Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 2 - 21.05.2006 - 25.10.2012

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Gibt es Rassen ? Gibt es Geschlechter ?

susu, Sunday, 21.05.2006, 06:56 (vor 6558 Tagen) @ Freddy

Holla, Popper versus Kuhn...

Verwendest Du "Paradigma" im Sinne von "Theorie"? Ich kann mir ja
vorstellen, daß Phänomen A nicht in Theorie B hineinpaßt, aber was
soll's?

Die Antwort hierauf lautet: Jain. Ein Paradigma ist mehr als eine Theorie und keineswegs so genau definiert. Es umfasst neben Theorien, die falsifiziert werden können auch Hypothesen und Arbeits- und Denkweisen. Ich verweise auf das exzelente Buch "The Nemesis affair" von David Raup, daß einen Paradigmenwechsel aus der Sicht eines der beteiligten Wissenschaftler beschreibt. In diesem Fall geht es um die Idee eines Katastrophalen Ereignisses als Auslöser für ein Massensterben. 1980 schlug ein Paper in die Paläontologie ein, daß den KT-Event als das Ergebnis eines Impaktes auswies (Alvarez et al. 1980). Mitlerweile ist der Impakt gesichert, die Mehrheit der Paläontologen hält auch den Zusammenhang zwischen Impakt und Aussterben für gegeben (wobei gilt: Je größer die untersuchten Lebewesen, desto eher ist jemand gegen die Katastrophenthese). Das Paper sorgte für einen Bruch in einer Denktradition, dem reinen Uniformitarismus und erzeugte neue Fragestellungen und Arbeitsmethoden (so wurde die Spektraluntersuchung auf trace Elements hin zum Standard für Grenzschichten). Schon 84 war klar: Egal ob sich die These bewahrheitet, sie hat die Paläontologie grundlegend verändert.

Das stimmt nicht ganz, meiner Meinung nach. Die Menschheit hat auch vor
Newton schon ganz gut *ohne* Physik überlebt und demzufolge keine
Wissenschaft betrieben, sondern nur Beobachtungen gemacht. Der
widerspruchsfreie Kontext wird da gar nicht gefordert, sondern nur die
Erfahrung. Die braucht man aber dann in jedem Fall. Ich glaube nichtmal,
daß die niederen Lebensformen ihre Sinnesdaten "vernünftig" in Deinem
Sinne verarbeiten...

Nun ja, auch vor Newton und in diesem Punkt besser - vor Gallilei, gab es ein Paradigma. Dieses war jedoch prä-empirisch. Wir kennen die "Physik" Aristoteles, die bis dahin ausschlaggebend war und rein deduktiv aufgebaut war. Bis Darwin gab (und für manche gibt es sie ja noch immer) es Schöpfungsmythen, die erklärten woher die Vielfalt des Lebens kommt. Die Wissenschaftliche Methode selbst ist ein Paradigma, das die Form des Erkenntnisgewinns revolutionierte. Und eines das vermutlich nicht mehr aufgegeben wird.

Theorien sind aber lediglich Beschreibungen von Naturvorgängen.

Nein. Theorien sind mehr als Beschreibungen, weil sie prädikativ und nicht bloß deskriptiv sind. Eine Theorie macht (und das ist zentraler Bestandteil jeder Theoriedefinition in der Naturwissenschaft) Voraussagen. Eine Theorie, die nichts beschreibt, daß noch nicht eingetreten ist, ist keine Theorie.

Gut, dann schaffen wir mit Hilfe der Beobachtungsdaten eine Theorie, um
(z.B. in der Physik) eine mathematische Form zu haben.

Nicht ganz. Eine Theorie muß nicht auf Beobachtung beruhen. Eine neue Theorie kann auch durch die Neubewertung von Beobachtungen entstehen (die Relativitätstheorie war ja schon euer Thema, die damaligen Daten konnten durchaus durch Zusätze zur Äther-Theorie erklärt werden. Die Lorentz-Transformationen, einer der mathematischen Karnpunkte der RT wurden von Lorentz als Beitrag zur Ätherwindtheorie aufgestellt). Die Daten die Darwin benutzte waren Jahrhundertelang bekannt. Aber zuvor hatte niemand Taubenzüchterwissen auf die Natur bezogen.
Ich arbeite gerade an einem Paper, für das ich publizierte Daten kompiliere und auswerte. Zentral ist eine neue Sichtweise auf eine alte Fragestellung, die ich jetzt anhand der Literatur überprüfe. Meine Hypothese basiert auf Überlegungen, die nichts mit irgendwelchen Daten zu tun haben, wenn die aktuelle Datenlage sie stützt, wird sie zur Theorie.

Nö, das impliziert erstmal einen neuen Meßwert.

Na ja, die Vakuumlichtgeschwindigkeit ist als konstant definiert. Geht im Prinzip auch ohne, wobei das rechnerisch ein enormer Aufwand ist. c ist für jedes Bezugssystem konstant, weil sich für etwas, daß sich mit c bewegt in jedem Bezugssystem Zeit und Länge gleichermaßen ändern. Raum und Zeit sind über c verbunden. Man kann durchaus c als variabel betrachten und dafür x oder t als absolut annehmen, nur wie gesagt, der rechnerische Aufwand... Und die Komunikation mit anderen Wissenschaftlern leidet. c hat außerdem den großen Vorteil in jedem Bezugssystem da zu sein, die Annahme von t oder x als konstant ist experimentell äußerst schwer zu nutzen...
Trotzdem mal als Denkbeispiel:
Lorentz:
c´=c
t´=t*(1-(v²/c²)^0.5
x´=x*(1-(v²/c²)^0.5

Alternativ:
t´=t
x´=x*(1-(tl²/t²)^0.5
c´=c*(1-(tl²/t²)^0.5
tl, ist die Zeit die das Licht für eine beliebige Strecke benötigt, t die, die die Bezugssysteme für die gleiche Strecke benötigen. In diesem Fall ist c nicht einmal mehr Richtungsinvariant. Und ich sag´s mal so: Wenn man sich es unbedingt so kompliziert wie möglich machen will, benutzt man diesen Ansatz. E=m*sl²/tl². Vieleicht bietet er in irgendeiner Form Vorteile, in irgendeinem Modell der theoretischen Physik. Aber, puh, das muß nicht sein. (Und ich hab´s jetzt nicht für beschleunigte Systeme nachvollzogen, kann sein, daß es da größere Probleme gibt).

Euklid ist deswegen nicht vergleichbar, weil man seine Theorie nicht
korrigieren *muß*. Man *kann* z.B. das Parallelenaxiom weglassen und
landet dann bei den nichteuklidischen Geometrien. Das ist aber bloß eine
Spielerei, wie so oft in der reinen Mathematik. Newtons Theorie *mußte*
aber korrigiert werden, weil sie mit gewissen Meßwerten nicht im Einklang
stand. Ebendiese Weltbezogenheit der Phyik ist der Unterschied zur
Mathematik.

Weltbezogen ist aber nicht eineindeutig.

Die Erkenntnis von Gesetzen kann nur aus der alltäglichen Erfahrung
entstehen, nämlich wenn man merkt, daß bestimmte Dinge immer wieder gleich
ablaufen. Es ist klar, daß Newton zunächst das beschrieben hat, was er
selbst empirisch nachvollzogen hat. Die alltägliche Erfahrung beinhaltet
bereits die Newtonsche Physik, nämlich Gravitation, Bewegungen, Kräfte und
so weiter.

Ich gebe zu bedenken, daß Newton nicht zwingend exemplarisch für die Wissenschaft als Ganzes ist. Und sage weiterhin: Newtonsche Physik kann man auch ohne Kräfte betreiben. Kraft ist ein mathematisches Konstrukt, das die Sache einfacher macht, aber es geht auch ohne, z.B. mit dem Hamiltonformalimus. Die Tatsache, daß Kräfte sich summieren und F=ma ist, bedeutet, daß ich immer Bewegungsgleichungen der Form SUMME(...)=ma aufstellen kann, die Kräfte fallen weg. Kräfte sind i.e.S. nicht existent. Sie werden allerdings sehr schnell sehr hilfreich (bestimme mal die Deformation eines Festkörpers ohne den Kraftbegriff, Spaß für die ganze Familie).

Beobachtung ist bereits die Verifikation eines Zustandes. Wäre das nicht
so, könnte man die Beobachtung auch gar nicht für die Überprüfung einer
Theorie heranziehen, die ja ihrerseits ihre Daseinsberechtigung aus der
Beobachtung erhält. Die Theorie ist nur dann wahr, wenn die Beobachtung
wahr ist. Das heißt die Beobachtung an sich muß auf jeden Fall wahr sein,
denn man kann keine naturwissenschaftliche Theorie zu etwas erstellen, was
nicht beobachtbar ist. Naturwissenschaft möchte doch gerade Erfahrungen
erklären und wo es keine Erfahrungen gäbe, könnte man auch nichts
erklären.

Ah, positiver Realismus. Beobachtung ist zunächst mal die Verifikation einer Beobachtung. Beobachtung kann aufgrund der Beschränktheit unserer Sinne jedoch nie direkt Realität verifizieren. Da unser Wissen über die Beschränktheit unserer Sinne auf genau solchen Beobachtungen fußt, die wir mit ihnen machen, wird es spannend. Irgendwo zwischen naivem Realismus und radikalem Solipsimus liegt die goldene Mitte intersubjektiver Vereinbarungen. Ein Zustand wird nur durch widerholte unabhängige Beobachtung verifiziert.

susu


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