Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Halbwahrheiten

Jonathan, Tuesday, 20.01.2004, 22:44 (vor 7605 Tagen) @ Daddeldu

Als Antwort auf: Poststrukturalismus - abgedrehter Unfug von Daddeldu am 20. Januar 2004 02:43:20:

Hi!

Ich teile da nicht deine Meinung und möchte mich jetzt mal als Anwalt des Poststrukturalismus aufschwingen. Das mache ich deshalb, weil ich viele poststrukturalistische Ansätze für unser Engagement als Maskulisten als sehr wichtig und fruchtbar ansehe. Ich will auch gerne erläutern, warum.

Zunächst kann man wohl vorausschicken: es gibt eigentlich keinen Poststrukturalismus. Der Begriff wurde einigen Philosophen übergestülpt, die
eigentlich nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben (Deleuze, Barthes, Foucault...). Sie selbst haben sich zwar dagegen gewehrt, aber wenn erst mal ein griffiger Begriff gefunden ist, dann subsumiert man schnell alles mögliche unter jenen Begriff, wenn man nur irgendwo Ähnlichkeiten zu erkennen glaubt. Und irgendwann glauben dann alle dran und der Begriff ist zum Gemeingut geworden.

Und genau damit steckt man schon in der sog. poststrukturalistischen Denkweise drinnen. Es geht hier nämlich gar nicht in erster Linie um die materielle Wirklichkeit, sondern darum, wie man uns die Wirklichkeit präsentiert.

Ich habe nun begriffen, dass Poststrukturalisten die Realität für
fiktiv
halten. Und die meinen das so. Die Wirklichkeit als reines
Konstrukt
.

Hört sich schlimmer an, als es ist. Der Gedanke stammt streng genommen auch gar nicht aus dem Poststrukturalismus sondern aus einer etwas älteren Denkschule, dem Konstruktivismus, wurde aber von poststruktururalsitischen Denkern aufgegriffen.
Im Grunde sieht die Theorie ungefähr so aus: nicht die Wirklichkeit wird geleugnet, sondern unser Vermögen, die Wirklichkeit komplett verstehen zu können. Da wir nur eine beschränkte Menge an Informationen haben und niemals die ganze Wirklichkeit erfassen (also in unseren Kopf holen) können, ordnen wir unsere Sinneseindrücke und Informationen in ein "konstruiertes" Schema ein. Ein gutes Beispiel für sind z.B. orthodoxe Marxisten. Sie glauben den Mechanismus der Welt, sozusagen das Ordnungsschema, komplett begriffen zu haben. Alles, was ihnen von nun an unter die Augen kommt, wird marxistisch interpretiert: jeglicher sozialer Umstand erscheint plötzlich als Folge des Kapitalismus, aber jeder soziale Umstand weist bereits auf den Zustand nach der Revolution hin. Die ganze Welt mit allen ihren Unwägbarkeiten ist plötzlich einem einfachen theoretischen Konstrukt untergeordnet.
Der Konstruktivismus (und damit auch der Poststrukturalismus) versuchen jetzt, diesem ideologisierten Denken etwas entgegen zu setzen. Es wird sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern man sich an die Realität und ihre Strukturen annähern kann, ohne in ideologische Fallen zu gehen. Dazu ist es zunächst einmal wichtig, die "Wirklichkeit" abzuschütteln. Damit ist aber eben nicht die Wirklichkeit im materiellen Sinne gemeint, sondern die "herrschende" Wirklichkeit. Nämlich die, die uns täglich von den Medien, von der Mehrheit, von der Umwelt, sprich: von der Macht aufdiktiert wird. Es geht also nicht um eine Flucht aus der Welt, es geht viel eher darum, etwas mehr Klarheit in der Verblendung zu erhalten.
Vieles davon erscheint natürlich gerade uns hier als ein gemeinplatz. Man muss den Poststrukturalisten allerdings anrechnen, dass sie diese ganzen Mechanismen erst aufgezeigt und entlarvt haben (und das übrigens sehr detailliert und genau). Sie schrieben ihre Texte zu Zeiten, als die Medien- und Machtgläubigkeit des Großteils der Menschen (und auch der Intellektuellen) kaum gebrochen war. Das ist, denke ich, durchaus ein großer Verdienst.

Auch die Vernunft wird offenbar abgelehnt. Die Forderung, in >einem Diskurs logisch zu argumentieren, wird als Zwang
empfunden und daher abgelehnt.

Das ist nicht richtig, bzw. es ist nur die halbe Wahrheit.
Es stimmt, dass sich z.B. Deleuze sehr ausführlich und auch kritisch mit der Logik beschäftigt hat. Dabei hat er eine Menge Paradoxa aufgedeckt, die sich mit herkömmlichen logischen Mitteln nicht auflösen lassen. Deshalb ging er so weit, zu sagen, dass die Logik kein uneingeschränkt brauchbares Mittel ist, um alle Probleme zu lösen. Daraus schließt er jedoch nicht, dass man die Logik über Bord werfen sollte. Im Gegenteil, er bemüht sich, neue Wege des Denkens zu finden.
Es geht also nicht darum, die aristotelische Logik unter den Tisch fallen zu lassen, sondern sie dort zu ergänzen, wo sie Lücken aufweist. Bzw. in solchen Fällen, wo sich diese Lücken nicht schließen lassen, zumindest erklärend auf diesem Umstand hinzuweisen.
Das Ganze ist natürlich eine eher sehr abstrakte, philosophische Problemstellung, die im "Alltag" (z.B. in der konkreten politischen Arbeit) eher nur am Rande wichtig ist.
Hier wird es dann auch gefährlich. Denn an diesem Punkt bietet sich eine poststrukturalistische Philosophie ja förmlich an, missverstanden und missbraucht zu werden.
Aber das ist, wie Du jetzt nachvollziehen kannst, komplett am eigentlichen Denken der als Poststrukturalisten zusammengefassten Denker vorbei. Hier werden, wie so oft wenn sich die Ideologie bei der Philosophie bedient, Halbwahrheiten herausgegriffen, verdreht und unzulässig instrumentalisiert. Ähnlich ging es da schon Nietzsche, die auch für alle möglichen Ideologien herhalten musste (Faschismus, Marxismus, Psychoanalyse, Feminismus), obwohl ihm das nun wirklich nicht gerecht wird.

Da kann frau dann auch ein unterdrückerisches Patriarchat behaupten oder
das sich Sex und Vergewaltigung nicht unterscheiden ließen und alles, was
sie sonst behaupten möchte.

Nein, eben gerade nicht! Denn die Aufgabe, die sich der Postkonstruktivismus stellt, ist eben, solche Scheinlogiken zu entlarven. Und besonders in den texten von Foucault wirst du ein beträchtliches Instrumentarium finden, um gegen solche Scheinargumentation anzugehen, z.B. über das Mittel der Diskurskritik. Wenn Du ein schönes Beispiel dafür suchst, nimm Arne Hoffmanns "Sind Frauen bessere Menschen?" zur Hand. Denn genau darum geht es im Poststrukturalismus: herrschende Ideologien zu demontieren. Und nach Wegen zu suchen, die Wirklichkeit sinnvoller zu interpretieren, damit man nicht den gleichen Fehler macht und sich ebenfalls in Ideologien verheddert.

Viele Grüße,
Jonathan


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