Über den Dalai Lama und seine Tibetpolitik
Die Tibeter lernen gerade, dass jedes Volk eine Armee hat - entweder die eigene oder eine fremde. Einst waren die
Tibeter die gefürchtetsten Krieger dieser Region (kein Wunder bei dem ständigen Höhentraining) vor 50 Jahren hatten
und taten sie schlicht überhaupt nichts um sich gegen die chinesische Annektion zu wehren. Was jetzt passiert, ist die
zwangsläufige Folge des damaligen Nichtstuns. So ist das Leben. Sollen wir auch gegen den täglichen Sonnenuntergang
protestieren?
Pico Iyer, der Autor des folgenden Textes, wurde 1957 als Sohn indischer Eltern in Oxford geboren, wuchs in Kalifornien auf, war sein Leben lang schreibend in der Welt unterwegs und lebt heute meist in Japan. Er nennt sich selbst "global village on two legs". Im Juli erscheint von ihm im Goldmann-Verlag sein Buch "Der Dalai Lama - Politiker, religiöser Führer und Mystiker".
Das große Ganze und der Alltag, die langfristige Perspektive und die aktuelle Lage - die Vision eines Mönchs und die eines Guerrillakämpfers. Seit fünfunddreißig Jahren erlebe ich diese Debatte, ob in Dharamsala oder anderswo unter Exiltibetern, in Teestuben, in Häusern, wo immer Angehörige der älteren Generation (die Tibet kennen) und der jüngeren (die von Tibet nur träumen) zusammenkommen.
In gewisser Weise gleicht sie der Debatte, die in Tibet selbst geführt wird, wo die eine Gruppe von "Befreiung" spricht (von Rückständigkeit, Armut und Schmutz, vom Feudalismus, wie die Chinesen es genannt haben), während die anderen, in den Klöstern, unter "Befreiung" die Freiheit von Unwissenheit, Abhängigkeit und Selbsttäuschung verstehen, die nur Leid bringt. Sie erinnert an den Richtungsstreit zwischen Martin Luther King und Malcolm X, zwischen Gandhi und Nehru, zwischen Falken und Tauben in Israel. "Ich reinige meine Gedanken und besinne mich auf Mitleid", sagt ein typischer junger Tibeter. "Aber wie kann das helfen, wenn die Pekinger Regierung meinen Bruder ins Gefängnis wirft, meiner Mutter verbietet, ein Bild des Dalai Lama mit sich zu tragen, und meine Heimat von der Landkarte löscht?"
"Alles dauert seine Zeit", sagt der Dalai Lama. "Du darfst nicht einer momentanen Empörung erliegen."
Man kann Feuer nur mit Feuer bekämpfen, antwortet der Militante; halte einer Schlange deine Hand hin, und sie wird dich beißen.
"Was durch Feuer verbrannt wird, soll durch Feuer geheilt werden", hat der Dalai Lama ruhig erklärt, wie zur Antwort. Auge um Auge, sagte Gandhi, das macht die ganze Welt blind.
Doch unter Tibetern wird die Debatte immer intensiver und schärfer geführt, weil von Tibet selbst immer weniger übrigbleibt. Wenn in den nächsten Jahren nichts geschieht, sagt der Dalai Lama seit langem, wird das Tibet, das wir kennen, ein für alle Mal verschwunden sein. Im Namgyal-Kloster, gleich neben dem Haus des Dalai Lama, sehe ich einen Geländewagen, auf dessen Ersatzradhülle "TIME IS RUNNING OUTTTTTT. . ." steht - neunzehn Ts, wie Grabsteine aneinandergereiht.
Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: es stimmt. Als Tibet 1985 zum ersten Mal für die Welt geöffnet wurde, war das Land ein Meer von Wärme und Farbe, die Tibeter strömten aus den Häusern, um die ungewohnten Ausländer zu sehen, Mönche sangen in den Kapellen, in die sie teilweise zurückkehren durften, und nach Jahrzehnten von Unterdrückung und Zerstörung war eine gewisse Zuversicht zu spüren. Aber die Anwesenheit von Ausländern, den Augen und Ohren der Welt, ermutigte die Tibeter fast zwangsläufig, ihre Stimme gegen ihre Besatzer zu erheben, so daß in den Köpfen der Chinesen die Angst vor einer Volkserhebung herumspukte. Als ich 1990 wieder in Lhasa war, standen außerhalb der Hauptstadt überall Panzer, und bewaffnete Soldaten patrouillierten über den Hausdächern im Umkreis des zentralen Jokhang-Tempels. Tibet stand unter Kriegsrecht, und Touristen bekamen nur dann eine Reisegenehmigung, wenn sie viel Geld bezahlten und in Gruppen reisten (meine Gruppe bestand nur aus mir).
Die Stadt, die mich fünf Jahre zuvor so verzaubert hatte, existierte praktisch nicht mehr. Tibeter durften den Potala-Palast nicht betreten, das jahrhundertealte Symbol ihrer Kultur und Tradition, sie standen vor dem Tor, sahen wehmütig den paar Touristen hinterher, die in der falschen Richtung, gegen den Uhrzeigersinn, durch den Palast geführt wurden. Die meisten Räume waren verschlossen, hin und wieder ging auch das Licht aus. Der tibetische Guide, von den Chinesen geschult, erklärte mir in allen Einzelheiten, daß dies ein weltlicher Wohnsitz sei, der Palast eines Königs, bis zwei englische Touristen in unserer Nähe darauf hinwiesen, daß dieser König ein Mönch und der Potala also nicht nur ein Palast, sondern auch ein Tempel sei.
Als ich zu Beginn des 21. Jahrhunderts meine dritte Reise nach Tibet unternahm, war das Land, das ich zweimal besucht hatte, nicht mehr wiederzuerkennen. Der Potala war von den meisten Stellen in Lhasa nicht mehr zu sehen, breite, blitzsaubere Straßen zogen sich durch die Stadt, gesäumt von blauverglasten Einkaufszentren und modernen Hochhäusern. Übriggeblieben war das kleine tibetische Viertel mit seinen staubigen Gassen und kleinen Häusern, es hieß nun Altstadt, als wäre es schon ein historisches Viertel, das an die Geschichte einer untergegangenen einheimischen Bevölkerung erinnern sollte. In der Beijing Lu, wie die Hauptstraße heißt, wurde für Giordano und Eiscreme geworben.
Bei den Nachrichten, die in der letzten Zeit aus Lhasa kamen, fühlte ich mich nach Dharamsala und Tibet zurückversetzt, ich hörte die Ungeduldigen unter den Tibetern sagen, wie ein Oppositioneller es ausdrückte: "Wir beten für den Frieden auf der Welt und sind doch untätig. Wenn eine Maus von einer Katze in die Enge getrieben wird, muß sie um ihr Leben laufen. Wenn wir nicht handeln, wie kann die Welt uns dann unterstützen?" Und doch ahnte niemand, daß etwas beginnen würde, das eine Nation, zweihundertmal größer als Tibet und nicht sonderlich willens, auf Ermahnungen und Appelle anderer Nationen zu hören, herausfordern sollte. Gewalt, dachte ich, wird nur zu noch mehr Gewalt führen und das Einzige beschädigen, was Tibet in die Waagschale werfen kann - im Unterschied zu anderen Freiheitsbewegungen auf der Welt hatten die Tibeter an Frieden und Dialogbereitschaft festgehalten.
Wenn der Bruder einem die Geldbörse stiehlt, dachte ich, kann man ihn anschreien, ihn verprügeln, ihm mit einer Anzeige drohen - oder aber mit ihm reden. Wenn man ihn anschreit oder schlägt oder gegen ihn prozessiert, geht etwas kaputt in der gegenseitigen Beziehung, auf Jahrzehnte hinaus. Und weil er der eigene Bruder ist (so, wie China der Bruder Tibets ist, würde der Dalai Lama sagen), sind die beiden schicksalhaft miteinander verbunden. Und wenn es nur dieser Grund wäre - und der Gedanke an die Zukunft und das eigene Wohlergehen und das seine: es ist sinnvoller, mit dem Bruder vernünftig zu reden, zumal er sich durch nichts, was man tut, wird umstimmen lassen (immerhin wußte er, daß man sich aufregt, wenn einem die Geldbörse gestohlen wird).
Das Beispiel mag trivial sein, entscheidend ist das Prinzip: Gewalt beschädigt letztlich denjenigen, der Gewalt anwendet, und sie verhindert die Lösung von Konflikten. Wenn der Dalai Lama von Geduld und Verständigungsbereitschaft spricht, obwohl er angespuckt wird, so dürfte das die überzeugendste und sinnvollste Haltung sein. Man kann leicht vergessen, daß er kein Anfänger im politischen Geschäft ist - er regiert sein Volk seit siebenundsechzig Jahren, war in seiner Jugend mit Mao Tse-tung und Tschou En-lai zusammengekommen und verbrachte ein Jahr in Peking. Und während ich an all die Tibeter dachte, die ihre zutiefst menschliche Ungeduld und Frustration ausdrücken - wie können wir tatenlos zusehen, wenn unser Land zerstört wird, Stück für Stück? -, erinnerte ich mich, daß ich in den sechsundzwanzig Jahren Korrespondententätigkeit, in denen ich über Kriege und Politiker berichtet hatte, von Nordkorea bis Beirut und von Sri Lanka bis El Salvador, keinem weitsichtigeren, pragmatischeren oder vernünftigeren Politiker begegnet bin als dem Dalai Lama.
Die Tibeter können nur trauern, wenn sie sehen, wie ihren Landsleuten in der Heimat die Menschenrechte verwehrt werden; andererseits haben sie an ihrer Spitze den entschiedensten Realpolitiker, den man sich denken kann - den Vierzehnten Dalai Lama.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
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Wenn wir Toren wüßten, daß wir welche sind, wären wir keine.
gesamter Thread:
- Amnesty international: Kampagne wegen Tibet -
Chato,
27.03.2008, 19:05
- Amnesty international: Kampagne wegen Tibet - Benno, 27.03.2008, 20:12
- Amnesty international: Kampagne wegen Tibet -
pit b.,
27.03.2008, 21:06
- Amnesty international: Kampagne wegen Tibet - Chato, 27.03.2008, 23:47
- Die Ablehnung basiert wohl eher -
Chakravartin,
27.03.2008, 21:40
- Die Ablehnung basiert wohl eher - Michel, 27.03.2008, 22:40
- Ein echter "Chakravartin", schau einer an! -
Chato,
27.03.2008, 23:33
- Ein echter "Chakravartin", schau einer an! -
Chakravartin,
28.03.2008, 01:24
- Wen juckt's? - Chato, 28.03.2008, 02:13
- Friedlicher Islam? - Tamerlan, 28.03.2008, 12:16
- Ein echter "Chakravartin", schau einer an! - Sophie X, 31.03.2008, 14:55
- Ein echter, blühender Tourette. Brüll! - Holger, 31.03.2008, 00:36
- Ein echter "Chakravartin", schau einer an! -
Chakravartin,
28.03.2008, 01:24
- Die Ablehnung basiert wohl eher -
Flint,
28.03.2008, 09:02
- Danke, Flint! -
adler,
29.03.2008, 02:21
- Selig sind die Armen...? - Chato, 29.03.2008, 04:09
- Danke, Flint! -
Michel,
29.03.2008, 16:05
- Die Quelle der Moral -
Chato,
29.03.2008, 17:58
- Die Quelle der Moral -
Ekki,
29.03.2008, 21:15
- Die Quelle der Moral - Lude, 29.03.2008, 21:58
- Die Folgen des Unglaubens. -
Student(t),
30.03.2008, 00:25
- Die Folgen des Unglaubens. - Ekki, 31.03.2008, 12:21
- Die Quelle der Moral -
Ekki,
29.03.2008, 21:15
- Die Quelle der Moral -
Chato,
29.03.2008, 17:58
- Gern geschehen! - Flint, 30.03.2008, 06:47
- Danke, Flint! -
adler,
29.03.2008, 02:21
- Die Ablehnung basiert wohl eher - Maesi, 29.03.2008, 08:56
- Amnesty international: Kampagne wegen Tibet - Benno, 28.03.2008, 01:08
- Medien fälschen Tibet-Nachrichten: N-TV, BILD, Morgenpost, CNN, Tagesschau -
Lude,
28.03.2008, 15:11
- Medien fälschen Tibet-Nachrichten: N-TV, BILD, Morgenpost, CNN, Tagesschau - Chato, 29.03.2008, 02:55
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... -
Student(t),
29.03.2008, 01:45
- Weinerliches Gejammere -
nxj,
29.03.2008, 17:33
- Weinerliches Gejammere -
Chato,
29.03.2008, 18:32
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... -
Student(t),
29.03.2008, 20:23
- Mir ist Chatos Kampagne egal, weil... -
nxj,
29.03.2008, 22:33
- "Heulsusen oder Männer ?" Zustimmung ! - Student(t), 30.03.2008, 00:04
- Männer oder Heulsusen? -
Chato,
30.03.2008, 00:40
- Männer oder Heulsusen? -
Flint,
30.03.2008, 08:27
- Männer oder Heulsusen? - Chato, 30.03.2008, 15:42
- Männer oder Heulsusen? -
Meier1,
30.03.2008, 22:50
- Der sog. Meier muß wieder mal weinen? -
Chato,
31.03.2008, 01:08
- Heulsuse -
Meier2,
31.03.2008, 01:26
- :-)) -
Chato,
31.03.2008, 01:48
- Gewaltphantasien -
Meier1,
02.04.2008, 13:14
- :-)) - Chato, 02.04.2008, 15:30
- Gewaltphantasien -
Meier2,
02.04.2008, 16:09
- Du weißt, was du tust? -
Chato,
02.04.2008, 17:02
- Du weißt, was du tust? -
Meier2,
02.04.2008, 17:29
- Du weißt, was du tust? -
Meier2,
02.04.2008, 18:53
- Ein Verbesserungsvorschlag -
Chato,
02.04.2008, 21:02
- Ein Verbesserungsvorschlag an AI - Mayer, 02.04.2008, 21:13
- Ein Verbesserungsvorschlag -
Chato,
02.04.2008, 21:02
- Du weißt, was du tust? -
Meier2,
02.04.2008, 18:53
- Du weißt, was du tust? -
Meier2,
02.04.2008, 17:29
- Du weißt, was du tust? -
Chato,
02.04.2008, 17:02
- Gewaltphantasien -
Meier1,
02.04.2008, 13:14
- :-)) -
Chato,
31.03.2008, 01:48
- Heulsuse -
Meier2,
31.03.2008, 01:26
- Der sog. Meier muß wieder mal weinen? -
Chato,
31.03.2008, 01:08
- Männer oder Heulsusen? -
Flint,
30.03.2008, 08:27
- Mir ist Chatos Kampagne egal, weil... -
nxj,
29.03.2008, 22:33
- Aus hinreichender Entfernung -
nxj,
29.03.2008, 21:37
- Aus hinreichender Entfernung -
Chato,
30.03.2008, 00:21
- Aus hinreichender Entfernung - nxj, 30.03.2008, 01:17
- Aus hinreichender Entfernung -
Chato,
30.03.2008, 00:21
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... -
Student(t),
29.03.2008, 20:23
- Über den Dalai Lama und seine Tibetpolitik - Chato, 31.03.2008, 16:03
- Weinerliches Gejammere -
Chato,
29.03.2008, 18:32
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... -
Maximilianeum,
31.03.2008, 20:11
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... -
Rechtschreibung,
31.03.2008, 23:29
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... - Maximilianeum, 01.04.2008, 01:30
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... -
Student1,
01.04.2008, 02:32
- ??? -
Student2,
02.04.2008, 04:17
- die Grenzen deiner Freiheit -
Student1,
02.04.2008, 13:05
- die Grenzen meiner Freiheit -
Student2,
02.04.2008, 13:32
- Wer ist denn nun wer ? - Student(!), 02.04.2008, 14:44
- die Grenzen meiner Freiheit - Student1, 02.04.2008, 15:16
- die Grenzen meiner Freiheit -
Student2,
02.04.2008, 13:32
- die Grenzen deiner Freiheit -
Student1,
02.04.2008, 13:05
- ??? -
Student2,
02.04.2008, 04:17
- Ich unterstütze Chatos Kampagne nicht, weil... -
Rechtschreibung,
31.03.2008, 23:29
- Weinerliches Gejammere -
nxj,
29.03.2008, 17:33