Wer sind wir eigentlich?

Bernhard Lassahn

von Bernhard Lassahn

Worum geht es? Um Liebe, Dreckwäsche, Bärte, Handschellen und Strukturen. Um einen alten Schlager und um die neue SPD. Und um das Schnabeltier.

Manchmal frage ich mich: Wer sind wir? „Wir sind Nobelpreisträger (Friedenspreis für die Europäische Union). „Wir“ waren sogar Papst (Benedikt XVI.) Und „wir“ waren Fußballweltmeister (Frauenfußball 2007). Nun hat auch die SPD das „wir“ entdeckt. „Das Wir entscheidet“, heißt es seit dem letzten Parteitag, nicht etwa: „Jawohl, wir können“ (englisch: „Yes, we can“). Dabei wäre es mir lieber, wenn ein „wir“, von dem ich wenigstens weiß, wer damit gemeint ist, von sich behauptet, dass es etwas kann, oder es zumindest versucht, als wenn ein unbestimmtes „Wir“ etwas entscheiden will oder sich zum Maßstab, an dem sich etwas entscheiden soll, erhebt. Denn zunächst mal müsste geklärt werden, wer sich hinter dem „Wir“ verbirgt.

Spätestens seit Helmut Kohl auffallend oft von „diesem, unserem Lande“ gesprochen hat, achte ich darauf, wie mit der ersten Person Plural umgegangen wird. Ich bin hellhörig geworden, wenn ich den Eindruck habe, dass ich vereinnahmt werden soll. Wenn es beispielsweise heißt „Wir brauchen den Euro“ oder „Wir brauchen die Quote“, dann frage ich mich, ob ich auch zu diesem „wir“ gehöre.

Die SPD hatte schon mal ein „Wir“. Kein offizielles. Aber ein deutlich erkennbares. Man konnte es an dem Buchtitel von Bernt Engelmann (mit Günter Wallraff) ablesen: ‚Ihr da oben, wir da unten’. Damit wurde das „wir“ der damaligen SPD treffend beschrieben. Die SPD war die Partei von denen „da unten“, die Partei der Arbeiter, die Partei der kleinen Leute, deshalb tagten sie auch in einer „Baracke“, wie sie mit leichter Ironie sagten. Die Genossen lebten in einfachen Verhältnissen, sie hatten keine „Villa im Tessin“.

Solche Villen wurden auf Staeck-Postern bespöttelt – falls sich noch jemand erinnert -, da gab es bemerkenswerte Plakate: „Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“. Das war Satire im Wahlkampf 1972. Ganz entfernt konnte man daraus noch die Parole „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ heraushören, ganz, ganz leise. Die Botschaft war klar: „Wir sind die, die in der Baracke sitzen, ihr seid die, die in der Villa wohnen.“ Ihr und wir.

Freddy, Gammler, Bärte

Eine andere Gegenüberstellung von einem guten „Wir“ gegenüber einem nicht so guten „Ihr“ hatte uns schon ein paar Jahre zuvor der „Chor der Anständigen“ um die Ohren gehauen. Freddy hatte den berühmten Anti-Protestsong angestimmt, der schon im Titel mit dem vereinnahmenden „Wir“ auftrumpft. Das Lied heißt wirklich so, es heißt: ‚Wir’. Es ist ein wahres Kleinod, eine erlesene Peinlichkeit, die von masochistischen Genießern spezieller Geschmacksverwirrungen immer noch geschätzt wird. Ich meine die B-Seite von ‚Hundert Mann und ein Befehl’, einer Hit-Single aus dem Jahre 1966.

Damals gab es noch keine Hippies, aber Gammler, deren Gesamtzahl zwar nur auf insgesamt höchstens Tausend geschätzt wurde, die aber die Gemüter umso heftiger erregten – so fing es an: „Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? WIR! 
Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? WIR!“ Besonders aufgemerkt habe ich stets bei den Zeilen: „Wer hat sogar so ähnliche Maschen, auch lange Haare, nur sind sie gewaschen? WIR! WIR! WIR! Auch wir sind für Härte, auch wir tragen Bärte!“

Man muss schon, wie Loriot sagte, genau hingucken. Die Unterschiede fallen auf den ersten Blick nicht auf. Doch es gibt sie: „Wer hat noch nicht die Hoffnung verloren? WIR! Wer dankt noch denen, die uns geboren? WIR! Doch wer will weiter nur protestieren, bis nichts mehr da zum protestieren? IHR! IHR! IHR!“ Aber. Aber. Aber. Es ist nicht überzeugend. Kann man die Jugendlichen einfach so in zwei Gruppen unterteilen? Nein! Nein! Nein! Aschenputtel hätte große Schwierigkeiten, zwischen den Guten und den Schlechten zu unterscheiden und die Richtigen ins Töpfchen zu tun.

Also: So geht es nicht. Da ist zu viel Bewegung in der unruhigen Jugend. Auch in der Baracke rappelt es gelegentlich, und die Villenbesitzer im Tessin sind sich untereinander nicht so einig, wie es von außen aussieht. Das Wir-Gefühl ist eine reine Unterstellung – falls es nicht doch einen starken Zusammenhalt gibt. Was könnte das sein? Na, was wohl? Die Liebe natürlich! Deshalb gilt das „wir“ zuallererst für Paare. Und für Familien. Da ist das „wir“ zuhause. Daher kommt es. Doch was ist daraus geworden?

Handschellen, Blumenketten, Tangas

Ich war bei der letzten Love-Parade, die in Berlin stattfand. Da galt die Parole: „We are family“, auch wenn die Parade nicht gerade den Eindruck einer typischen Familienfeier machte. Im Gegenteil. Es war keine Veranstaltung, die Generationen zusammenführte, sondern trennte. Ich war vermutlich einer der ältesten Mitmarschierer, ein Grufti, und ich gebe zu, dass ich da nach meiner Tochter geguckt habe, auch wenn die schon alt genug war, alleine zu solchen Veranstaltungen zu gehen. Ich war neugierig und hatte gar nicht erwartet, dass etwas für meinen Geschmack dabei sein könnte.

Es kam mir vor wie ein Trauermarsch zum Ende der Familie und zum Ende der Liebe. Von wegen „we“! Von wegen „love“! Von wegen „family“! Familie und Liebe waren just das, was fehlte. Entweder wussten das alle und marschierten unter falscher Flagge, was bei solchen Aufmärschen nicht ungewöhnlich wäre, oder mit den Stichworten „Wir“, „Liebe“ und „Familie“ beschrieben die Marschierer ihre Sehnsüchte. Diese Sehnsüchte würden sich jedoch nicht in der Zukunft erfüllen, vielmehr wurde eine zumindest partielle Erfüllung solcher Wünsche in der Vergangenheit vermutet. Irgendwann früher muss es so etwas gegeben haben. Dem trauerten sie nun nach. Mit den Stichworten „love“ und „family“ wurden Ideale bezeichnet, die sie zurückgelassen hatten. Man konnte einen gewissen Todeshauch spüren – das kann man, wie ich zugebe, im Nachhinein leicht sagen – , noch ehe es in Duisburg zu den Todesfällen kam und weitere Paraden abgesagt wurden. Es wäre vielleicht nicht nötig gewesen, sie hatten keine Zukunft, sie hätten sich sowieso bald von alleine „tot gelaufen“. Es vermisst sie auch keiner – oder? Ich wusste von Jugendlichen aus der Provinz, die sich sehr gefreut und sehr lange hin- und herüberlegt hatten, was sie anziehen könnten, und die dann aufgeregt nach Berlin gereist waren. Das war’s. Im nächsten Jahr wollten sie nicht noch mal kommen, es war ihnen geradezu peinlich, dass sie auch mal mit dabei waren. Da war nichts – oder? Gab es da etwas Gemeinsames? Ein „Wir“?

Die Fußballweltmeisterschaft war viel heiterer und aufregender. Bei jedem Musikfestival ist das Musikangebot besser. Die Stimmung auch. Es gab keine Stars bei der Love-Parade. Da war niemand, den man sehen wollte, es gab auch keine Musik, die man hören wollte. Die war nur Funktion. Nur Sound. Nur Struktur. Erst hatte ich gedacht, man könnte sie mit abstrakter Malerei vergleichen, mit einer Kunst also, die gegenstandslos ist. Aber vielleicht kann man sie sich eher als leeres Blatt vorstellen, durch das man ein Linienblatt durchschimmern sieht. Erstaunlicherweise gab es nicht mal einen verbindlichen Rhythmus. Man hätte, wenn Platz gewesen wäre und man sich auf eine Dreier-Zählzeit konzentriert hätte, Walzer tanzen können. Da war ein dröhnendes Nichts. Es gab keine Texte, die würden ausgrenzen, erst recht, wenn Aussagen damit verbunden wären, und so gab es nichts, nichts und wieder nichts außer der nichtssagenden, oder – wie man richtigerweise sagen muss – lügenhaften Parole „We are family“ und des ebenso falschen Etiketts „Love Parade“, wobei man einräumen könnte, dass es durchaus eine Art von Parade war.

Da lag eine Bitterkeit in den Gesichtern, Sprachlosigkeit. Das waren nicht die jugendlichen Einzelgänger der fünfziger Jahre, die sich in einem Film wie ‚Rebel Without A Cause’ wiederfanden, es waren auch keine Gammler; es waren Mitläufer ohne Ziel, ohne Anliegen, ohne rebellische Gesinnung. Es gab lediglich eine Zurschaustellung ihrer Verlorenheit, und man konnte den Wunsch erkennen, dass sie sich wenigstens einmal als ein auf Sexualität reduziertes Wesen auszuprobieren wollten. Irgendwie „arm, aber sexy“ sollte es sein, es durfte nichts kosten, und es ging natürlich um Sex ­­– nicht um Liebe. Das Programm dazu mussten sie allerdings mitbringen, die Angereisten sollten selber die Hauptdarsteller sein, Zuschauer und Angegaffte zugleich. Als Souvenir konnte man sich Blumenketten kaufen (was ich gemacht habe), Tangas oder Handschellen. Es gab also doch etwas, das man mit nach Hause nehmen konnte: Zubehör für spezielle Wünsche: Blumenketten für den Hula-Hula-Sex, Handschellen für Sado-Maso-, oder für gleichgestellte Sado-Sado- und Maso-Maso-Spielchen und den String-Tango für eine gezielte Provokation am FKK-Strand. Accessoires für gewisse Vorlieben, die sicher interessant sein können, aber von einer „family“ weit entfernt sind.

Zahlen, Strukturen, Dreckwäsche

Die SPD hat sich ebenfalls weit von der Familie entfernt – die Familie soll mehr und mehr unter Aufsicht gestellt werden, Kinder werden von Anfang an „verstaatlicht“. Wenn ein Kind sprechen kann und von einem „wir“ redet, dann soll damit nicht mehr die Familie mit Papa und Mama (die inzwischen „Elter 1“ und „Elter 2“ heißen) gemeint sein, sondern „wir von der Kita Hottetosse“, oder „Rappelkiste“ oder „Pusteblume“. Auch ein „wir“ zwischen Männern und Frauen gibt es nicht mehr. Ein neidischer, missgünstiger Blick ist zwischen die Geschlechter gedrängelt worden, da glüht ein künstlich geschürter Neid, mit dem der Keil eines falschen Vergleiches zwischen Mann und Frau getrieben wurde. Eine Familie hat nun keine Gemeinschaftskasse mehr, ein Ehepaar soll nicht länger gemeinsam veranlagt werden. Es wird eine Trennung eingeführt, es soll nun zunächst unterschieden werden zwischen dem, was „Frauen“ und dem, was „Männer“ verdienen.

Aus so einem Blickwinkel werden Dinge gesehen, die bisher niemand sah: Frauen verdienen 22 Prozent weniger als Männer. So sieht man das jetzt. Manchmal werden nur 20 Prozent gesehen. Manchmal sogar 23 Prozent, was viel eindrucksvoller ist. Die Zahl hat etwas Magisches. Ich hatte schon die Vermutung, dass die Illuminaten-Verschwörung dahintersteckt oder hartnäckige Raucher der Marke ‚Ernte 23’, die es nicht lassen können, überall eine 23 zu wittern. Doris Schröder-Köpf bietet mehr, sie spricht von 25 Prozent. Vermutlich, weil man das leichter im Köpfchen rechnen kann.

Das muss heute keiner mehr. Es gibt Taschenrechner. Und es gibt das Statistische Bundesamt, bei dem man die Zahlen erfragen kann. Aber wer will es wissen? Warum auch? Und warum erst jetzt? Es ist ein neues, ein geradezu heißes Thema. Das Amt, das alle möglichen Zahlen bereithält, gibt es schon lange. Ich weiß. Ich hatte einen Onkel aus Wiesbaden, der mir, als ich noch in dem Alter war, in dem ich mich für Wortwitze begeistern konnte, erklärte, dass es in seiner Nachbarschaft das Buddhistische Standesamt gibt. Ich war beeindruckt.

Die SPD scheint auch beeindruckt zu sein. Jedenfalls taucht die 22 auch in ihrem neuen Parteiprogramm auf. Da heißt es (ich zitiere): „Der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern beträgt 22 Prozent und beruflicher Aufstieg gilt immer noch als Männersache …“ Das will die SPD per Gesetzt ändern – und schreibt: „Frauen […] werden strukturell schlechter bezahlt, auch wenn es sich um die gleiche Tätigkeit handelt wie bei Männern. Mit einem Entgeltgleichheitsgesetz werden wir die strukturelle Lohnbenachteiligung von Frauen beenden.“ Aha. Es wird also ein neues Gesetzt geben, wenn die SPD an die Regierung kommt. Ich vermute, dass es dann auch Strafen geben soll. Richtig: „Wir werden mit einem Entgeltgleichheitsgesetz die Betriebe verpflichten, Lohndiskriminierung von Frauen aufzudecken und zu beenden. Durchschlagskraft hat ein solches Gesetz nur, wenn Betriebe bei Untätigkeit sanktioniert werden.“

Klar: Untätigkeit ist nicht gut. Es gibt viel zu tun. Fangt schon mal an, wenn ihr später nicht bestraft werden wollt! So verstehe ich die Botschaft der SPD. Doch wo soll man anfangen? Die Antifeministen in der Schweiz haben es versucht. Sie wollten auch ohne von der SPD aufgefordert zu sein, eine „Lohndiskriminierung von Frauen“ aufdecken; denn so etwas, erklärte René Kuhn (man muss sich noch einen charmanten Akzent hinzudenken) „wäre doch eine Riesen-Sauerei!“ Also hat der Verein 5.000 Franken Belohnung ausgeschrieben für jemanden, der so einen Fall aufdecken kann; einen Fall also, bei dem Frauen schlechter bezahlt werden, wenn es sich, „um die gleiche Tätigkeit handelt wie bei Männern.“ Das Geld liegt immer noch in der Schweiz. Sie hatten ernsthaft gedacht, dass sich irgendein Journalist, der noch recherchieren kann wie in alten Tagen, herausgefordert fühlt und sich redlich bemüht. Doch eine Lockprämie konnte keine Lohndiskriminierung aufdecken. Ob da Strafe hilft?

Es ist nicht einfach. Wenn man genau liest, bemerkt man, dass Frauen gar nicht schlechter bezahlt werden und dass es keine wirkliche Lohnbenachteiligung gibt. Das steht da nicht, das steht nicht im Parteiprogramm. So nicht. Vielmehr steht da, dass Frauen „strukturell“ schlechter bezahlt werden und dass es eine „strukturelle“ Lohnbenachteiligung gibt. „Struktur“ ist das Zauberwort.

Als ich im ersten Semester war (lang ist es her), habe ich das so oft wie möglich einfließen lassen, ich sprach nicht etwa von „Bewusstsein“ und von „Wahrnehmung“, sondern von „Bewusstseinsstruktur“ und von „Wahrnehmungsstruktur“. Das hörte sich dann mindestens nach zweitem Semester an. Doch die Strukturen haben sich geändert. War bei meinem studentischem Gerede die „Struktur“ verzichtbar und hätte ein Verzicht auf den unnötigen Quellstoff den Blick frei gemacht auf das „Bewusstsein“, von dem ich eigentlich reden wollte, so ist das bei Lohnbenachteiligung umgekehrt: Ohne „Struktur“ ist der Kaiser nackt.

Die SPD steht auch dumm da – ohne „Struktur“. Selber schuld. Sie hat das „Übel des Vergleichs“, wie es Rousseau nennt, zwischen die Geschlechter gestellt, sie blufft mit einem irgendwie intellektuell wirkenden Studenten-Gerede von „Strukturen“ und betreibt ein dreckiges Spiel mit Zahlen. Dreckig nenne ich es, weil es sich – bleiben wir mal bei 23 Prozent – um eine „unbereinigte“ Zahl handelt. Wenn man zwei Durchschnittswerte, die den Verdienst von Frauen und Männern abbilden, nebeneinanderstellt, dann besagt das gar nichts. Der Unterschied erklärt sich nicht aus irgendwelchen Privilegien von Männern oder aus Benachteiligungen von Frauen, sondern dadurch, dass Männer im statistischen Durchschnitt mehr arbeiten. Das muss man berücksichtigen. Man muss die Zahlen also bereinigen. Wenn man das tut, dann schrumpfen die 23 Prozent auf 8 Prozent, und wenn man noch einen weiteren Waschgang einlegt, auf 2 Prozent, bis sie schließlich, wenn noch mal nachgespült wird, ganz verschwinden.

Das wissen die Genossinnen und Genossen bei der SPD. Sie sind nicht dumm. Ich habe eine Vermutung: Einige der Lohnbenachteiligungs-Aktivisten sind vom Putzwahn befallen, sie haben übertrieben hohe Ansprüche an die Sauberkeit ihrer Wäsche. So ist – man kann schließlich nicht alles gleichermaßen sauber halten – auf der Rückseite der Medaille eine gewisse Nachlässigkeit im Umgang mit Statistiken entstanden. In einer Art ausgleichender Gerechtigkeit hat ein Hygienefimmel auf der einen Seite seine Entsprechung gefunden in einer Vorliebe zu dreckigen Zahlen auf der anderen Seite.

Es gibt keinen „Gender Pay Gap“. Es ist eine Erfindung, ein Betrug mit statistischen Artefakten, angetrieben von dem dringenden Wunsch, eine Diskriminierung von Frauen im Gleichklang mit raunenden Vorwürfen gegen Männer im Allgemeinen zu konstruieren. Wer das genau wissen möchte, kann das in den – auch für Erstsemester gut nachvollziehbaren – Artikeln des Blogs „Kritische Wissenschaft“ nachlesen. Die haben auch die neuesten Zahlen. Nur haben die sich gewaschen.

Menschen, Männer und das Schnabeltier

„Mind the gap“, sagt die Geisterstimme in der U-Bahn in London. Okay, das tue ich. Ich tue noch mehr. Ich achte auch auf die Kluft zwischen den Geschlechtern. Der Riss, so scheint mir, vergrößert sich, der Unmut wird vorsätzlich geschürt. Der Graben wird tiefer. Die neuen Vorschläge der SPD tragen dazu bei – sie sind keine Überraschung. Sie folgen dem Grundsatz „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden“. Ein „wir“, das für Männer und Frauen gilt, ist damit ausgeschlossen. Eine Gemeinschaft von Männern und Frauen gibt es nicht mehr. Männer gehören nicht in das „Wir“ der neuen SPD. Nur weil sie Männer sind.

Der Satz fängt mit einem Foulspiel an: „Wer die menschliche Gesellschaft will …“ Was denn sonst? Wir leben nun mal in einer menschlichen Gesellschaft. Bei Tieren sprechen wir nicht von „Gesellschaften“. Das „menschliche“ umfasst uns alle, es könnte das größtmögliche „Wir“ sein, wenn nicht gewisse Menschen ausgeschlossen und aus dem Paradies eines von allen geteilten Menschlichkeitsverständnisses vertrieben würden, als hätte der Cherub ein Stoppschild aufgestellt, auf dem die Strichzeichnung eines Mannes zu erkennen ist mit der Aufschrift: „Ihr müsst leider draußen bleiben“.

Das neue „Wir“ der SPD ist nicht etwa eins, das Frauen und Männer verbindet, sondern eins, das trennt. Es ist ein böses „Wir“. Wenn man einen Satz wie beispielsweise diesen Grundsatz der SPD besser verstehen will, lohnt es sich, spielerisch Schattensätze zu bilden und sich zu fragen, wieso der Satz so und nicht anders lautet. Der Satz lautet nicht: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss männliche und weibliche Lebensentwürfe gleichermaßen ermöglichen“. Von Gleichberechtigung, Gleichstellung oder Augenhöhe ist die SPD, auch wenn sie sonst so gerne davon redet, weit entfernt. Hier hat sich eine enorme Fallhöhe aufgetan zwischen dem, was als menschlich, und dem, was als unmenschlich und männlich gilt. Die Kluft ist unüberwindlich.

Die SPD hat eine zutiefst enttäuschende Entwicklung durchgemacht. Während sie sich früher in der programmatischen Frage „Klassenkampf oder Sozialpartnerschaft?“ im

Zweifelsfall für die Sozialpartnerschaft und gegen die Überwindung des Kapitalismus entschieden hat, was ihr den Ruf einbrachte, Beißhemmungen zu haben und „windelweich“ zu sein, so entscheidet sie sich heute in der Geschlechterfrage beinhart gegen eine Partnerschaft und für den Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation, für die „Überwindung“ des Mannes.

Was ist überhaupt eine „männliche Gesellschaft“? Ein Parteiprogramm ist keine offene Bühne, wo jeder auftreten und vortragen darf, was ihm gerade einfällt. Hier kann man mehr erwarten. Doch da ist nicht mehr. Es wird mit einer geschlechterrassistischen Diskriminierung aufgetrumpft, als wollte jemand damit angeben, dass er sich das leisten kann, auch – und gerade weil – es gegen humanistische Grundsätze verstößt und die moralischen Überzeugungen des politisch korrekten Gutmenschen herausfordert. Es wird genau das getan, was man eigentlich nicht darf: Es wird eine Vor-Verurteilung aufgrund des biologischen Geschlechts gefordert. Etwas anderes steht da nicht. Etwas anderes wäre auch nicht möglich.

Es ist eine beispiellose Gemeinheit! „Gemeinheit“ nenne ich es, weil es im Allgemeinen verlorengeht, und ich Gemeinheit im Sinne von Niedertracht verstehe, und „beispiellos“ sage ich, weil es keine Beispiele gibt, die diese Leerformel mit Inhalt füllen könnten. Stünde da beispielsweise, dass die SPD gegen übertriebenen Ehrgeiz vorgehen möchte, gegen Ellenbogenmentalität und Fußballbegeisterung (was mir gerade so einfällt zum Stichwort „männlich“), dann würde sogleich offenbar, dass sich das Typische nicht mit dem Programmatischen verträgt, erst recht nicht mit der Rigorosität, die in dem Wort „überwinden“ steckt. Nicht alle Männer sind so. Frauen können genauso sein. Solche Beispiele taugen nur für unverbindlichen Klatsch und Tratsch. Nicht für ein Parteiprogramm. Aber gibt es überhaupt andere Beispiele?

Bartwuchs und Brustbehaarung. Das wäre vielleicht etwas. Das wäre exklusiv männlich. Entsprechend der Parole „Wir schneiden alte Zöpfe ab“, könnte es bei der SPD heißen: „Wir rasieren alles, auch Dreitagebärte.“ Und dann könnten sie singen: „Auch wir sind für Härte, wir sind allerdings gegen Bärte!“

Spaß beiseite. Als ich zum ersten Mal von diesem Grundsatz – „Wer die menschliche Gesellschaft …“ – hörte, hatte ich das noch für einen Ausrutscher gehalten, für eine verzeihliche Nachlässigkeit. Ich bin gutwillig. Ich habe mich geirrt. In dem neuen Parteiprogramm geht es stramm weiter in Richtung Verdammungsfeminismus. „Jeder Form des Sexismus und allen Formen von frauenverachtendem Verhalten sagen wir den Kampf an“, heißt es nun. Das gibt mir zu denken: Wie will die SPD „jeder Form des Sexismus“ den „Kampf“ ansagen, wenn sie nicht mal begreift, dass ihr eigenes Grundsatzprogramm ein Musterbeispiel für Sexismus ist? Es ist ein Sexismus gegen Männer. Hier wäre sogar das Wort „Struktur“ angebracht. Die Struktur zeigt sich nicht etwa in speziell arrangierten Zahlen, sondern in programmatischen Vorgaben.

Männer will die SPD also nicht. Und wie ist es mit Frauen? Ja, klar, gerne – aber was für welche? Am liebsten übertrieben ehrgeizige Frauen mit Ellenbogenmentalität und Begeisterung für Frauenfußball, die zielsicher Führungspositionen anstreben. Solche Frauen sind gewünscht: „Wir wollen den Frauenanteil im Wissenschaftssystem durch am Kaskadenmodell orientierte Zielquoten nachhaltig erhöhen. In wissenschaftlichen Führungsgremien wollen wir einen Anteil von mindestens 40 Prozent erreichen“.

Haben diese vorbildlichen Frauen noch etwas gemeinsam? Sie haben es weit gebracht. Es sind Professorinnen, die nun auf der vorletzten Stufe ihrer Karriereleiter stehen, auf einer langen Leiter, die in höchste Höhen führt. Es sind Frauen, die vermutlich alle eine Villa im Tessin haben. Oder in der Toskana. Es sind „die da oben“. Kann man von da aus noch zu einem „Wir“ kommen?

In der DDR kannte man die Parole, die alle aufforderte, den Schritt vom „Ich zum Wir“ zu wagen, alle waren aufgefordert, nicht allzu viel störenden Individualismus an den Tag zu legen. Der sollte überwunden werden, das erklärt auch, warum die Kunst so gesichtslos, vorhersehbar und langweilig war. Aber nur so konnte man eine Sozialistische Gemeinschaft formen. Haben alle diesen Schritt geschafft? Nein. Aber das Schnabeltier, das in dem berühmten Gedicht (das Arnold Hau zugeschrieben wird, in Wirklichkeit aber von Robert Gernhardt stammt) besungen wird – das ja:

Das SCHNABELTIER, das SCHNABELTIER
vollzieht den Schritt vom ICH zum WIR
Es spricht nicht mehr nur noch von sich
es sagt nicht mehr: „Dies Bier will ICH!“
Es sagt: „Dies Bier
das wollen WIR!
WIR wollen es, das SCHNABELTIER!“

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