Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Klar, wen sollte die Rolle als Geld- und Zahlesel der Frau reizen ? (nT)

Sven, Wednesday, 26.10.2005, 20:24 (vor 6959 Tagen) @ Christian

Als Antwort auf: Nicht die Frauen sind schuld, wenn Deutschland ausstirbt von Christian am 26. Oktober 2005 15:11:

Männer im Zeugungsstreik
Nicht die Frauen sind schuld, wenn Deutschland ausstirbt. Es fehlt vor allem an Vätern
Ines Geipel
Thomas S. sitzt am liebsten auf einem hohen Berg. Richtig hoch muss er sein, möglichst die Alpen, mit viel Schnee und endlosem Himmel. Er sitzt dann da und wartet, bis die Stille um ihn herum vollständig in ihn hineingekrochen ist. "Nichts brauche ich so sehr", sagt er. Thomas S. ist vierunddreißig, arbeitet im Management eines großen Softwarekonzerns, verdient gut, mag seine Arbeit: "Ich bin nur unterwegs, jette durch die ganze Welt. Mitunter, morgens im Hotel, weiß ich gar nicht, in welcher Stadt ich grad bin." Frauen? - "Hotelgeschichten. Mehr geht nicht."
Steffen P., 45, ist seit fünfzehn Jahren Scheidungsanwalt. "Da hat man gut zu tun", stöhnt er und wartet auf die Wochenenden. Dann steigt er in seinen Volvo und fährt durch ganz Europa, auf Auktionen. Steffen P. sammelt Klassische Moderne, geht viel ins Theater und schätzt Exotisches - ferne Länder, teuren Bordeaux und Bordelle. "Ich lebe die Dinge, die mein Ego braucht. Was sonst?"
Jordan M. ist Rettungsarzt. "Das heißt Fitness, Fitness und nochmal Fitness", sagt der 42-Jährige. Wenn seine Einsätze es erlauben, fährt er Rad, selten unter 300 Kilometer pro Woche, dazu Krafttraining und Wellness. "Ich hab wenig Zeit für anderes. Der Job ist hart", meint er. Und Frauen? "Am einfachsten ist so eine Totalgestresste. Die sieht dich nicht, und du hast Status und deine Ruhe."
Die drei Männer tragen Markenware, sind überzeugt von ihrem generösen Witz, wirken gut organisiert, schnuppern gern am neuesten Herrenduft, kennen die besten Internetdeals und jeden Harald-Schmidt-Gag vom Vortag. Sie sind, was Wunder, in good mood und gehören zu den 60 Prozent aller deutschen Männer, die wissen, dass sie keine Kinder wollen, egal was sozialpolitisch für sie veranstaltet wird.
Als Allensbach kürzlich diese Zahl veröffentlichte, hätte man allerlei erwarten können, kaum aber soviel Einhelliges: Blödsinn!, wehrte die Politik ab. Eins der vielen verwirrenden Phänomene in diesem Land, meinten andere achselzuckend. Das ist, weil wir Menschen nicht logisch sind, fiel einem Spitzenpolitiker ein. Doch nun müsse man schön vorsichtig sein, hieß es, mit vorschnellen Erklärungen. Da sei nämlich rasch was zu zerstören, bei den wenigen zumindest, die noch wollen.
Eine kinderlose Kanzlerkandidatin, Heerscharen von nicht austragenden Müttern, die Kindstötungen in Brandenburg - das waren so Themen über den launigen Wahlsommer hin. Und selbstverständlich alles etwas fürs Frauen-Terrain. Selten wurde das Herzflattern einer Gesellschaft so spürbar, hörten sich die Plädoyers für eine neue Kinderkultur im Land so bedrohlich und ideologisch aufgeladen an, standen Frauen ohne Kinder im gesellschaftlichen Renommee derart blöde da. Einer der alarmierendsten Befunde jedoch - der Streik der Männer - brachte es partout nicht auf die Agenda. War das Phänomen für den Wahlkampf zu facettenreich oder wurde die kindische Abwehr durch den noch immer eindeutigen Zahlenschlüssel männlicher Politik bestimmt?
Angenommen, Allensbach hat seine Daten im Griff: Was verweigert das starke Geschlecht, wenn es das Kind nicht will, wovon erzählt die beeindruckende Zahl der Zeugungsverweigerer? Von der Angst vor Gründung, von einer ziemlich ausgebufften Form von Wohlstandsdümpelei, vom neuen Mann als ewig unbefreitem Kind, von der inneren Adaption hektischer Fragilitätsschübe, die die Gesellschaft zunehmend in Atem halten? Hat das Ganze gar mit den verhaspelten Selbstfindungspirouetten des anderen Geschlechts zu tun, die Männer nur noch völlig abgeturnt parieren können?
Oder geht es auch weniger grundsätzlich? Muss freiwillige Kinderlosigkeit zwangsläufig Ungutes bedeuten? Könnte es nicht auch sein, dass das moderne Paar sich vom alten Familienmodell löst und noch ein paar Runden zu gehen hat bis zum ureigensten Ideal? Sind die sechzig Prozent nicht Väter werdender Männer Regression oder Aufbruch, manifester Ausdruck von Liebesunfähigkeit oder suchender Einsatz für individuellstes Paarglück? Sind die verweigerten Kinder nur vorübergehende Disbalance oder schon neue Beziehungskultur?
Elterngeld, Elternzeit, eine familienfreundliche Unternehmensstruktur, der Kampf um den Krippenplatz oder "nachhaltige Familienpolitik" - niemand kann behaupten, dass Rot-Grün dem Trend vom ausbleibenden Kinderwunsch nicht zu begegnen suchte. Dafür sind die Zahlen zu ernst: In Deutschland leben über sechs Millionen Kinder weniger als vor 30 Jahren. Das heißt: Mit 8,7 Kindern auf 1 000 Einwohner sind wir die zeugungsfaulste Nation Europas. Der Spaß, im Seniorenstift Deutschland Kind zu sein, dürfte sich auf Dauer in Grenzen halten. Als Reaktion hört man immer dieselbe Litanei: Die Politik ist es, die den Rahmen fürs Kinderkriegen gestaltet. Längst überfällige Gesetze wurden beschlossen, allerlei Langzeitstudien kamen in Auftrag, es wird geschoben und gedrückt. Das Ergebnis? Keins. Es läuft, wie es nicht läuft, die Logik scheint eine andere.
Deutschland und die Familie? Das bedeutet, wie Sozialwissenschaftler aller Couleur sagen, die ungebrochene Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse. Der Mann ist work centered, die Frau konzentriert sich nach wie vor auf die Kinder. "Ein Rollentausch", wissen die Demoskopen, "kommt für die überwältigende Mehrheit der Männer nicht in Frage." Sind Kinder da, arbeitet der Vater gleich mal eine Stunde länger als ein Kinderloser. Wegen der zugewachsenen Verantwortung oder um der allabendlichen Bambule im trauten Heim zu entgehen?
Der Stille-Fanatiker Thomas S. weiß um den Druck, den "sich die Väter im Grunde selber machen. In unserer Firma ist es immer die gleiche Leier. Ist ein neues Kind da, gibt es ein knappes Jahr Freude. In dieser Zeit sehen wir Kinderlosen ziemlich alt aus. Als sei man kriminell. Doch nach ein paar Monaten ist das Kind kein Thema mehr." Dass er in dieses öde Modell nie und nimmer hineinwolle und ihm so, wie er lebt, nichts fehle, sagt er noch. "Für mich zählt der Berg."
"Ein Kind zu haben, hat für einen Mann heutzutage keinen Sinn", sagt Scheidungsprofi Steffen P. "Das Kind ist der Feind, die Falle. Du zahlst, und dann ist es am Ende noch das, was dich überlebt. Ein Rivale im Käfig der Zeit, so Houellebecq." Dabei brauche man doch nicht lange drum rumreden, meint der Anwalt. Jeder wisse doch, worum es geht: "Bloß keinen Schmerz, Trennung von Sex und Zeugung - das ist das absolute Ding. Alles andere ist Moral. Wo nichts mehr dauert, braucht man auch das Langzeit-Projekt Kind nicht mehr." Letztens erst habe er gelesen, dass sechs Millionen Männer täglich ins Bordell gehen. "Da hat man wenigstens einen Markt, der stimmt."
"Ich komme fast nie mit Kindern zusammen", erklärt Radsprinter Jordan M. "Warum sollen sie mir dann fehlen?" Nur manchmal, wenn er mit seinem Fahrrad durch die Parks der Stadt demmelt, sieht er aus dem Augenwinkel heraus einen Mann mit einem Kinderwagen. Klar kenne er sie, die chaotischen, selbstvergessenen, milden, hilflosen und hyperaktiven Väter. Man sieht sie ja. "Aber ob die auch wissen, dass sie zur exotischen Spezies geworden sind?"
Falls Frauen in Deutschland auf Kinder nicht verzichten wollen, seien ihnen südlichere Gefilde ans Herz gelegt. Dort - heißt es - stimmen die Zahlen noch, dort bleibt das Kinderkriegen etwas, das zum Leben gehört, dort ist das Kind eine Ausweitung, keine Ausweichung der Kampfzone.
Die Schriftstellerin Ines Geipel, geboren 1960 in Dresden, veröffentlichte zuletzt die Reportage "Für heute reicht's. Amok in Erfurt" und den Roman "Heimspiel".


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