant zu der "Männerpolitischen Grundsatzabteilung" des österreichischen Ministeriums für Soziales und Generationen sucht man im Bundesfamilienministerium vergeblich.

Dabei sei es höchste Zeit, endlich "Männer- und Jungenreferate in den Ministerien auf Länder- und auf Bundesebene zu etablieren", fordert Waniliek. "Belange von Jungen und Männern müssen von männlicher Seite vertreten werden." Ministerin Schmidt zeigte sich zumindest gestern noch optimistisch. Ihr werde schon noch etwas für die Männer einfallen, sagte sie und verließ den Saal.

Artikel erschienen am Mi, 22. September 2004

Quelle: http://www.welt.de/data/2004/09/22/335787.html


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