Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Differenzierte Betrachtung

Arne Hoffmann, Tuesday, 26.11.2002, 20:05 (vor 7976 Tagen) @ Markus

Als Antwort auf: Re: Differenzierte Betrachtung von Markus am 26. November 2002 12:38:05:

Hi Markus,

Das sehe ich komplett anders. Mein (sicher westliches) Rechtsempfinden, das von einem Leben mit freier Meinungsäußerung geprägt ist, weigert sich solche Umstände einfach so mit einem Hinweis auf eine fremde Kultur zur Kenntnis zu nehmen. Ich persönlich werde mir Misshandlungen und Benachteiligungen nicht mit der Rechtfertigung "fremde Kultur" schönreden.

Offenbar hab ich mich da missverständlich ausgedrückt. Ich meine NICHT:
"Folter in der Türkei ... naja, das gehört da irgendwie zur Kultur" oder "Lasst uns das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ignorieren, die Chinesen haben halt ein anderes Verständnis von Menschenrechten." Es ging mir darum, dass ich es für heikel empfinde, bei einem Land, bei dem wir die kulturellen Hintergründe und Zusammenhänge nicht kennen, auf der Grundlage von nur sehr wenig (und wahrscheinlich verfälschtem) bruchstückhaften Wissen automatisch westliche Masstäbe anzulegen. Für Dinge wie dass Folter etc. überall auf der Welt illegitim sind, hat das keine Bedeutung. Eher geht es mir um Kurzschlüsse wie "Die Moslems lassen ihre Frauen alle nur verschleiert gehen, was beweist, dass das alles üble Sexisten sind."

Es gibt ja erfreulicherweise auch afghanische Frauen, die sich vehement dagegen wehren, wenn in westlichen Medien ihre Männer pauschal als Unterdrücker und Vergewaltiger dargestellt werden:
http://www.washingtonpost.com/ac2/wp-dyn?pagename=article&node=&contentId=A4310...

Wie du schreibst: "Gendercide Watch". Da unterstelle ich schon mal eine sehr subjektive Beurteilung.

Wobei man erwähnen sollte, dass diese Organisation ursprünglich mit feministischer Perspektive an das Thema "Menschenrechtsverletzungen auf unserer Erde" ging (sich also vornehmlich um die Frauen kümmern wollte) und erst im Laufe ihrer Arbeit feststellte, dass es Männern in etlichen Fällen viel schlimmer geht, dies aber in unseren Medien tabuisiert wird. Wenn der Durchschnittsbürger hierzulande "Beschneidung" hört, denkt er doch an Männer, die Frauen verstümmeln. Er weiß nicht, dass in allen Ländern, in denen Frauen beschnitten werden, Männer dasselbe Schicksal erleiden, mit denselben Folgen bis hin zum Tod, nur sechsmal so häufig.
Und wenn er an Vergewaltigungen im Kosovo denkt, dann denkt er automatisch an Frauen, obwohl die Opferrate bei Männern weit höher lag: http://adamjones.freeservers.com/effacing.htm

(Adam Jones untersucht in dieser Analyse anhand von Presseartikeln, mit welchen Strategien männliche Opfer an den Rand gedrängt und ignoriert werden und allein "würdigen" Opfern wie Frauen und Kindern in der Berichterstattung Raum gegeben wird. Und er stellt Fragen wie: Warum werden die Massenhinrichtungen ausschließlich von Männern von den westlichen Medien ignoriert? Warum wird Vergewaltigung ganz selbstverständlich als schlimmer bewertet als Folter und Mord? Und warum werden nur die vergewaltigten Frauen als Opfer beklagt, obwohl es fast mit Gewissheit weit mehr männliche Vergewaltigungsopfer gab?)

Der Hinweis aber, wie ungerecht es ist, dass nun anderen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, halte ich persönlich für falsch. Es gibt unzählige Missstände und man kann nicht gleichzeitig alles verändern.

Generell ja, aber wenn das Missverhältnis derart extrem ist, dass Frauen und Kinder in zahllosen Fällen als Opfergruppe herausgegriffen werden und Unterstützung erhalten, Männern das aber verwehrt wird, dann sollte man schon darauf aufmerksam machen. Sobald sich das halbwegs eingependelt hat, ist es natürlich unsinnig Kampagnen zu fahren wie "Ich spende nur für Männer".

Neid halte ich hier aber für ein falsches Zeichen.

Hm, seltsame Definition von Neid. Angenommen du bist blond. Dann siehst du, dass zahlreiche internationale Hilfsorganisationen sich bei fremden Ländern nur um dunkelhaarige Opfer kümmern und willst das zum Thema machen. Ist das Neid?

Weißt du, einerseits wird mit dem "anderen Kulturkreis" gerechtfertigt, dass Frauen ihre Häuser nicht verlassen dürfen, nun werden Zahlen von Minenopfern aufgestellt, die belegen sollen, dass Männer und Kinder mehr leiden als Frauen? Kann ich leider nicht ganz nachvollziehen. Wie soll eine Frau, die in ihr Haus eingesperrt ist, auf eine Mine treten? Nur wenn diese die böse Schwiegermutter vergraben hat. ;-)

Der Punkt ist doch, dass es auch im angeblich so frauenunterdrückerischen Afghanistan immer noch Männer sind, die als Kanonenfutter dienen, während Frauen eine geschütztere Sphäre zugewiesen wird.

Es geht auch nicht um einen Wettbewerb im Leiden, sondern einfach darum, dass auch Männer als Gruppe (!) als Opfer eines Regimes anerkannt werden sollten. Norbert hat ja schon erwähnt, dass in Afghanistan Männern Nasen und Ohren abgeschnitten wurden, wenn ihr Bart zu kurz war.

Die Grenzziehung "männliche Opfer" vs. "weibliche Opfer" wird ja nicht von mir gefordert, ganz im Gegenteil. Ich möchte, dass sich um Opfer unabhängig von ihrem Geschlecht gekümmert wird. Unsere Gesellschaft zieht die Grenze:
weibliche Opfer als Gruppe: um die müssen wir uns kümmern
männliche Opfer als Gruppe: Leerstelle, Nicht-Wahrnehmen

Ich erinnere mich auch an diverse Berichte über Männer, die in den USA hingerichtet werden soll(t)en und würde hier nun auch keine Rufe von Feministinnen akzeptieren, die hier versuchen Geschlechterpolitik daraus zu machen.

Wenn man bedenkt, dass die Todesstrafe in den USA fast ausschließlich Männern zuteil wird, wäre das auch extrem pervers.

Herzlicher Gruß

Arne


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