Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Richtig erkannt

Zeitgenosse, Thursday, 20.04.2006, 10:36 (vor 6795 Tagen) @ Ralf

Als Antwort auf: Re: Richtig erkannt von Ralf am 19. April 2006 23:05:

Ja, wie von Paul schon angedeutet ist es wohl einfach so, dass das deutsche "liberal" und das amerikanische "liberal" zumindest als Bezeichnung für politische Richtungen völlig unterschiedliche Bedeutungen haben

Da liegt auch eine vollkommen unterschiedliche kulturelle Grundierung vor. Im ursprünglichen englischen Liberalismus spiegelt sich eine prinzipielle Abneigung gegen staatliche Institutionen wieder. Einer der Vordenker des englischen Liberalismus (Name ist mir gerade entfallen, glaube es war Lock) war so mißstrauisch allem Staatlichen gegenüber, daß er noch nicht mal Briefe in die Post gegeben hat. Von Margret Thatcher stammt der Auspruch, es gebe keine Gemeinschaften, sondern nur Individuen. Das ist die Mentalität eines Inselvolkes, das über all die Jahrhunderte durch seine geografisch priviligierte Lage auf einen starken Staat zur Abwehr äußeren Gefahren weitgehend verzichten konnte. Das persönliche Glück, die individuelle Wohlfahrt des einzelnen steht im Vordergrund. Das verstehen sie unter pursuit of hapiness. Gemeinschaftsverpflichtungen sind dort nur störend und auch weitgehend überflüssig. Die Gemeinschaft, der Staat ist für den Engländer ein notwendiges Übel, das in manchen Bereichen leider nur auf ein gewisses Mindestmaß reduziertbar ist.

Diese englische Mentalität ist 1:1 übertragen worden auf die USA. Zum einen sind die USA ja britischer Transplant auch im geistigen angelegt worden. Zum anderen sind sie ja aufgrund ihres kontinentalen Ausmaßes (im Norden nur eine handvoll - geistig gleich disponierter Kanadier, im Süden nur die ihnen weit unterlegenen Mexikaner - in der gleichen geografisch privigierten Lage.

Daher auch die Abneigung gegen alles Sozialdemokratische, Sozialstaatliche. Im angelsächsischen Protestantismus ist persönlicher Reichtum zeichen der göttlichen Gunst. Ein Fingerzeig auf das kommende himmliche Glück des einzelnen. Steuern, Umverteilung, Teil (aus Zwang, nicht aus freiwilliger Pietät) wird dahingehend als Hemmung empfunden.

Steigerung des Volksreichtums bedeutet für den Engländer, die Zahl der Millionäre zu erhöhen, nicht das durchschnittliche Volkseinkommen zu haben.
Es spielt auch keine Rolle, wie man reich, geworden ist. Hauptsache der Reichtum ist da.

Spengler nennt das Wikingertum, Freibeutermentalität. Der Beutezug ist das Ideal, nicht das Flicken der Segel. Arbeit ist Schande. Reichtum göttliches Glück.

Im krassen Gegensatz dazu steht die deutsche Einstellung, genauer gesagt diejenige, die Preußen im deutschen Kollektivbewußtsein hinterlassen hat. Die Mark Brandenburg war durch den 30jährigen Krieg die am meisten belastete Region Europas. 2/3 der Bevölkerung waren umgekommen. Die Überlebenden hatten Mitte des 17. Jahrundert zum Zeitpunkt des westfälischen Friedens noch nicht einmal mehr Saatgut - abgesehen von den ohnehin sandigen Böden. Zudem ist die geografische Lage der Mark Brandenburg und des mit ihr unzusammenhängen Ostteils (des eigentlichen Preußens) eine höchst prekäre. Dieses Gebilde war immer in der Gefahr von den zahlreichen Nachbarn und Feinden (kuk-Habsburg, Frankreich, Polen, Rußland, Sachsen, ...) vereinnahmt zu werden. Das Überleben als eigenständige staatliche Einheit war nur möglich, indem ein ganz besonders angestrengtes, gemeinschaftliches Dienst- und Leistungsethos etabliert wurde. Der große Kurfürst hat dies nach dem 30jährigen Krieg gegen den Widerstand des Adels eingeführt. Gesellschaftlich priviligiert zu sein bedeutete in Preußen, außergewöhnlich viel für die Gemeinschaft leisten zu müssen. Alte Fritz: "Ich mach' meine Adels Dienen." "Der König ist der erste Diener im Land." Heute noch sprichwörtlich im Französischen: "travailler pour le Roi de Prusse" bedeutet eine Sache um ihrer selbst willen zu machen, ohne persönliche Gewinnerwartung.

Vom Alten Fritz stammt auch der Auspruch, alles an einem Menschen gehöre ihm, außer der Religion, da könne jeder glauben, was er wolle. Da Preußen unterbevölkert, achtete es stets auf Bevölkerungswachstum und Zuwanderung (innere Kolonisation, Peuplierung). Die frühen Kriege Preußens (vor allem die schlesischen Kriege) war auch immer Kriege um bevölkerungsreiche Landstriche. Um Zuwanderer, seinerzeit meist Protestanten aus katholischen Herrschaftsgebieten, anziehen zu können, gewährte man ihnen ein Maximum an Rechtssicherheit und Freizügigkeit in kulturell, religiösen Dingen. Alte Frist: "Wenn Muselmannen kommen, so will ich ihnen Moscheen bauen."

Daher auch die Vorreiterrolle Preußens in der Bildung: allgemeine Schulpflicht ca. 150 Jahre vor der Zeit, Förderung der Hochschulen, Militärakademien. Es sollte nicht nur die Anzahl der Bevökerung gehoben werden, sondern auch der Qualität.

Das die preußische Liberalität. Freizügigkeit gegenüber individuellen Anschauungen und Neigungen, um im Gegenzug das Maximum an Dienst- und Leistungsbereitschaft erwarten zu können. Strikte Rechtsstaatlichkeit und Staatsraison bei gleichzeitiger Indifferenz gegenüber jeglicher Weltanschauung - solange diese erstere nicht konterkariert.

Passend hierzu ist auch die Bismarksche Sozialgesetzgebung. Ihre Absicht war, die Hebung der Leistungsfähigkeit der Arbeiterklasse. Sozialtransfers, gesellschaftlicher Ausgleich, Dienst am Gemeinwesen, das ist Ausfluß urpreußischer Einstellungen und steht zu dem Gewährlassen-Liberalismus im Weltanschaulichen (Sebastian Haffner: oft auch nur Indifferenz) nicht in Widerspruch. Das sind zwei Seiten der selben Medaille.

Hebung der Volkswohlfahrt ist für den Preußen Hebung des durchschnittlichen Volkseinkommens. Individueller Reichtum wird respektiert, wenn er sich durch Leistung geschaffen wurde, darf nicht den gemeinschaftlichen Zusammenhalt gefährden. In der Schoß gefallener Reichtum, der nicht dem Gemeinwesen zu gute kommt, ist Sünde. Das ist preußisch pietistischer Protestantismus. Spengler nennt dies den eigentlichen - und nicht mit dem im marxistischen Sinne zu verwechselnden - Sozialismus. Sozialismus und Preußentum ist identisch.

In jüngster Zeit werden beide Liberalismen (angelsächsicher und preußisch-deutscher) durch eine Strömung überlagert, die grob mit Hedonismus, Minderheitenförderung über Sozialprogramme, Abkehr von traditionellen Rollenvorstellungen, auch Feminismus bezeichnet. Diese von der politischen Linken kommenden Tendenzen werden häufig als "liberal" bezeichnet, weil sie propagierenden, das Individuum aus gesellschaftlichen Zwängen befreien zu wollen.

Das dieser - ich sag jetzt mal - 68er-Liberalismus nichts mit dem angelsächsichem Wikinger-Liberalismus und auch nichts mit dem preußischen Indifferenz-Staatsraisons-Liberalismus zu tun ist klar. Durch Verwischung der Begrifflichkeiten werden die unterschiedlichsten Strömungen als "liberal" bezeichnet.

Die Grünen sind 68er-liberal. Thatcher und Reagan waren Wikinger-liberal. Wilhelm I. war preußisch-liberal in Vollendung. Bismark schon nicht mehr richtig (Kulturkampf, keine religiöse Indifferenz). Welcher Deutsche war in jüngerer Zeit wirklich noch preußisch-liberal? Keiner. Vielleicht ist das die Wurzel unserer Probleme!

Gruß

Zeitgenosse


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