Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Habermas: Generationenübergreifende Sippenhaft der Deutschen

T.Lentze, Friday, 07.01.2005, 21:03 (vor 7107 Tagen) @ S*mon

Als Antwort auf: Wie wärs mit Stolpersteinen? von S*mon am 07. Januar 2005 17:58:19:

Wie wär's mit einem "Projekt Stolpersteine"[/b][/link], damit du
an der selben Stelle immer wieder stolperst und es
nur ja nicht vergißt? :-))

Hallo S*mon,

ich zitiere aus einem Artikel von Lorenzo Ravaglio, veröffntlicht in "Novalis", Nov./Dez. 2003 (Hervorhebungen von mir):

"(...) Ernst Nolte hatte darauf hingewiesen, daß die nationalsozialistische Epoche der deutschen Geschichte immer noch "wie ein Richtschwert" über der Gegenwart hänge und daß man sie auch im Zusammenhang mit anderen fschistischen und totalitaristischen Strömungen wie dem Kommunismus sehen müsse. Die Vernichtungspolitk Hitlers gegen die Juden sah er - unter Berücksichtigung der tatsächlichen Bewußtseinsverfassung Hitlers - nicht als einzigartiges Original, sondern als gegenrevolutionäre Reaktion gegen den "jüdischen" Bolschewismus, als Kopie des Klassenkrieges der selbsternannten kommunistischen Parteielite gegen ganze Bevölkerungsschichten, bei dem das erste mal in der Geschichte sich ein Staat systematisch gegen einen beträchtlichen Teil der eigenen Untertanen wandte, um sie auszurotten. Er wies darauf hin, dass es auch politische Interessen geben könnte, den Nationalsozialismus nicht in den Gang der gesamten Geschichte einzuordnen. Er meinte damit eine linksorientierte moralische Geschichtsbetrachtung, die durch ihre Ideologie daran gehindert werde, die Geschichte so zu sehen, wie sie wirklich ist.

Ihm und anderen Historikern wie Andreas Hillgruber wurden Verharmlosungen des Holocaust und Leugnung seiner Einzigartigkeit vorgeworfen. Bei der Historikerdebatte handelte es sich um eine von Jürgen Habermas und Micha Brumlik aufgeworfene "Revisionismus"-Diskussion über eine Gruppe von angeblich neokonservativen Historikern, die eine neue deutsch-nationale Identität schaffen und die Einzigartigkeit der Schuld der Deutschen relativieren wollten. Habermas ging in der Diskussion so weit, eine Art generationenübergreifender Sippenhaft der Deutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu fordern. Der "Revisionismus" war, wie man sieht, ein abgeleiteter Revisionismus, denn keiner der angegriffenen Historiker leugnete den Holocaust oder hielt mit seiner moralischen Entrüstung über die Verbrechen des Nationalsozialismus zurück.

Obwohl dieser Grundkonsens zwischen den angeblich konservativen Historikern und ihren Gegenern bestand, warfen die einen den anderen Revisionismus vor. (...) Die Linken wollten am quasireligiösen Status des Nationalsozialismus als eines "negativen Mythos" festhalten, der ihm eine metahistorische Singularität verlieh: als Stiftungsmythos einer neuen, zivilen Religion, deren große Erzählung der Massenmord an den Juden durch die Nazis war und deren Ritual die Erinnerung an dieses Verbrechen, die Selbstbezichtigung und die Reue über die Verbrechen der Väter und Vorväter, aber auch die nicht enden wollende Anklage gegen die Schuldigen, ihre Kinder und Kindeskinder. Nur wenn die Einzigartigkeit dieses Ereignisses nicht angezweifelt wird, wenn es eine apodiktische Notwendigkeit besitzt, kann es seine quasireligiöse Wirkung entfalten. Deswegen war der Vorwurf, der gegen Nolte und andere erhoben wurde, der Vorwurf der Leugnung dieser Einzigartigkeit. Sie schrieben aber lediglich das historische Bewußtsein fort, während die andere Partei in Auschwitz das Ende der Geschichte sah und den Beginn eines völlig neuen Zeitalters.

(...)

Aber man müsste auch der Wahrheit eingedenk sein, daß das Leid der Opfer ebensowenig vererbbar ist wie die Schuld der Täter.

Nun liegt es in der Natur der Vergangenheit, daß sie vergeht. Allein unser Erinnern hindert sie daran. Eine Vergangenheit kann nicht per se nicht vergehen. Sie kann nur dann nicht vergehen, wenn sie kontinuierlich erinnert wird. Die Formel von der nicht vergehenden Vergangenheit sollte - sozialpsychologisch gesprochen - auf einen neurotischen Habitus des Erinnerns verweisen, der das Vergehen der Vergangenheit aufhebt, weil er das Vergangene behandelt, als wäre es etwas Gegenwärtiges. Den Grund für diese sich gleichsam von selbst aufdrängende Gegenwärtigkeit sahen die Befürworter der Auffassung von der Einzigartigkeit des Massenmordes an den Juden in eben dieser Einzigartigkeit. In jedem Versuch, diese Singularität zu relativieren, sahen sie einen illegitimen Versuch, das Nichtverdrängbare zu verdrängen. Das Nichtverdrängbare ist das Trauma, das nach der psychoanalytischen Theorie zur Neurose führt, eben weil es verdrängt wird. Als neurotisches Symptom drängt es sich von selbst auf. Wenn sich ein traumatisches Ereignis der Vergangenheit dem Erinnern einer späteren Zeit stets von neuem aufdrängt, ist sowohl das Kriterium des Traumas als auch das der Neurose erfüllt."

Ende des Zitats.

In diesem Sinne: ich halte nichts von Einwänden gegen einen Vergleich des kommenden sexistischen Totalitarismus mit dem Nationalsozialismus, wenn diese Einwände sich auf die vermeintliche Einzigartigkeit des Nat'soz' stützen, die durch einen Vergleich dann "relativiert" würden.

Freundliche Grüße, T.L.


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