Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Halbwahrheiten

susu, Friday, 23.01.2004, 22:29 (vor 7602 Tagen) @ Jonathan

Als Antwort auf: Halbwahrheiten von Jonathan am 20. Januar 2004 20:44:23:

Zunächst: Danke an dich, Jonathan, für deine Ausführungen. Besser hätte ich es nicht schreiben können.

Ich teile da nicht deine Meinung und möchte mich jetzt mal als Anwalt des Poststrukturalismus aufschwingen. Das mache ich deshalb, weil ich viele poststrukturalistische Ansätze für unser Engagement als Maskulisten als sehr wichtig und fruchtbar ansehe. Ich will auch gerne erläutern, warum.
Zunächst kann man wohl vorausschicken: es gibt eigentlich keinen Poststrukturalismus. Der Begriff wurde einigen Philosophen übergestülpt, die eigentlich nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben (Deleuze, Barthes, Foucault...). Sie selbst haben sich zwar dagegen gewehrt, aber wenn erst mal ein griffiger Begriff gefunden ist, dann subsumiert man schnell alles mögliche unter jenen Begriff, wenn man nur irgendwo Ähnlichkeiten zu erkennen glaubt. Und irgendwann glauben dann alle dran und der Begriff ist zum Gemeingut geworden.
Und genau damit steckt man schon in der sog. poststrukturalistischen Denkweise drinnen. Es geht hier nämlich gar nicht in erster Linie um die materielle Wirklichkeit, sondern darum, wie man uns die Wirklichkeit präsentiert.

Als Wegweiser durch die fiese Sprache, füge ich noch hinzu:
Den Prozess in dessen Folge ein Begriff nicht mehr nur eine Abstraktion ist, sondern ihm quasi Realität zugewiesen wird, bezeichnet man in der Regel mit Reifizierung.
Foucault verwendet für einen Ausschnitt aus dem Gemeingut (die Gesammtheit der von einer breiten Mehrheit für wahr gehaltenen Aussagen wird hegemonialer Diskurs genannt) den Begriff Dispositiv.

Um mal ein Beispiel ab von der Geschlechterthematik zu bringen:
Energie ist eine rein mathematisch konstruierte Hilfskonstante. Aus einer bestimmten Symetrie der physikalisch zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten (genau gesagt, der zeitlichen Translation, also der Tatsache, daß ich jeden beliebigen Zeitpunkt als t=0 definieren kann, ohne das sich die Naturgesetze dadurch ändern würden) ergibt sich, daß eine bestimmte Summe konstant bleibt. Diese Summe wird dann als Energie bezeichnet und ist für bestimmte Problemstellungen sehr hilfreich.
Energie läßt sich nicht als real beschreiben, wie gesagt, sie ist eine Hilfsgröße. Allerdings ist sie reifiziert worden und deshalb wird z.B. von Energiepolitik geredet und auf der Flasche Cola light Lemon steht eine Energieangabe: 5,0 kJ sind in 100ml enthalten. Für Menschen, die nicht näheren Kontakt mit der theoretischen Physik haben, ist Energie etwas, dem sie Realität zuschreiben (das geht bis zu Esoterik-Freaks, die von reinen Energiewesen reden, etc.).

Der Konstruktivismus (und damit auch der Poststrukturalismus) versuchen jetzt, diesem ideologisierten Denken etwas entgegen zu setzen. Es wird sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern man sich an die Realität und ihre Strukturen annähern kann, ohne in ideologische Fallen zu gehen. Dazu ist es zunächst einmal wichtig, die "Wirklichkeit" abzuschütteln. Damit ist aber eben nicht die Wirklichkeit im materiellen Sinne gemeint, sondern die "herrschende" Wirklichkeit. Nämlich die, die uns täglich von den Medien, von der Mehrheit, von der Umwelt, sprich: von der Macht aufdiktiert wird. Es geht also nicht um eine Flucht aus der Welt, es geht viel eher darum, etwas mehr Klarheit in der Verblendung zu erhalten.

Da würde ich noch ein Zitat hinzufügen (leider ist mir entfallen von wem es stammt): Es gehe nicht um eine gegen-Aufklärung, sondern um Afklärung über die Aufklärung. Ein zentraler Gesichstpunkt ist deshalb, die ungenannten Feststellungen innerhalb einer Frage zu erkennen.

Vieles davon erscheint natürlich gerade uns hier als ein gemeinplatz. Man muss den Poststrukturalisten allerdings anrechnen, dass sie diese ganzen Mechanismen erst aufgezeigt und entlarvt haben (und das übrigens sehr detailliert und genau). Sie schrieben ihre Texte zu Zeiten, als die Medien- und Machtgläubigkeit des Großteils der Menschen (und auch der Intellektuellen) kaum gebrochen war. Das ist, denke ich, durchaus ein großer Verdienst.

Hier halte ich dagegen, daß sich Medienkritik auch schon bei Adorno findet. Die neuartige Leistung war IMO die Erkenntnis, daß die Macht immer schon Faktoren enthält, die sie destabilisieren können.

Das ist nicht richtig, bzw. es ist nur die halbe Wahrheit.
Es stimmt, dass sich z.B. Deleuze sehr ausführlich und auch kritisch mit der Logik beschäftigt hat. Dabei hat er eine Menge Paradoxa aufgedeckt, die sich mit herkömmlichen logischen Mitteln nicht auflösen lassen. Deshalb ging er so weit, zu sagen, dass die Logik kein uneingeschränkt brauchbares Mittel ist, um alle Probleme zu lösen. Daraus schließt er jedoch nicht, dass man die Logik über Bord werfen sollte. Im Gegenteil, er bemüht sich, neue Wege des Denkens zu finden.
Es geht also nicht darum, die aristotelische Logik unter den Tisch fallen zu lassen, sondern sie dort zu ergänzen, wo sie Lücken aufweist. Bzw. in solchen Fällen, wo sich diese Lücken nicht schließen lassen, zumindest erklärend auf diesem Umstand hinzuweisen.

Wobei hinzuzufügen wäre, daß in der Mathematik alternative Logiken existieren (z.B. Fuzzy, aber auch mehrdimensionale Boolsche Räume) und sich z.B. quantenphysikalische Systeme nach traditioneller Denke extrem unlogisch sind. In diesem Punkt waren die Naturwissenschaften mal schneller *g*.

Das Ganze ist natürlich eine eher sehr abstrakte, philosophische Problemstellung, die im "Alltag" (z.B. in der konkreten politischen Arbeit) eher nur am Rande wichtig ist.
Hier wird es dann auch gefährlich. Denn an diesem Punkt bietet sich eine poststrukturalistische Philosophie ja förmlich an, missverstanden und missbraucht zu werden.
Aber das ist, wie Du jetzt nachvollziehen kannst, komplett am eigentlichen Denken der als Poststrukturalisten zusammengefassten Denker vorbei. Hier werden, wie so oft wenn sich die Ideologie bei der Philosophie bedient, Halbwahrheiten herausgegriffen, verdreht und unzulässig instrumentalisiert. Ähnlich ging es da schon Nietzsche, die auch für alle möglichen Ideologien herhalten musste (Faschismus, Marxismus, Psychoanalyse, Feminismus), obwohl ihm das nun wirklich nicht gerecht wird.

Es gibt schon einige sehr konkrete Ansätze zur politischen Arbeit, zum Beispiel den Versuch, bei selbiger nicht genau die Ideologeme zu reifizieren, die man bekämpft, oder auch die Erkenntnis, daß bestehende Macht subvertiert werden kann, sofern ihre selbstdestabilisierenden Faktoren gefunden und genutz werden.

Nein, eben gerade nicht! Denn die Aufgabe, die sich der Postkonstruktivismus stellt, ist eben, solche Scheinlogiken zu entlarven. Und besonders in den texten von Foucault wirst du ein beträchtliches Instrumentarium finden, um gegen solche Scheinargumentation anzugehen, z.B. über das Mittel der Diskurskritik. Wenn Du ein schönes Beispiel dafür suchst, nimm Arne Hoffmanns "Sind Frauen bessere Menschen?" zur Hand. Denn genau darum geht es im Poststrukturalismus: herrschende Ideologien zu demontieren. Und nach Wegen zu suchen, die Wirklichkeit sinnvoller zu interpretieren, damit man nicht den gleichen Fehler macht und sich ebenfalls in Ideologien verheddert.

Stimmt. Auch bietet Butlers Analysebegriff der Zwangsheterosexualität die Möglichkeit einige Fragen der Männerbewegung in Angriff zu nehmen (z.B. Alleinernährertum und Kindererziehung).

susu


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