Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Schirrmachers - und nicht nur seine - Inkonsistenz

Ekki, Saturday, 06.05.2006, 15:36 (vor 6567 Tagen)

Hallo allerseits!

Ich möchte noch einmal zurückkommen auf Frank Schirrmachers Buch „Minimum“, das auch hier im Forum ein breites Echo gefunden hat.

Interessant ist ja nicht nur, was gesagt wird, sondern auch – und oft noch viel mehr – was nicht gesagt wird.

Und so bin ich beim Lesen des Buches auf eine Passage gestoßen, an der Schirrmacher auf wirklich ganz entscheidenden Aspekt zu sprechen kommt und ... prompt die Chance vergibt, die mit einer wirklich allseitigen Ausleuchtung dieses Aspekts verbunden gewesen wäre.

Hier zunächst die betreffende Passage:

<hr>

„Etwas Eigentümliches hat sich in den vergangenen Jahren in Italien abgespielt“, sagt der Abgeordnete Giorgio Benvenuto in einem nahezu verschwörerischen Ton, „die Anzahl der Haustiere, die Anzahl der Katzen und Hunde, die zu Hause gehalten werden, hat sich drastisch erhöht. Multinationale Unternehmen, die Haustierfutter herstellen, boomen in unserem Land. Selbst wenn Sie den Fernseher anschalten, werden Sie überrollt von all der Werbung für Katzen- und Hundefutter. Das bedeutet, daß den Leuten etwas fehlt, worum sie sich kümmern können. Ich glaube, Ihnen wird allmählich klar, daß es sich um ein Einsamkeitsproblem handelt, die Menschen fühlen sich einsam, auch in der Masse.“

Mit anderen Worten: Sie empfinden vorauseilend Einsamkeit, denn noch gibt es die Masse – zumindest in manchen Ländern. Und noch kann die Masse etwas bewegen. Was aber, wenn es sie nicht mehr gibt, was wäre wohl dann damals in Rumänien passiert, als Ceausescu gestürzt wurde?

Der amerikanische Wirtschaftsprofessor Steven Levitt und Stephen Dubner, ein Journalist der New York Times, haben in Freakonomics einen Anwendungsfall für dieses Gedankenbeispiel geliefert.

1966 erklärte der Diktator Nicolae Ceausescu Abtreibungen für illegal. Bis dahin hatte Rumänien bis zu vier Abtreibungen auf jede Lebendgeburt erlaubt. Ceausescu wollte Bevölkerungswachstum, und Bevölkerungswachstum heißt Kinder, und die Art und Weise, wie er seitdem die Verhinderung von Abtreibungen kontrollieren ließ, wäre eine eigene Geschichte wert. Tatsache ist, dass sich die Geburtenrate innerhalb kürzester Zeit verdoppelte, der Staat mit den vielen Kindern aber nicht zurechtkam und sie in jenen Kinder- und Waisenheimen vegetieren ließ, von denen eine entsetzte westliche Welt erst nach Ceausescus Sturz erfuhr.

Die Stunde der Kinder – dreiundzwanzig Jahre waren die ältesten der von der Ceausescu-Regel Betroffenen – aber kam 1989. „Das Abtreibungsverbot“, schreiben Levitt und Dubner, blieb bis zum Ende der Ceausescu-Herrschaft bestehen. Am 16. Dezember demonstrierten in den Straßen der westrumänischen Stadt Temesvár Tausenden von Menschen gegen sein marodes Regime. Viele der Demonstranten waren Schüler und Studenten. Einer der Oppositionsführer, ein einundvierzigjähriger Professor, sagte später, seine dreizehnjährige Tochter habe darauf bestanden, daß er trotz seiner Furcht an den Protesten teilnahm. 'Es ist höchst interessant, daß wir von unseren Kindern gelernt haben, uns nicht zu fürchten', sagte er. 'Die meisten von ihnen waren zwischen dreizehn und zwanzig Jahre alt.' Einige Tage nach dem Massaker in Temesvár hielt Ceausescu in Bukarest eine Ansprache vor Hunderttausenden von Menschen. Und wieder waren es die Jugendlichen, die sich nicht einschüchtern ließen. Mit ihren Rufen 'Temesvár!' und 'Nieder mit den Mördern!' machten sie Ceausescu fertig. ( ... ) Von allen kommunistischen Führern, die ion den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion abgesetzt wurden, hat nur Nicolae Ceausescu einen gewaltsamen Tod gefunden. Man sollte dabei nicht übersehen, daß sein Sturz maßgeblich von den rumänischen Jugendlichen herbeigeführt wurde – von denen viele ohne sein Abtreibungsverbot niemals geboren worden wären.“

<hr>

Soweit der Auszug aus Schirrmachers Buch.

Bevor ich zum Kern der Sache komme – nämlich dazu, was Schirrmacher zu demographischen Problemen sagt – kann ich es mir nicht verkneifen, Euch vor Augen zu führen, daß selbst die Gedankengänge, die zu diesen Überlegungen führen, so haarsträubend kraus sind, dass sich einem die Zehnägel aufrollen.

Der Text beginnt also mit der Feststellung eines italienischen Abgeordneten, daß viele Menschen in ihrer Einsamkeit verstärkt Haustiere nachfragen.

Daraufhin macht Schirrmacher einen vielfachen Salto Mortale der Logik:

Zunächst einmal bringt er das überaus merkwürdige Konstrukt, daß Menschen, die unter einer Masse anderer Menschen leben, „vorauseilend Einsamkeit empfinden“.

Häääää? Viel einleuchtender – und nicht erst seit gestern bekannt – wäre doch gewesen, dass man durchaus auch in einer Masse vereinsamen kann, wenn man keine individuelle Zuwendung erfährt. Das aber wäre – bzw. ist – eine ganz und gar gegenwärtige Einsamkeit, und keine „vorauseilend empfundene“.

Aber sei dem wie ihm wolle, Schirrmacher macht den nächsten gedanklichen Riesensatz:

„Und noch kann die Masse etwas bewegen.“

Also was nun? Führt die Masse zur Vereinsamung oder bewegt sie etwas? Sowohl als auch?

Mit dem nächsten Gedankensprung katapultiert uns Schirrmacher geradewegs auf den Balkan, in das Rumänien des neuzeitlichen Dracula Ceausescu:

„Was aber, wenn es sie nicht mehr gibt, was wäre wohl dann damals in Rumänien passiert, als Ceausescu gestürzt wurde?“

Ja – was? Das kann wohl nur der liebe Gott sagen. Doch halt – nicht nur er:

"Der amerikanische Wirtschaftsprofessor Steven Levitt und Stephen Dubner, ein Journalist der New York Times, haben in Freakonomics einen Anwendungsfall für dieses Gedankenbeispiel geliefert."

Folgt die Darlegung, daß der Sturz von Ceausescu den Massen der rumänischen Kinder und Jugendlichen zu danken ist. Aber zu dem, was angekündigt war – was nämlich bei Ceausescus Sturz passiert wäre, wenn es die Massen nicht gegeben hätte - dazu findet sich (zumindest in der von Schirrmacher zitierten Passage) kein Wort.

Ich habe deshalb im Internet nachgeforscht und bin tatsächlich fündig geworden:

„Freakonomics“ kann man hier http://www.freakonomics.com/pdf/StudentFREAKONOMICS.pdf ansehen und hier http://www.freakonomics.com/studyguide/index.php herunterladen (am Ende der Seite auf „The Student's Guide can be downloaded here“ mit der rechten Maustaste anklicken und dann „Ziel speichern unter“.

Ergebnis meiner Recherche:

Von Ceausescu keine Spur. Allerdings: Schirrmacher verweist in der Fußnote auf S. 163 einer in München erschienenen Ausgabe von Freakonomics. Insofern konnte ich nicht herausfinden, was die Autoren vielleicht zu Ceausescu noch geschrieben haben.

Aber jetzt zum Kern der Sache, zu den Ausführungen Schirrmachers und der Autoren von Freakonomics zur Demographie.

Wenn Schirrmacher schreibt:

„Ceausescu wollte Bevölkerungswachstum, und Bevölkerungswachstum heißt Kinder, und die Art und Weise, wie er seitdem die Verhinderung von Abtreibungen kontrollieren ließ, wäre eine eigene Geschichte wert.”

so kann man die von ihm hier weggelassenen Informationen zumindest ansatzweise nachlesen, nämlich hier: ]http://de.wikipedia.org/wiki/Cighid[/link] Die entscheidenden Passagen:

„In den Jahren nach 1970 wollte der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu sein Volk vergrößern. Daher erließ er ein Gesetz, dass die Anzahl der Kinder pro Familie auf mindestens fünf festlegte. Verhütung und Schwangerschaftsabbruch wurden verboten und mit Freiheitsstrafe bedroht. Selbst Not leidende oder kranke Mütter mussten ihren Nachwuchs gegen ihren Willen zur Welt bringen. Viele versuchten, die Föten mit Drähten oder Medikamenten abzutreiben.
Massenhaft wurden behinderte oder überzählige Kinder geboren und in Sozialwaisenhäuser abgeschoben. Im Alter von drei Jahren wurden sie von einer Ärztekommission begutachtet. Die Stärksten („Sterne unserer Zukunft“ genannt) griff sich das Ehepaar Ceausescu und rekrutierte sie für seine Präsidentengarde (so genannte „Falken des Vaterlandes“). Danach suchten sich die Führer der Geheimpolizei Securitate ihre Rekruten.
Die Kinder mit Geburtsschäden, mit Behinderungen, mit chronischen Erkrankungen und mit Entwicklungsverzögerungen wurden als „Unwiederbringliche“ bezeichnet und in Heime abgeschoben. Ganz Rumänien war mit solchen Ärztekommissionen und Kinderheimen durchzogen. Viele Kinder starben bereits nach wenigen Wochen an Hunger, Erfrierungen, an Krankheiten und an mangelnder Hygiene.”

Ich erinnere mich übrigens noch gut an die SPIEGEL-Reportagen über Cighid – sowohl an die unmittelbar nach der Entdeckung, als auch über die einige Jahre jüngere über erste Ergebnisse des Versuchs, das Los der Kinder zu bessern. Insbesondere die Lektüre des ersten Artikels hat mich – sowohl des Textes als auch der Bilder wegen – psychisch bis zum Äußersten strapaziert.

Das obige Zitat von Schirrmacher legt übrigens nahe, dass er „die Art und Weise“, die „eine eigene Geschichte wert wäre“, nicht billigt. ABER GENAU AUF DIESEN PUNKT WIRD GLEICH ZURÜCKZUKOMMEN SEIN!

Zunächst einmal steht uns der nächste Schirrmachersche Genickbruch der Logik ins Haus:

Nachdem er das Grauen in den rumänischen Kinderheimen angedeutet hat, kommt er zum Kern seiner Argumentation, nämlich dass „die Stunde der Kinder 1989 kam“, als besagte Kinder und Jugendlichen maßgeblich zu Ceausescus Sturz beitrugen.

Mit Verlaub:

Es waren nicht die von Schirrmacher erwähnten Heimkinder, die da demonstrierten.

Der totale Hammer aber kommt zum Schluß:

„Man sollte dabei nicht übersehen, daß sein Sturz maßgeblich von den rumänischen Jugendlichen herbeigeführt wurde – von denen viele ohne sein Abtreibungsverbot niemals geboren worden wären.”

Ja sagt mal – geht's noch?! Wie verhält sich denn diese Aussage zu den Methoden der Abtreibungsverhütung, „die eine eigene Geschichte wert wären“? ))--

Oder ... ja, oder bin ich vielleicht auf dem ganz falschen Dampfer? Möchte Schirrmacher, der die amerikanischen Autoren ohne jeden Vorbehalt zitiert, in Deutschland am liebsten so agieren, wie Ceausescu in Rumänien? :twisted:

An dieser Stelle wird es Zeit, den Blick zu weiten - von dem Schirrmacherschen Gedanken-Apfelmus auf die Demographie-Problematik allgemein.

Äußerst interessant fand ich folgende Sätze:

„Tatsache ist, dass sich die Geburtenrate innerhalb kürzester Zeit verdoppelte, der Staat mit den vielen Kindern aber nicht zurechtkam und sie in jenen Kinder- und Waisenheimen vegetieren ließ, von denen eine entsetzte westliche Welt erst nach Ceausescus Sturz erfuhr.”

Da drängen sich doch folgende Fragen geradezu auf:

Kam der Staat Ceausescus nur deshalb „mit den vielen Kindern nicht zurecht“, weil er ein Terrorstaat war?
Oder könnte es sein, dass von einer „Verdoppelung der Geburtenrate innerhalb kürzester Zeit“ auch freiheitliche Gemeinwesen überfordert wären?
Oder könnte es vielleicht sogar so sein, daß unter den Staaten, bei denen heute Überbevölkerung und Kinderelend zu registrieren sind, keineswegs alle Diktaturen sind?

Und außerdem, liebe „Abtreibung-ist-Mord“-Fraktion: Wenn es in dem oben verlinkten Wikipedia-Artikel heißt:

„Verhütung und Schwangerschaftsabbruch wurden verboten und mit Freiheitsstrafe bedroht. Selbst Not leidende oder kranke Mütter mussten ihren Nachwuchs gegen ihren Willen zur Welt bringen. Viele versuchten, die Föten mit Drähten oder Medikamenten abzutreiben.”

- IST ES DAS, WAS WIR ZU ERWARTEN HABEN, WENN IHR UND EURESGLEICHEN MAL AN DIE MACHT KOMMT?

Auf alle diese Fragen bleibt Schirrmacher die Antwort schuldig. Das kann indes kaum verwundern: Ein ernsthaftes Nachdenken über diese Frage hätte ein ganz anderes Buch ergeben. Und Schirrmacher ging es offensichtlich um die vorbehaltlose Verklärung der Familie und um sonst gar nichts!

In der letzten Sendung der „Mitternachtsspitzen“ hat der Kabarettist Volker Pispers u.a. folgende Gedanken zur angeblichen demographischen Katastrophe gebracht – ich zitiere aus dem Gedächtnis:

„Bevor man anfängt, nach mehr Kindern zu rufen, soll man sich erst mal um die kümmern, <color=darkred>die bereits da sind</color>.“
„Sagen Sie mal, wissen Sie, wieviele <color=darkred>Norweger</color> es gibt? Sollen die jetzt alle in <color=darkred>Panik</color> verfallen, weil sie <color=darkred>am Aussterben</color> sind?“

Noch eine Einzelheit zum Schluß:

Da Schirrmacher zu Anfang des von mir zitierten Textes seinerseits einen italienischen Abgeordneten zitiert, habe ich nachgeforscht, welcher politischen Richtung dieser Abgeordnete zuzuordnen ist.

Ausweislich der italienischen Abgeordneten Liste ]http://www.camera.it/deputati/Composizione/schede_/d00048.asp[/link] gehört er ... der linkslinberalen „Olivenbaum“-Koalition von Romano Prodi an.

Man sieht: Das Problem der Vereinsamung des modernen Massenmenschen wird auch von Vertretern der Linken durchaus erkannt.

Welche halsbrecherischen gedanklichen Konstrukte dann allerdings daran geknüpft werden – das ist Schirrmachers ureigenste Leistung.

Maybritt Illner pflegt ihren Gästen am Ende von „Berlin Mitte“ „viel Freude beim Vermehren der gewonnenen Einsichten“ zu wünschen.

Ich wünsche der „Abtreibung-ist-Mord“-Fraktion viel Freude beim Vermehren der Bevölkerung – und gelegentlich vielleicht mal die ein oder andere Einsicht, z.B. diejenige, dass der Zeugungsakt alleine etwas vollkommen Wertneutrales ist, was per se noch keine intakten Familien, keine glückliche Gesellschaft hervorbringt.

Gruß

Ekki


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