Polizeiliche Sonderstatistik von 1968 bis 1982

Kriminalstatistik
Uwe Dörmann, Wiss. Direktor im BKA, Wiesbaden
Vollendete Tötungsdelikte an Kindern
Polizeiliche Sonderstatistik für die Zeit von 1968 bis 1982

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Die Auswertung einer Sonderstatistik über die von den Polizeidienststellen gemeldeten Tötungsdelikte an Kindern für den Zeitraum 1968 bis 1982 ergibt, daß aus dem Meldeaufkommen nicht ohne weiteres auf die tatsächliche Entwicklung dieser Delikte geschlossen werden kann. Erschreckend, aber nicht erstaunlich: Kinder werden meist von den eigenen Eltern getötet.

Unabhängig von der Polizeilichen Kriminalstatistik erhält das Bundeskriminalamt von den Landeskriminalämtern seit 1968 monatlich Meldungen über an Kindern verübte Straftaten mit Todesfolge (ohne Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr). Da eine Statistik nur für die Schublade kaum sinnvoll ist, erscheint eine erneute Veröffentlichung[1] angebracht, diesmal über bereits fünfzehn Berichtsjahre von 1968 bis 1982 einschließlich.

Die Einbeziehung eines größeren Zeitraumes ist schon deshalb geboten, weil die relativ kleinen Zahlen zufälligen Schwankungen besonders stark unterliegen. Die geringen Fallzahlen sind ein Problem bei der Beurteilung von Entwicklungstendenzen. Ein weiteres ergibt sich dabei daraus, daß bei diesem Sondermeldedienst die regelmäßige Erfassung nicht in der gleichen Weise formal abgesichert werden kann, wie dies bei der Polizeilichen Kriminalstatistik geschieht. So könnte die folgende Übersicht zur Fall- und Opferentwicklung mit ihren zuletzt deutlich gesunkenen Zahlen durchaus die tatsächliche Entwicklung widerspiegeln, vielleicht als Ergebnis veränderter Einstellungen zu insbesondere unehelichen Kindern oder als Folge kleinerer Geburtsjahrgänge[2], sie könnte aber auch nur das schlichte Resultat abnehmender Meldefreudigkeit der Dienststellen sein:

1968: 98 Fälle mit 118 Opfern
1989: 125 Fälle mit 138 Opfern
1970: 123 Fälle mit 145 Opfern
1971: 123 Fälle mit 132 Opfern
1972: 100 Fälle mit 114 Opfern
1973: 128 Fälle mit 142 Opfern
1974: 99 Fälle mit 110 Opfern
1975: 98 Fälle mit 101 Opfern
1976: 110 Fälle mit 125 Opfern
1977: 83 Fälle mit 91 Opfern
1978: 103 Fälle mit 116 Opfern
1979: 97 Fälle mit 100 Opfern
1980: 72 Fälle mit 78 Opfern
1981: 61 Fälle mit 69 Opfern
1982: 61 Fälle mit 71 Opfern
—— —- ——— —- ——
insg.: 1481 Fälle mit 1650 Opfern

In den vergangenen fünfzehn Jahren sind also insgesamt mindestens 1650 Kinder getötet worden. Außerdem ist noch von einem auch bei Tötungsdelikten an Kindern sicher nicht unerheblichen Dunkelfeld von Taten auszugehen, die der Polizei nicht bekanntgeworden sind[3]. Von den sich seit 1979 verringernden Werten abgesehen, zeigt diese Zahlenreihe einen recht schwankenden Verlauf.

Für den Zeitraum 1968 bis 1974 wurde berichtet, daß der Tatort in der Regel im näheren Wohnbereich lag. Dies dürfte sich zwar kaum geändert haben, ist für die letzten Jahre jedoch nicht mehr überprüfbar, da genauere Bezeichnungen der Tatörtlichkeit inzwischen zu häufig fehlen. In mehreren Fällen ist ohnehin nur noch der Fundort der Toten bekannt. Wie schon für den Zeitraum 1968 bis 1974 kann auch für die Jahre 1975 bis 1982 aus der Ortsangabe geschlossen werden, daß sich gleichbleibend etwa 26 % dieser Fälle in Großstädten ab 500 000 Einwohnern ereigneten. In diesem Zeitraum hat sich der deutlich niedrigere Bevölkerungsanteil dieser Gemeindegrößenklasse von ca. 17 % ebenfalls kaum verändert. Die größten Städte sind — nicht zufällig — überrepräsentiert und zwar nahezu im gleichen Ausmaß wie bei der in der Polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Gesamtkriminalität[4]. Die jahreszeitliche Verteilung der Fälle zeigt etliche Schwankungen, aber keine saisonalen Schwerpunkte.

Meist wurden die Kinder erschlagen oder erstochen (380 Kinder seit 1968, davon ca. 10% erstochen), erwürgt oder erdrosselt (313), vergiftet (186), erstickt (139), ertränkt (135), nicht versorgt (124) oder erschossen (71). Im Zeitablauf gab es bei diesen Tötungsarten keine nennenswerten Anteilsveränderungen. Verschiedentlich kam es dabei zu recht ungewöhnlichen Tatabläufen: So sprang z.B, ein Lebensmüder aus dem 12. Stock und fiel auf ein zehnjähriges Kind; andere Kinder wurden aus Fenstern in Hochhäusern geworfen; eine Mutter ertränkte ihre vier Monate alte Tochter, versuchte ihrer vierjährigen Tochter die Pulsadern zu öffnen und erhängte sich anschließend.

Jeweils etwa die Hälfte der Opfer waren Knaben oder Mädchen. Geschlechtsspezifische Unterschiede gab es für den gesamten Zeitraum – bei Schwankungen von Jahr zu Jahr – insgesamt also nicht. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn die Opfer nach Geschlecht und Alter aufgegliedert werden. Dann zeigt sich, daß neugeborene Mädchen häufiger getötet werden als neugeborene Knaben. Bei den unter sechs Monate alten Kindern gilt dies auch noch, aber schon abgeschwächt. Später, angefangen bei den sechs Monate bis unter zwei Jahre alten Kindern, kehrt sich dieses Verhältnis dagegen um, wie der folgenden Übersicht zu entnehmen ist:

Opfer männl. weibl. insges.
———————- —– —– ——
neugeboren 163 193 356
unter 6 Monaten 32 97 189
6 Mon. bis unter 2 Jahre 111 104 215
2 Jahre bis unter 6 Jahre 223 204 427
6 Jahre bis unter 10 Jahre 134 121 255
10 Jahre b. unter 14 Jahre 99 94 193

Zur Bewertung dieser Unterschiede wäre denkbar, daß sich bei den Neugeborenen noch die traditionelle Höherbewertung männlicher Nachkommen niederschlagen könnte, während bei den älteren Kindern Konflikte zwischen Eltern und Kindern eine beachtliche Rolle spielen dürften. Neugeborene (22,4% der Opfer), Säuglinge und Kleinkinder sind nach wie vor am gefährdetsten. Nur etwa ein Viertel der getöteten Kinder (27,1%) sind bereits im Schulkindalter, also älter als fünf
Jahre.

Auffällig ist, daß der Rückgang der Opfer in den letzten Jahren sich im wesentlichen auf die jüngsten Altersgruppen unter sechs Janren beschränkte, während sich die Opferzahlen der älteren Kinder kaum veränderten. Dies scheint ein Indiz dafür zu sein, daß auch der Rückgang der Gesamtzahlen in den letzten Jahren die tatsächliche Entwicklung tendenziell korrekt widerspiegeln könnte. Besonders für den Rückgang der neugeborenen Opfer bietet sich neben der demografischen (kleinere Geburtsjahrgänge) auch eine soziale Erklärung an, nämlich eine veränderte Einstellung gegenüber unehelich geborenen Kindern, die sich auch in steigenden Geburtenanteilen dieser Gruppe und in nach der Kriminalstatistik sinkenden Zahlen von Kindestötungen nach §217 StGB niederzuschlagen scheint.

Bei den Tatverdächtigen fallen die Geschlechtsunterschiede deutlicher aus als bei den Opfern, aber auch hier wieder in Abhängigkeit von ihrem Alter. So finden sich unter den Minderjährigen 91 männliche und 45 weibliche Tatverdächtige mit sicher sehr unterschiedlicher Motivationsstruktur. Schon bei den Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) dominieren bereits die weiblichen Tatverdächtigen gegenüber den männlichen. Ähnlich bleibt dieses Verhältnis bei den bis unter 40jähri-gen Tatverdächtigen. Danach jedoch kehrt sich die Geschlechtsrelation wieder um, wie die folgende Aufstellung zeigt:

Tatverdächtige männl. weibl. insges.
——————— —– —– ——
unter 14 Jahre 30 2 32
14 bis unter 18 Jahre 61 43 104
18 bis unter 21 Jahre 42 102 144
21 bis unter 25 Jahre 79 170 249
25 bis unter 30 Jahre 102 188 290
30 bis unter 40 Jahre 175 209 384
40 bis unter 50 Jahre 72 55 127
50 und älter 23 14 37

Insgesamt stehen 783 weibliche Tatverdächtige 584 männlichen gegenüber. Diese Relation ist darauf zurückzuführen, daß meist enge Vorbeziehungen zwischen Opfer und Haupttäter bestanden, wie sich aus der nachstehenden Aufstellung ergibt:

Haupttäter war Opfer
————– —–
Mutter 725
Vater 305
Geschwister 18
sonstiger Verwandter 54
Bekannter 165
Fremder 80
Unbekannt 283
————– —-
Insgesamt 1650

Fast zwei Drittel der Kinder (1030) wurden danach von den eigenen Eltern getötet. Nimmt man noch die weiteren Angehörigen und die Bekannten dazu, dann ergibt sich, daß in fast vier von fünf Fällen (78%) eine enge Täter-Opfer-Beziehung bestanden hat. Vergleichsweise selten (4,9% der Opfer) fielen Kinder dagegen Fremden zum Opfer, auch wenn in der Restgruppe der Fälle mit nicht ermittelten Tätern am ehesten Fremde enthalten sind[5]. Im Zeitablauf hat sich an diesen Anteilen übrigens nur wenig geändert. In einzelnen Fällen töteten sich die Täter selbst, z. B. 1980 zehn, 1981 sieben und 1982 zwei. Hierbei handelte es sich meist um Eltern(teile), die sich in einer ausweglosen Situation glaubten und ihre Kinder in den Tod mitnahmen.

Anmerkungen:

[1] Eine erste Auswertung wurde in Kriminalistik 10/1975 S. 465 für den Zeitraum 1968 bis 1974 vorgenommen.
[2] So hat neuerdings auch die Zahl tatverdächtiger Kinder infolge sinkender Geburtsjahrgänge erheblich abgenommen. Bei den Tötungsdelikten an Kindern sind die absoluten Zahlen allerdings zu gering, um eine anscheinend ablesbare Beziehung bestätigen zu können.
[3] S. dazu z. B. Dotzauer/Jarosch 1971, Mätzler 1978, Wehner 1957.
[4] Die Tatorte lagen z. B. 1982 in 28,4% der insgesamt statistisch registrierten Straftaten in der Gemeindegrößenklasse ab 500000 Einwohner.
[5] Zum Teil handelt es sich bei den Unbekanntfällen jedoch um neugeborene Opfer, bei denen die Mutter oder zumindest eine ihr nahestehende Person Täter war.

Literaturhinweise für vertiefende Lektüre (Auswahl):

Ammon, G.: Kindesmißhandlung, München 1979.
Biermann, G.: Kindeszüchtigung und Kindesmißhandlung, München 1969.
Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit: Kindesmißhandlung – Kinderschutz, Bonn 1980.
Dotzauer, G., und Jarosch, K.: Tötungsdelikte, BKA-Schriftenreihe, Wiesbaden 1971.
McGehee, Ch. L.: Child Abuse in the Federal Re-public of Gerrnany, in: Victimology, Vol. 6/1981, S. 215-233
Göppinger, H. und Bresser, P. H.: Tötungsdelikte, in: Kriminologische Gegenwartsfragen, Bd. 12, Stuttgart 1980.
Mätzler, A.: Ober Fehlerquellen im polizeilichen Ermittlungsverfahren, in: Kriminalistik 1978, S. 247-251.
Rasch, W.: Tötungsdelikte, nicht fahrlässige, in: HWKrim 3 (1975), S. 353-398
Sessar, K.: The Familiar Character of Criminal Homicide, in: Victimology: A New focus, Vol. IV, Lexington 1975, S. 29-42
Trube-Becker, E.: Frauen als Mörder, München 1974, und Gewalt gegen das Kind, Kriminalistik-Verlag 1982
Wehner, B.: Die Latenz der Straftaten, BKA-Schriftenreihe, Wiesbaden 1957
Wolff, R. (Hrsg.): Gewalt gegen Kinder, Hamburg 1975
Wolfgang, M.: Patterns in Criminal Homicide, Philadelphia 1958
Zens, G.: Kindesmißhandlung und Kindesrechte, Frankfurt 1979

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