Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: *dazzled*

susu, Sunday, 25.01.2004, 04:41 (vor 7601 Tagen) @ Andreas (der andere)

Als Antwort auf: *dazzled* von Andreas (der andere) am 24. Januar 2004 20:51:24:

Ich habe zwar im Moment leider wirklich keine Zeit für eine längere Diskussionen, aber eine Frage stellt sich mir jetzt doch:

Es gibt sie aber schon, diese Wirklichkeit, ja? Denn die oben zitierte Äußerung behauptet ja eine mögliche Unterscheidung - Wirklichkeit im "materiellen" und im "performativen" Sinne. Diese Differenzierung scheint unmittelbar eingeleuchtet zu haben oder einfach überlesen worden zu sein - zumindest gab es keine Fragen, was mich angesichts der Tatsache, daß es sich hierbei vielleicht um das zentrale Problem handelt, doch ein wenig überrascht.

Es ist kein zentrales Problem. Denn in dem Moment in dem ich etwas über eine vordiskursive Wirklichkeit aussage, ist sie auch schon durch die Wirklichkeit in dem durch mich eröffneten Diskurs ersetzt worden.
Damit ergeben sich zwei Möglichkeiten:
a) Es gibt eine vordiskursive Realität, aber über sie könnte nicht gesprochen werden
oder
b) Es gibt keine vordiskursive Realität, damit kann über sie ebenfalls nicht gesprochen werden.

Die Frage, ob es eine "materielle" Realität gibt oder nicht, ist also bedeutungslos.

Gibt es denn unter jenen, unter den Begriffen Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus subsumierten Philosophen einen, der die Bestimmung dieser Grenze gewagt, der den Versuch, die Beschränkungen des Diskurses aufzuzeigen, unternommen hätte? Judith Butler kam, wenn ich mich richtig erinnere, bei diesem Versuch zu dem Ergebnis, daß, um zwischen "Natur" und "Kultur" unterscheiden zu können, bereits eine Differenzierung stattgefunden haben müsse, die wiederum nur eine künstliche sein könne; ihre Schlußfolgerung, "nicht nur das soziale ('gender'), sondern auch das biologische Geschlecht ('sex') sei das Ergebnis willkürlicher Prozesse", führte zum Vorwurf des Leugnens jeglicher Differenz wie zum Verdacht, nicht zwischen sprachphilosophischer und materieller Ebene unterscheiden zu können.

Aus dem oben ausgeführten Gedankengang folgt, daß wenn über Natur geredet wird, schon ein kultureller Ordnungsprozess stattgefunden hat, der Einigung über Begriffe einschließt. Sex ist deswegen "gender, through and through", weil der Inhalt des Begriffs Sex Axiomatisch festgelegt wird. Dabei ist die Belegung dieses Begriffs historisch nicht konstant (Tatsächlich gibt es in der Biologie voneinander verschiedene Geschlechtsdefinitionen, je nach Sparte.).

(Deswegen die Frage Katharina Rutschkys: "Glauben Frauen, daß es Frauen gibt?") Mit dieser Kritik wird aber das eigentliche Problem nicht berücksichtigt, das sich genau auf die Frage dieser Grenze bezieht: Von welchem Aspekt kann man eigentlich behaupten, er sei nicht "konstruiert"? Wenn innerhalb der dekonstruktivistischen Debatte keine definierte Grenze existiert, kann man notwendigerweise alles als "nur" produziert "entlarven";

Das ist korrekt. Die Gänsefüßchen um das "nur" sind wichtig, den das ist nicht der springende Punkt. Worum es geht, ist die Erkenntnis über den Modus der Produktion.

der Diskurs dehnt sich ins Unendliche, und wenn wir Foucault in seinem Kulturpessimismus richtig verstehen, wirken Diskurse nicht nur konstituierend für Machtverhältnisse, sondern auch für Ordnungssysteme, aufgrund derer eine menschliche Gesellschaft überhaupt erst existieren kann - und sind daher unvermeidlich. Die Vorstellung, durch Dekonstruktion von Diskursen den Diskursen an sich (und den sich durch diese zwangsläufig konstituierenden Machtverhältnissen) entkommen zu können, muß daher fragwürdig erscheinen.

Du ließt Foucault da richtig: Es ist unmöglich den Diskursen zu "entkommen" und sich außerhalb von Machtverhältnissen als selbst zu konstituieren. Das autonome Subjekt kann demnach nicht exitieren. Allerdings ist es möglich die Diskurse zu erkennen, anhand derer man sich selbst konstruiert und die den Diskursen inhärenten Brüche zu erkennen, anhand derer man sich auch selbst anders konstruieren kann. Anschaulich bedeutet das, daß ein selbst erst durch die Begrenzung durch Diskurse entsteht, bei Erkenntnis dieser Grenze aber auch die Option des Durchbrechens dem Diskurs schon zu eigen ist (damit als vorgegebene Option also auch eine Grenze darstellt, anhand derer eine Identität konstruierbar ist).

Da die Methode offenbar keine definierte Grenzen kennt, stellt sich die Frage, ob poststrukturalistisches Arbeiten nur funktioniert, solange man sich selbst beschränkt? Denn andernfalls müßten wir letzten Endes doch zweifelsohne zu dem Schluß kommen, daß alles "Mensch-Sein" ein produziertes ist.

Das kommt auf die Definition des Begriffs "beschränkt" an.

Die materielle Wirklichkeit könnte wir demzufolge nur jenseits des Menschlichen finden - was bedeutet, daß wir sie nicht finden können, weil "wir" dann nicht "wären". Wie sollte es also möglich sein, "'den Diskurs' oder 'die Macht' abzuschütteln"?

Es ist nicht möglich.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe: Ideologiekritik durch eine relativierende Sicht, z.B. das Beibringen bisher unterschlagener Argumente, gab es doch schon länger (z.B. ein ausgezeichnetes Buch "Verkappte Religionen" [1924] von C. Ch. Bry ;-), aber auch vorher). Sind solche Kritiker automatisch Poststrukturalisten?

Nein.

Gibt es "richtige" und "falsche" Dekonstruktivisten, und wie unterscheidet man sie?

Zwischen Poststrukturalismus und Dekonstruktivimus ist zu unterscheiden. Der wichtigste Unterschied besteht darin, daß letzterer tatsächlich davon ausgeht, den Diskursen sei zu entkommen, es gäbe also eine Position jenseits der Diskurse. Gleichzeitig ist es dem Dekonstruktivismus zu eigen temporären Diskursrealitäten universale Gültigkeit als Realität einzuräumen (kurz: Hier wird deine Eingangsfrage eindeutig beantwortet und die Antwort des Dekonstruktivismus lautet: Es gibt keine Realität außerhalb der Konstruktion). Meiner Meinung nach wiedersprüchliche Aussagen. Der Poststrukturalismus bedient sich der Dekonstruktion als Methode seiner Diskursanalyse/kritik, behauptet aber die Unmöglichkeit einer Position außerhalb der Diskurse und hält die Frage nach einer vordiskursiven Realität offen.

Ist Judith Butler Poststrukturalistin?

Ja. Auf sie treffen beide Unterscheidungsmerkmale zwischen Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus zu. Am deutlichsten wird dies in ihrem Textbeitrag zu "Feminists theorize the political" in dem sie sich klar von dekonstruktivistischen Lesarten ihrer Arbeiten distanziert.

susu


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