Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Fahrenheit 68

Maesi @, Friday, 15.09.2006, 02:21 (vor 6494 Tagen) @ hquer

Hallo hquer

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Gratulation! Das beste, was ich seit langem ueber die 68er-Bewegung gelesen habe; natuerlich sage ich das nur deshalb, weil ich in allen wesentlichen Punkten mit Dir uebereinstimme *bg*.

Dazu einige Anmerkungen:

1. Die 68er-Bewegung gab sich zwar ungemein politisch, war aber in erster Linie ein Generationenkonflikt, den es in frueheren Zeiten schon immer gegeben hatte. Die direkten politischen Auswirkung waren denn auch vergleichsweise gering; in frueheren Diskussionen ueber die 68er im Vorgaengerforum konnten ausser Allgemeinplaetzen, wie die 'Ueberwindung des 50er-Jahre-Miefs' oder politisch belanglose Dinge, wie die Freiheit Jeanshosen tragen und oeffentlich laute Musik hoeren zu duerfen, keine nennenswerten Errungenschaften genannt werden, die direkt aus der Bewegung hervorgingen. Wesentlich wichtiger sind wohl die indirekten politischen Auswirkungen, welche ehemalige 68er-Aktivisten in den darauffolgenden 20 Jahren im Rahmen ihres politischen Engagements verursachten. Zu den indirekten Auswirkungen zaehle ich z.B. den Umweltschutz (v.a. auch die Anti-Atomkraft-Bewegung), die organisierte Friedensbewegung (die heute zunehmend in eine Anti-Globalisierungsbewegung umkippt) oder eben den heutigen politischen Staatsfeminismus. Die weitaus meisten 68er waren jedoch Mitlaeufer, die kaum je tiefgruendig ueber die damaligen politischen Entwicklungen nachdachten, sich an ihrer Empoerung bei bestimmten Skandalen aufgeilten (z.B. Watergate), selten ueber schablonenhaftes Nachplappern der Thesen ihrer vergleichsweise wenigen Meinungsfuehrer hinauskamen und mit dem Ueberwinden ihrer pubertaeren Sturm- und Drangphase sich erstaunlich schnell wieder aus der politischen Bewegung verabschiedeten. Nicht wenige stellten mit dem Eintritt ins Erwerbsleben wahrscheinlich auch konsterniert fest, dass die Realitaet des einst von ihnen verachteten 'Konformisten' und 'Spiessbuergers' etwas anders aussah, als sie es sich vorher in ihrer grauen, studentisch-revoluzzerischen Theorie ausgemalt hatten.

2. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gilt praktisch nur fuer die deutsche 68er-Bewegung. Eine moeglicherweise 'braune' Vergangenheit ihrer Vaeter ging den 68er-Aktivisten im Rest der Welt voellig am *rsch vorbei, dort waren vielmehr ganz andere Themen praesent. Eines der wenigen laenderuebergreifenden politischen Themen war der Pazifismus. Direkte Konsequenz dieses Pazifismus' war eine zunehmende Wehrdienstverweigerung. Was der jedoch Pazifismus wert ist, wenn die eigene politische Macht auf dem Spiel steht, sah man vor einigen Jahren eindruecklich bei den Gruenen, die den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mittrugen, nachdem Bundeskanzler Schroeder die Vertrauensfrage damit verknuepfte.

3. Erhellend ist fuer mich v.a., wie aehnlich die Reaktionen der heute in die Jahre gekommenen 68er-Aktivisten und -Sympathisanten im Vergleich mit ihrer damaligen Elterngeneration ist. Die reichlich disparaten Ideale der 68er werden heute von ihren Nachkommen in Frage gestellt, und schon reagieren die 68er aehnlich verbissen, verleugnend, ablehnend, abwehrend, verharmlosend, ausweichend wie jene Generation, die sie damals in aehnlicher Weise angegriffen haben. Kurzum: sie bekommen heute von derselben Medizin zu kosten, die sie ihren Eltern verpasst haben, und empfinden sie nun als ebenso bitter wie ihre Eltern damals.

4. Man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Der heutige Staatsfeminismus ist mit der These 'das Private ist politisch' im Kern totalitaer. Inwieweit diese These in der 68er-Bewegung eine Rolle gespielt hat, weiss ich zugegenermassen nicht. Hingegen haengt die zunehmende Buerokratisierung und die immer weitergehende Einmischung des Staates in die privaten Belange seiner Buerger IMHO sehr stark mit dem 'Marsch der 68er durch die Institutionen' zusammen. Sie waren einst aufgebrochen, die Gesellschaft zu entkriminalisieren, zu entpoenalisieren, zu entinstitutionalisieren. Sie sind damit eindeutig gescheitert und mutierten vielmehr selbst zu Eiferern, die das Heil der Gesellschaft in staatlichen Institutionen sehen, die den Buerger in allen Lebensbereichen bevormunden sollen. Der Staatsfeminismus ist in dieser Buergerbevormundungsbewegung mit ihrer Kriminalisierung, Poenalisierung und Institutionalisierung an vorderster Front mit dabei.

Natuerlich ist es ziemlich unfair, die 68er alle in einen Topf zu stecken; da diese aber vor 40 Jahren dasselbe mit ihrer Elterngeneration gemacht haben, empfinde ich das als ein Stueck intergenerationell-ausgleichende Gerechtigkeit. Trotzdem sollte man das 'Revoluzzertum' der 68er vielleicht etwas nachsichtiger beurteilen, denn auch die Nach-68er-Generation wird irgendwann ihrerseits von der nachrueckenden Generation mit unangenehmen Fragen und Anschuldigungen konfrontiert werden. Und dann wird man sich wahrscheinlich jene Nachsicht wuenschen, welche man den 68ern heute nicht gewaehrt.


Gruss

Maesi


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