Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Auf dem männlichen Auge blind

Odin, Sunday, 10.06.2007, 23:57 (vor 6320 Tagen)

Folgender Artikel erscheint morgen in der Baseler Zeitung. Ich weiß nicht, ob er online verfügbar sein wird:

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AUF DEM MÄNNLICHEN AUGE BLIND
Zur Geschlechterpolitik in der Schweiz/Von Walter Hollstein*

Vor ein paar Tagen haben zwei Männer auf dem Weg in die Grün 8o zwei andere, jüngere Männer grundlos misshandelt: Männergewalt. Sie kommt in dieser Form täglich vor, meist ist sie inzwischen nicht einmal mehr eine Meldung wert. Was Männer Männern antun, ist kein öffentliches Thema; was Männer Frauen und Mädchen antun, aber schon. Dabei richtet sich in der Schweiz mehr als 8o% der Männergewalt gegen das eigene Geschlecht, also gegen andere Männer und Buben.

Die Probleme von Frauen und Mädchen zu diskutieren, ist seit der Frauenbewegung ?Mainstream?, die Probleme von Buben und Männern bleiben im gesellschaftlichen Diskurs peripher. Männer werden öffentlich noch immer als das ?starke Geschlecht? wahrgenommen und stilisieren sich vor allem häufig auch selber noch so. Das Potential von Männern, ihre eigene Rolle selbstkritisch zu betrachten, ist nach wie vor gering. Selbiges ist nun nicht nur die ?Schuld? der Männer, sondern auch jene der gesellschaftlichen Institutionen, die seit langem die Probleme von Buben und Männern nicht wahrzunehmen bereit sind.


Selbst wenn männliche Machtpositionen stellenweise noch stabil sein mögen, wird man sich heute nicht an der Tatsache vorbeilavieren können, dass die Lebensqualität von Männern stark abgenommen hat. Beratungsstellen für Männer im deutschsprachigen Raum machen zum Beispiel auf folgende Problembereiche aufmerksam:
- Männer haben wachsende Schwierigkeiten in Beziehungen und Familien,
- Männer vermissen wirkliche Freundschaften und soziale Netze,
- Männer klagen über emotionale Probleme,
- die gesundheitliche Verfassung von Männern hat sich signifikant verschlechtert,
- Männer leiden zunehmend an Impotenz,
- Männer sind im Durchschnitt kränker als Frauen und sterben mehr als sechs Jahre früher,
- Männer fühlen sich benachteiligt beim Scheidungsrecht und vor allem beim Sorgerecht, wo sich zunehmend männliche Dramen abspielen.

Trotzdem wird der Ohnmachts-Seite von Männlichkeit nach wie vor keine Aufmerksamkeit zuteil. Inzwischen sind Jungen und Männer auch im Arbeitsleben Benachteiligungen ausgesetzt, wo öffentlich noch immer ihre Stärken und Dominanzen vermutet werden. Während die Quote weiblicher Erwerbstätigkeit weiter steigt, geht die der Männer stetig zurück. Im deutschsprachigen Raum werden inzwischen proportional mehr Männer arbeitslos als Frauen. Perspektivisch wird sich diese Entwicklung noch verstärken. Ein Faktor dafür ist der wachsende Vorsprung von Mädchen in der Bildung. Der Schulerfolg von Mädchen ist inzwischen signifikant höher als der von Jungen, die das Gros von Problemkindern, notorischen Schulschwänzern, Schulversagern, Ausbildungsabbrechern und Frühkriminellen ausmachen. Sozial- und Bildungsforscherinnen sprechen inzwischen bereits von der?Proletarisierung junger Männer?, worauf weitsichtige Soziologen wie Ralf Dahrendorf schon vor fünfzehn Jahren aufmerksam gemacht haben, ohne dass sie gehört worden wären.

Gerät Männlichkeit in die Diskussion, so entzündet sich die Kritik an männlicher Macht und männlichen Privilegien. Dabei steht dann immer das ganze männliche Geschlecht zur Disposition. Machtpositionen und Vorzüge sind aber auf einen sehr kleinen Kreis von Männern beschränkt, die ihre privilegierte Stellung nicht nur auf Kosten von Frauen ausleben, sondern auch zum Schaden der großen Population ihrer eigenen Geschlechtsgenossen. Ebenfalls fällt aus dem Blickwinkel, dass der gesellschaftliche ?Bodensatz? von Obdachlosen, chronisch Kranken (zum Beispiel HIV-Infizierte), Randständigen generell, Wanderarbeitern oder Gefahrenberufen fast ausschließlich männlich ist. Selbstverständlich ist die frauenpolitische Forderung berechtigt, dass Machtpositionen zwischen den Geschlechtern paritätisch zu besetzen sind. Doch welche Feministin sorgt sich um eine gerechte Aufteilung zwischen Männern und Frauen beim Tiefbau, der Kehrrichtabfuhr, dem Schwerverkehr oder der Entsorgung von Gefahrengütern? Das, was unten, dreckig und lebensgefährlich ist, darf unbesehen Männerdomäne bleiben.

Tatbestand ist heute, dass Armut, Krankheit, Süchte, Gewalttätigkeit, Vandalismus, sozialer Abstieg und gesellschaftliche Perspektivlosigkeit bei Buben und Männern dramatisch zunehmen, ohne dass die Politik dies zur Kenntnis nimmt.

Die Folge ist, dass Buben und Männer zunehmend ?asymmetrisch? reagieren, das heisst mit selbst- und fremdgefährdendem Risikoverhalten in Form von Gewalt, Vandalismus oder sexuellen Übergriffen etc. Nahezu 90% der schweren Verkehrsunfälle in der Schweiz werden von jungen Männern zwischen 18 und 25 Jahren verursacht. Ein anderes Beispiel ist, dass seit vier Jahren ? statistisch betrachtet- alle drei Wochen ein Mann seine Familie und sich selbst umbringt. Und ein drittes Beispiel betrifft den wachsenden Rechtsextremismus; auch hier ist bekannt, dass es sich weitgehend um ein Männerphänomen handelt, ohne dass bisher auch nur der Embryo entsprechender geschlechtsspezifischer Handlungsperspektiven ausgearbeitet worden wäre.

Die ungestellte Männerfrage erweist sich mehr und mehr als Bremsklotz der gesellschaftlichen und geschlechterpolitischen Entwicklung.. In diesem Zusammenhang merkt die amerikanische Feministin Susan Faludi an, dass man den Männern Wege weisen muss, die sie beschreiten können, so wie der Staat das gegenüber den Frauen seit den siebziger Jahren getan hat. Männern müsste dabei auch der Gewinn einer veränderten Lebenseinstellung zu sich selber, zu Arbeit und Familie konstruktiv verdeutlicht werden

Doch wer sollte das tun? Geschlechter- und Gleichstellungspolitik in der Schweiz ist pure Frauenpolitik. Für Männer fehlt das reichhaltige Angebot, das Frauen an Informationen, Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Identitäts- und Veränderungsarbeit, Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Selbstentwicklung zur Verfügung steht. Im Gegensatz zu den Frauen haben Männer praktisch keine Anlaufstellen für ihre Probleme. In diesem Kontext muss denn auch erwähnt werden, dass sich Männer in der Schweiz viermal häufiger umbringen als Frauen und die Suizid-Rate von Buben zehnmal höher ist als die von Mädchen.


Dass Männer in der offiziellen Geschlechterpolitik bisher fast nur als Objekt der Kritik ins Visier geraten sind, ist vielfach problematisch. Die französische Feministin Elisabeth Badinter notiert dazu: ?Die Männer fühlen sich (inzwischen) jeder Eigenheit beraubt, nur noch als Adressaten widersprüchlicher Erwartungen?.Grundsätzlich läuft es der demokratischen Verfasstheit eines Staatswesens zuwider, wenn ein ganzes Geschlecht aus politischen Bemühungen ausgespart bleibt. Überdies hat sich diese Praxis auch als kontraproduktiv erweisen, weil Frauenpolitik ohne Männerpolitik nicht wirklich vorankommen kann. Wenn Männer kein Terrain räumen und keine Machtaufgaben mit Frauen teilen, wenn Männer sich nicht auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zum eigenen Thema machen, dann können sich Frauen nicht wirklich befreien.

Dass die Frauenfrage auch eine Männerfrage ist, ist keine neue Erkenntnis, aber eine, die sich leider nicht durchgesetzt hat. Damit sich auch im Geschlechterverhältnis etwas ändert, bedarf es des Wandels im gesellschaftlichen Männerbild.


Im Gegensatz zu der stark veränderten Erziehung von Mädchen ist
die Sozialisation von Buben weithin traditionell geblieben. Frühzeitig wird der Junge in ein gesellschaftliches Korsett von Männlichkeit gepresst. Die Sozialisations- und Männerforschung belegt im Rückgriff auf Untersuchungen aus unterschiedlichen Feldern, dass Buben unerbittlich auf Leistung und Erfolg getrimmt werden. Dazu gehört umgekehrt, dass ihnen Körperkontakte und Zärtlichkeit früh abtrainiert werden, dass sie eigene Probleme schon in einem Alter lösen sollen, in welchem sie dazu noch gar nicht fähig sind und dass sie zu einer männlichen Autarkie angehalten werden, die Beziehungsfähigkeit, Freundschaft und soziale Netze zu tertiärer Lebensbedeutung herabstuft. Identitätsstiftende und tragende Qualitäten wie Introspektion, Empathie und Soziabilität werden in der männlichen Sozialisation nach wie vor vernachlässigt.

Umgekehrt erleben Jungen die Erziehungseinrichtungen mit all den Lehrerinnen, Erzieherinnen, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen als Fortsetzung der häuslichen Mutter-Dominanz. In Kindergärten, Horten, Ganztagseinrichtungen, Schulen und Beratungsinstanzen stoßen sie ständig an weibliche Verhaltensmuster und Grenzsetzungen. In ihrer Motorik und Renitenz drücken sie dann häufig ihren Widerstand gegen die Erziehungseinrichtungen als weibliche Bastionen aus Dieser Widerstand wurde insonderheit auf feministischer Seite nie verstanden und fälschlicherweise als männliches Dominanzverhalten ausgelegt statt ihn als Hilferuf zu verstehen.

Die männliche Rolle ist definiert als Ausübung von Leistung und Macht, wobei diese Machtstellung erst einmal errungen sein muss und dann erhalten sein will. Unter Umständen ist es aber noch viel anstrengender, gemäß der männlichen Rolle zwar nach Macht zu streben, diese aber gar nicht zu erreichen, was das Schicksal der übergroßen Mehrheit der Männer ist. Diese Schizophrenie gilt es dann auszuhalten. Männlichkeit - ob heterosexuell oder homosexuell - verlangt des weiteren Kontrolle, emotionale Distanziertheit, Konkurrenz und Wettbewerb, Härte gegen andere und nicht zuletzt gegen sich selbst. Die tägliche Umsetzung dieser Verhaltensimperative bedeutet auch die tägliche männliche Selbstvergewaltigung. In diesem Sinne ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass so verstandene und praktizierte Männlichkeit eigentlich gegen alle Gebote von Menschlichkeit und Wohlergehen verstößt.

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Odin statt Jesus!
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