Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: @Garfield - Re: @Nikos - Re: @Flint - Re: Neues Buch

Garfield, Thursday, 08.09.2005, 11:13 (vor 7008 Tagen) @ Ekki

Als Antwort auf: Re: @Garfield - Re: @Nikos - Re: @Flint - Re: Neues Buch von Ekki am 07. September 2005 15:06:

Hallo Ekki!

"Da Du ein sehr besonnener Diskutant bist, würde es mich sehr interessieren, wie Du persönlich es Dir erklärst, daß gerade das Christentum beides - den Jenseitsglauben und das Kinderkriegen - so vehement propagiert und damit solchen Erfolg hat."

Das erkläre ich mir so:

Religionen wurde ja letztendlich geschaffen, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. In früheren Zeiten, als es noch keine Gesetzbücher und auch keine Polizei und Justiz im heutigen Sinne gab, regelte Religion so ziemlich alles. Sie legte vor allem auch die Regeln des Zusammenlebens fest, und da es noch keine so gut organisierte Strafverfolgung gab, übernahm auch diese Rolle ein Gott, der dann nach dem Tod diejenigen, die sich zu Lebzeiten nicht an diese Regeln gehalten hatten, bestrafte und diejenigen, die sich daran gehalten hatten, belohnte.

Das konnte so natürlich nur funktionieren, wenn man prinzipiell davon ausging, daß es ein Leben nach dem Tod gibt. Auch sonst kam diese Vorstellung den Menschen entgegen, denn es ist nun einmal nicht angenehm, wenn man davon ausgehen muß, daß man nach dem Tod einfach weg ist. Dieses Problem war in früheren Zeiten, als die Menschen noch nicht so alt wurden, ja auch weitaus akuter.

Beides trägt übrigens mit dazu bei, daß Religion heute zumindest in den westlichen Industriestaaten auf dem Rückzug ist. Die heutige gut organisierte Justiz läßt einen strafenden oder belohnenden Gott im Jenseits als überflüssig erscheinen, und der eigene Tod ist für viele Menschen kein wichtiges Thema mehr, weil sie davon ausgehen können, daß er noch weit in der Zukunft liegt.

Die Neigung, Kinder zu bekommen, ist natürlich und war in früheren Zeiten noch weitaus wichtiger als heute. Es starben ja mehr Frauen bei der Geburt, und auch die Kindersterblichkeit war höher als heute mit der modernen Medizin. Überhaupt lebte man allgemein gefährlicher, und so mußte man zwangsläufig sehr viel mehr Kinder in die Welt setzen als heute, um diese Verluste mindestens auszugleichen.

Wenn nun eine Religion sich gegen Kinder ausgesprochen und den Menschen gar Kinder verboten oder zumindest ihre Zahl eingeschränkt hätte, dann hätte sich das fatal auf die Bevölkerungszahl ausgewirkt. So etwas hätte sich nur bei einem Volk durchsetzen können, das relativ abgelegen lebte. In einem begrenzten Lebensraum (z.B. auf einer abgelegenen Insel) hätte so eine kinder-ablehnende Religion sogar sinnvoll sein können.

In vielen Gebieten der Erde war es aber so, daß ein Volk in ständiger Konkurrenz mit Nachbarvölkern lebte. Ein Volk, dessen Religion die Zahl der Nachkommen stark limitierte, wäre dabei zwangsläufig ins Hintertreffen geraten und von anderen Völkern überrollt worden. Deshalb war es häufig gar nicht möglich, daß sich so eine Religion durchsetzte.

Es gab aber in früheren Zeiten auch weniger Gründe, sich gegen Kinder zu entscheiden. Man hat ja üblicherweise nicht denselben Aufwand in ein Kind investiert wie heutzutage. Die Kinder verdienten weitaus früher ihren eigenen Lebensunterhalt, und oft unterstützten sie dann sogar ihre Eltern und Geschwister. So machte sich der relativ geringe Aufwand, den man in Kinder investierte, meist bezahlt.

Außerdem hätte der Verzicht auf Kinder in früheren Zeiten mit den damaligen Verhütungsmitteln de facto auch den Verzicht auf Sex bedeutet. Und das fiel den Menschen schon immer sehr schwer.

Und dann muß man noch etwas bedenken: Die Kinder wurden in früheren Zeiten häufig keineswegs nur von ihren Eltern betreut und erzogen, sondern mehr oder weniger von der gesamten Gruppe. Auch Menschen ohne eigene Kinder kamen so zwangsläufig immer wieder in intensiven Kontakt zu Kindern - es spielte für sie also gar keine so große Rolle, ob sie selbst auch Kinder hatten oder nicht.

Das alles sorgte dafür, daß Kinder als etwas Positives angesehen wurden, und so sprach man auch vom Kindersegen. Viele Religionen übernahmen diese Ansichten und stellten Kinder entsprechend positiv dar.

Dieser Widerspruch zwischen Jenseitsglauben und Kinderzeugung wurde vielen Menschen überhaupt nicht bewußt. Da sie ja ohnehin kaum Möglichkeiten hatten, die Zeugung von Kindern zu verhindern, war es für sie vollkommen selbstverständlich, Kinder zu bekommen. Darüber wurde kaum nachgedacht. Kondome begannen sich erst nach und nach durchzusetzen, als sich Geschlechtskrankheiten ausbreiteten.

Außerdem wurde es in vielen antiken Kulturen auch als normal betrachtet, Neugeborene zu töten, wenn man sie nicht ernähren konnte. In Rom beispielsweise konnte der Mann als Ernährer der Familie entscheiden, ob er noch ein weiteres Kind ernähren konnte oder nicht - wenn er entschied, daß er das nicht konnte, dann konnte er das Kind töten. Auch aus dem alten Ägypten sind Berichte über Kindstötungen bei Hungersnöten überliefert. Ein neugeborenes Kind wurde nicht als vollwertiger Mensch betrachtet, und entsprechend galt es auch nicht als Verbrechen, es zu töten. Auch das trug mit dazu bei, daß die Menschen sich damals kaum Gedanken über Nachwuchs machten.

Das Christentum änderte das zwar, aber das hinderte vor allem Frauen immer noch nicht in jedem Fall daran, neugeborene Kinder zu töten. An den Volkskreuzzügen waren auch viele Frauen beteiligt, und in Berichten aus diesen Volkskreuzzügen wird erwähnt, daß manche von ihnen unterwegs Kinder zur Welt brachten und sie dann einfach am Wegrand liegen ließen. Sie hätten sie auch oft gar nicht ernähren können, weil diese Volkskreuzzüge sehr unorganisiert waren, es deshalb ständig zu wenig Lebensmittel gab und die Menschen entsprechend unterernährt waren. Da bleibt dann auch die Milchproduktion bei Frauen aus, und künstliche Nahrung für Neugeborene gab es noch nicht. In dieser Situation hielt man es dann also immer noch trotz den strengeren Regeln des Christentums für legitim, ein Neugeborenes einfach seinem Schicksal zu überlassen. Denn auch die übrigen Kreuzzugsteilnehmer gingen dann üblicherweise an dem Kind vorbei. Die Chronisten hielten das zwar als ungewöhnlich fest, und unter normalen Umständen wurde es auch damals schon als ungewöhnlich angesehen, aber in dieser Ausnahme-Situation sahen die Beteiligten das offensichtlich immer noch anders.

Heute hat sich das alles sehr geändert, und deshalb sind die heutigen Verhältnisse mit den damaligen gar nicht vergleichbar. Heute wird viel mehr Aufwand für die Kinder betrieben, und vielen Eltern fällt das immer schwerer, weil auch die Ansprüche im Erwerbsleben immer höher werden. Oft werden heute ganz selbstverständlich Überstunden erwartet, man muß sich in der knappen Freizeit fortbilden, um bei der schnellen Entwicklung der Technologie auf dem neuesten Stand zu bleiben...

Auch die Kosten für Kinder sind durch die langen Ausbildungszeiten und durch den heute üblichen Luxus (man vergleiche nur mal ein heutiges Kinderzimmer mit einem Kinderzimmer vor 50 Jahren) ja sehr angestiegen, und vielen Eltern fällt es so immer schwerer, das mit sinkenden Realeinkommen noch zu finanzieren.

Ja, und vor allem gibt es heute zumindest für Frauen bequem anzuwendende Verhütungsmittel.

Das alles sorgt dafür, daß Kinder heute eben nicht mehr selbstverständlich sind. Dann kommt noch dazu, daß die wirtschaftliche Entwicklung kaum Anlaß zum Optimismus bietet. Wer Wert darauf legt, seinen Kindern auch eine gute Zukunft sichern zu können, dem muß das zwangsläufig Sorgen machen.

Und dann gibt es noch die hier wohlbekannten Probleme mit dem Unterhalts-, Scheidungs- und Sorgerecht, vor allem für Väter.

So kommt es eben, daß heute immer öfter hinterfragt wird, was früher selbstverständlich war.

Freundliche Grüße
von Garfield


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